Die zwölf Permakultur-Gestaltungsprinzipien von David Holmgren beziehen sich aufeinander.
von Judit Bartel, erschienen in Ausgabe #30/2015
Wer hat das nicht schon erlebt: In dem Bemühen, ein Problem zu lösen, wird zu viel vom Richtigen getan – und schon sind drei Folgeprobleme entstanden. In meinen Permakulturkursen begegnen mir immer wieder Menschen, die aus Frustration über die konventionelle Lebensmittelproduktion plötzlich ihre Nahrung komplett selbst anbauen wollen – ohne sich zu fragen, welche Schwierigkeiten bei der Verwirklichung dieses Ansinnens auftauchen könnten.
Wenn ein Problem auftritt, scheint es besonders schwerzufallen, verschiedene Aspekte gleichzeitig im Blick zu behalten – auch in Bereichen, in denen es darum geht, Aspekte von Enkeltauglichkeit in die Welt zu bringen. Die Gestaltungsprinzipien der Permakultur unterstützen beim Umgang mit Komplexität und fördern systemisches Denken. Sie wurden und werden aus der Beobachtung natürlicher Ökosysteme und aus Kulturen, denen es gelingt, langfristig lebenserhaltend zu agieren, destilliert. Bei den meisten handelt es sich um ein Set mit einer überschaubaren Anzahl von Leitsätzen – so auch bei den zwölf Gestaltungsprinzipien von David Holmgren, die in der vergangenen Artikelserie vorgestellt wurden (nachzulesen auf oya-online.de). In seinem Buch »Principles and Pathways« (Prinzipien und Wege) diskutiert Holmgren jeden dieser Grundsätze eingehend und zeigt auf, in welcher Beziehung er zu den anderen steht. Die Gestaltungsprinzipien selbst bilden also ein eigenes System, dessen einzelne Leitsätze in spannungsreicher, sich wechselseitig stärkender oder sich komplementär ergänzender Beziehung zu den jeweils anderen Prinzipien stehen. Aus meiner Sicht geht es beim Permakulturdesign nicht darum, einzelne Aspekte zur Perfektion zu bringen, sondern darum, dafür zu sorgen, dass die Prinzipien eines Sets in Balance zueinander kommen. Permakulturdesigner gehen davon aus, dass es möglich ist, durch diese Herangehensweise unsere Lebensumfelder, unsere Praktiken und unsere mentalen Infrastrukturen so umzugestalten, dass ein respektvoller und langfristig lebenserhaltender Umgang mit den Gaben der Erde und des Lebens gelingt. Was geschieht, wenn man sich auf ein Prinzip ohne Rücksicht auf die anderen konzentriert, mag folgendes Erlebnis verdeutlichen: Nach dem Brand unseres Nachbarhauses waren wir schnell bereit, die verkohlten, dicken Dachbalken zu übernehmen, um sie durch Verfeuerung in unserer Stückholzheizung dem nächstbesten Gebrauch zuzuführen und eben keinen Abfall zu produzieren – wozu uns ja eines der Holmgren-Prinzipien anhält. Als die schwarzen Balken sich dann wie ein Riesenmikadospiel in unserer Einfahrt türmten, wurde uns erst bewusst, um welch enorme Menge Holz es ging – für den Neubau des Dachstuhls wurden 25 Festmeter Holz bestellt! Unsere Hausgemeinschaft hatte sich damit zwar günstiges Brennmaterial, aber auch einen Riesenhaufen Dreck und Arbeit eingehandelt. Im Sinne kleiner und langsamer Lösungen wäre es sinnvoller gewesen, zu überlegen, welche Menge für unser im Vergleich kleines Heizungssystem angemessen wäre, um einerseits das wertvolle Holz zu nutzen, andererseits aber auch fehlerfreundlich zu agieren und das Risiko, das mit jeder Sache verbunden ist, die man noch nicht ausprobiert hat, zu begrenzen.
Erziele eine Ernte | Fange Energie ein und speichere sie Wie die Konzentration auf das Prinzip Erziele eine Ernte! die Grundlagen für zukünftige Ernten zerstört, lässt sich am deutlichsten in der weltweit vorherrschenden Agroindustrie und ihrem Umgang mit der für sie wichtigsten Ressource – dem Boden – beobachten. Holmgren hat diesem Prinzip, in dem es um den kurzfristigen Ertrag geht, den Leitsatz Fange Energie ein und speichere sie! zur Seite gestellt. In diesem geht es nämlich um die längerfristige Perspektive, Formen der Energiespeicherung in der Natur gezielt zu nutzen und langfristig aufzubauen – wie zum Beispiel Humus im Boden. So bringt ein frisch angelegter Waldrandgarten oder ein Agroforstsystem in den ersten Jahren zwar wenig Ertrag und erfordert einen vergleichsweise hohen Einsatz an Arbeit und Energie. Dieses Verhältnis dreht sich jedoch mit der Zeit um. Außerdem sind beide Systeme durch die Höhenstaffelung der Pflanzen und durch die Anlage von mehrjährigen Gehölzen in der Lage, sehr viel mehr einfallende Sonnenenergie in Biomasse umzuwandeln als etwa ein Maisfeld.
Integriere eher als zu trennen | Nutze Randzonen Dass das Prinzip Integriere eher als zu trennen! nicht heißt, jede Pflanze an jedem Ort eines Gartens zu dulden, wird schnell deutlich, wenn man diesem Prinzip ein weiteres gegenüberstellt, nämlich: Nutze Randzonen! Dieses fordert dazu auf, Übergänge zwischen zwei Bereichen in den Blick zu nehmen, aber auch bewusst Grenzen zu etablieren, um die Entwicklung zweier Subsysteme zu ermöglichen. Ein Beispiel dafür wäre die Anlage von Beeten für einjährige Gemüsekulturen, in die ich den Giersch bewusst nicht integriere. Stattdessen mache ich mir im Sinn von Nutze Randzonen! eher Gedanken darüber, wie ich den Übergang zwischen dem Beet und seiner Umgebung so gestalten kann, dass der Giersch eben nicht immer wieder in das Gemüse hineinwächst– etwa indem ich geeignete Pflanzen als Barriere etabliere. Eine möglichst schmale Randzone zwischen Beet und umliegender Fläche, so wie sie etwa die Form des beliebten Mandalabeets mit kreisrundem Umriss widerspiegelt, ist hier hilfreich. Im Gegensatz dazu wird mir bei der Anlage eines Teichs eher daran gelegen sein, die produktive Uferrandzone in ihrer Breite möglichst auszudehnen, indem ich eine geschwungene Form wähle. Beim Prinzip Integriere eher, als zu trennen! geht es darum, über die Möglichkeit eines Systems nachzudenken, das den Giersch integriert. Möglich wird das etwa durch die Zonierung in intensiv bearbeitete Gemüsebeete und eine Waldrandgartenzone, in der auch Giersch wachsen darf.
Gestalte vom Muster hin zum Detail | Beobachte und interagiere Wer die Beziehungen zwischen den Prinzipien beobachtet, kann spannende Erkenntnisse gewinnen und sich intuitiv bereits Gewusstes klarmachen. So stehen auch die beiden Prinzipien, die sich mit dem Gestalten und dem Gestaltungsprozess befassen – nämlich Beobachte und interagiere! sowie Gestalte vom Muster hin zum Detail! – in einer intensiven Beziehung zueinander. Wenn ich etwa verstehe, dass die Stärke der humushaltigen Oberbodenschicht in der Regel abnimmt, je weiter ich in einer Mittelgebirgslandschaft am Hang nach oben gehe, während die Bodenfeuchte in Richtung Tal in der Regel zunimmt, dann kann ich auch typische Nutzungsmuster in der Kulturlandschaft erkennen und nachvollziehen: vom Grünland in staunassen, überschwemmungsgefährdeten Tallagen über Äcker in etwas erhöhten Gebieten und Streuobstwiesen am Hang bis zum Wald am steileren Hang und beweideten Magerwiesen auf der Bergkuppe. Wenn ich ein solches Muster kennengelernt habe, sehe ich es beim Gang durch die Landschaft immer wieder und erkenne Abweichungen davon. Meine Beobachtungsfähigkeit hat sich geschärft. Gleiches gilt auch für den Bereich der sozialen Permakultur. So war es für mich sehr erhellend, die Kommunikationsmethode einer Runde mit Redegegenstand – auch »Redestabrunde« genannt – als ein hilfreiches Muster zu betrachten und mich zu fragen, für welche typischen Gruppensituationen es eigentlich geeignet ist. Meiner Beobachtung und Erfahrung nach dient die Redestab-Methode einmal dazu, alle Teilnehmenden einzubeziehen und von ihren unterschiedlichen Sichtweisen zu erfahren (Integriere eher als zu trennen! sowie Nutze und schätze Vielfalt!). Sie vermittelt mir als Beteiligter aber auch die Sicherheit, dass ich noch an die Reihe komme und gehört werde; somit gewährleistet sie, dass ich in Ruhe meinen Vorrednern zuhören kann. Hier macht mich das Muster »Runde mit Redegegenstand« auf eine übergeordnete Ebene aufmerksam: auf die der menschlichen Bedürfnisse, hier speziell der sozialen Grundbedürfnisse. Wenn ich also über Beobachtung und Interaktion ein tieferes Verständnis für die besonderen Qualitäten des Musters »Redestabrunde« gewonnen habe, kann ich es variieren und angemessen an den jeweiligen Kontext anpassen – oder vielleicht auch ein neues Muster erfinden, das ähnliche Qualitäten beinhaltet. Die Prinzipien Beobachte und interagiere! und Gestalte vom Muster hin zum Detail! verstärken sich wechselseitig, und das bewusste Hin- und Herpendeln ermöglicht es, ein immer tieferes Verständnis für einen Themenbereich zu entwickeln.
Eine Dreiecksbeziehung Die beiden Prinzipien Nutze und schätze Vielfalt! sowie Integriere eher als zu trennen! zielen auf die Schaffung eines resilienten – gegenüber Störungen widerstandsfähigen – Systems ab. Dies streben zum Beispiel die Transition-Town-Initiativen an. Für resiliente Systeme werden Veränderungen nicht zur existenziellen Bedrohung (Nutze Veränderungen und antworte auf sie mit Einfallsreichtum!). Dabei ist mit »Vielfalt« nicht gemeint, möglichst viele verschiedene Elemente zusammenzuwürfeln, die wenig miteinander zu tun haben, sondern es geht um die Vielfalt der sinnvollen Beziehungen zwischen den verschiedenen Elementen – also um eine gute Integration all dessen, was gerade beteiligt ist. Der Permakulturpionier Bill Mollison bringt das mit zwei schönen Leitsätzen auf den Punkt: Jede wichtige Funktion eines Systems sollte von mehreren Elementen getragen werden! und Jedes Element sollte mehrere Funktionen erfüllen! Was das heißen kann, möchte ich am Beispiel der täglichen Versorgung mit Salat aus dem eigenen Garten aufzeigen: Mir gelingt es nicht immer, rechtzeitig den nächsten Kopfsalat vorzuziehen und zu pflanzen, damit er immer in ausreichender Menge zur Verfügung steht. Außerdem ist mein Kopfsalat durch Schnecken und Laufenten gefährdet. (Ja, letzere kommen ab und an auch mal auf den Geschmack!) So habe ich manchmal sehr viel Kopfsalat und dann wieder kaum etwas davon im Garten. Aber es gibt Feldsalat, der sich selbst aussät und als Bodendeckung dient, und außerdem Ringelblumen, Gemüsemalve, Teefenchel, Mangold, Spinat, Borretsch, Löwenzahn, Zitronenmelisse, Giersch, Brennnesseln – also viele Elemente, die sich für das Bedürfnis nach frischem Salat nutzen lassen und die alle noch weitere Funktionen im System »Garten« erfüllen. Allerdings muss ich für die Ernte dieser Salatlieferanten etwas mehr Zeit einplanen als für das schnelle Abschneiden eines Kopfsalats. Dies zeigt, dass ein vielfältiges und gut integriertes System zwar sehr widerstandsfähig ist, unter Umständen aber mit bedeutend mehr Aufwand verbunden sein kann. Die über Vielfalt und gute Vernetzung erreichte Resilienz muss also mit einer hinreichenden Produktivität und Effizienz, die dem Prinzip Erziele eine Ernte! entspricht, in Balance gebracht werden. Dass Permakultur bislang so selten zur Grundlage von Erwerbslandwirtschaft und -gemüsebau gemacht wird, mag daran liegen, dass es nicht so einfach ist, diese Herausforderung gut zu lösen.
Welches Prinzip vernachlässige ich gerade? Um auf die verkohlten Dachbalken zurückzukommen: Anstatt zu fragen, welchen Prinzipien ich durch mein Handeln gerecht werde, birgt es mitunter mehr Erkenntnispotenzial, zu prüfen, welche Prinzipien eines Sets gerade vernachlässigt werden. Wenn man von den hier so intensiv diskutierten Prinzipien einen Schritt zurücktritt, wird deutlich: So wie jedes System sich verändert und weiter entfaltet, ist auch das Holmgren’sche Prinzipiensystem nicht ein für allemal abgeschlossen. Um die Möglichkeit der gemeinsamen weiteren Evolution von Permakulturprinzipien und Erkenntnissen im Bewusstsein zu halten, empfiehlt meine Kollegin Ulrike Oemisch, zu den zwölf Prinzipienkärtchen ein zusätzliches leeres Kärtchen zu legen – als Platzhalter für neue systemische Einsichten.•
Judit Bartel (36) wirkt in der Permakultur Akademie. Die Kulturanthropologin nutzt Permakultur als Werkzeugkoffer zur Umgestaltung von Anbau- und Lebensweisen.