Permakultur

Der Permakultur-Kindergarten

In PrinzHöfte trifft selbstorganisiertes Lernen auf sich selbst organisierende Ökosysteme.
von Ulrike Oemisch, erschienen in Ausgabe #31/2015
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© Privat


An einem warmen Vormittag im Frühsommer bewegt sich eine Forschergruppe vorsichtig durch den wildbunten Garten. Im Halbrund der Sonnenfalle ist es fast windstill. Kräuter, Blumen und Erde duften feucht und würzig nach Leben. Heute Morgen kam eine neue Idee auf – und jetzt sind die Kinder mitten im Entdeckerrausch: Wie und wo leben Bienen?
Am Anfang stand die Angst vor der Biene, die plötzlich im Morgenkreis umhersummte. Aber, Moment mal – war das wirklich eine Biene? Woran erkennt man sie denn? Um welches andere Insekt könnte es sich auch handeln? Was sind die Unterschiede? Und dann war sie schon wieder weg. Wieso war sie gekommen? Vielleicht hatte sie Hunger und wollte etwas essen. Aber was mögen Bienen eigentlich? Können wir vielleicht draußen eine anlocken? Wer macht mit? – Schon ist die ­neueste Ideengruppe mitten in ihrer Entdeckungsreise.

Spielwiese für Permakultur und Freinet-Pädagogik
In der PrinzHöfter Kindertagesstätte sind die Prinzipien von Permakultur und selbstbestimmtem Lernen im Sinn der Freinet-Pädagogik so fein miteinander verwoben, dass sich dort jeden Tag aufs Neue eine Wirklichkeit weit jenseits von Stereotypen entwickeln kann.
»Schau nicht, was du tun, sondern was du lassen kannst.« Der Ausspruch des japanischen Permakultur-Vordenkers Masanobu Fukuoka ist Leitsatz des Kindergartenalltags. Statt vorgedachter Inhalte, Multimedia und Business-Chinesisch lernen die Kinder hier vor allem, in Kontakt zu sein – mit sich selbst und dem eigenen Lernen, mit der Gruppe als lebendigem Organismus – und nicht zuletzt mit der Natur als Vorbild und unendlicher Erkenntnislandschaft. Überschaubare Tagesabläufe, nachvollziehbare Prozesse und demokratische Grundstrukturen helfen ihnen dabei.
Der Kindergarten hat als Teil des Geschehens im »Verein für ganzheitliches Lernen und ökologische Fragen PrinzHöfte e. V.« eine organische Entwicklungsgeschichte hinter sich. In der Selbstdarstellung heißt es: »Begonnen hat alles in den Jahren 1984/85, als eine Gruppe von Pädagogen und Ökologen aus dem Bremer Raum einen Ort des Austauschs und Experimentierens suchte und fand: PrinzHöfte.« Der ehemalige Bauernhof mit einem guten Hektar Land habe ideale Voraussetzungen für die Ideenwelt der Pioniere geboten. »Zu den Ideen der Freinet-Pädagogik stieß bald der Gedanke der Permakultur: Selbstorganisation des Lernens trifft auf Selbstorganisation von Ökosystemen.«
Selbstorganisation ist ein Schlüsselbegriff, der die beiden Felder verbindet – sowohl inhaltlich-theoretisch als auch ganz praktisch in der damaligen Gründungszeit. Mehrere der Projekt­initiatorinnen hatten damals kleine Kinder, deren Betreuung anfangs noch umständlich zu Hause organisiert werden musste. Das Problem war die Lösung: Aus der Elterninitiative entstand eine erste Kindergruppe in PrinzHöfte, die in zwei Räume einzog. Mit dieser Präsenz gewann eine Frage im gesamten Projektgeschehen an Bedeutung: Welche Art des Lernens wollen wir den Kindern hier ermöglichen?

Den Kindern von Anfang an das Wort geben
Monika Müller-Zeugner fungiert heute als Betreuerin und Leiterin des Freinet-Kindergartens. Dem Konzept der Einrichtung gemäß erklärt sie die Kinder zu den größten Experten ihres Lebens: »Wir geben ihnen das Wort. Damit ist gemeint, darauf zu achten, was von den Kindern selbst kommt, was ihre Interessen, Bedürfnisse, Prioritäten sind und welchen Weg sie gehen wollen. Wann ist ihr persönlicher Zeitpunkt für welche Lernerfahrung? – Wer kann das wissen, wenn nicht das Kind, der Mensch selbst?«
Sofie probiert es draußen erst einmal mit einem Stock. Den Stock hochhalten und auf eine Biene warten. Keine Biene kommt. Hmm. Den Stock an einen Baum halten und auf eine Biene warten. Wieder kein Erfolg. Mit dem Stock auf einen Ast klettern und auf eine Biene warten. Immer noch nichts. Haben die anderen Forscher vielleicht mehr Erfolg? Sie gehen die Sache anders an: »Bienen mögen gerne Süßigkeiten und Blüten«, ist man sich einig. Also wird eine Forscherkiste geholt und mit reichlich Bonbons und Blütenköpfen bestückt. Die eine oder andere Biene wird zwar gesichtet, aber keine interessiert sich für die Kiste. Wer stattdessen kommt, sind Ameisen. Sofie hat sich mittlerweile für einen Löwenzahn entschieden und ihn zusätzlich mit Honig bestrichen – das muss doch funktionieren!

Entdeckendes Lernen – tastende Versuche
Célestin Freinets (1896–1966) Lernverständnis einer sehr praktischen Pädagogik, der »Arbeit mit Spielcharakter«, geht davon aus, dass Kinder Erkenntnisse am besten im Versuch, im unmittelbaren Umgang mit den Phänomenen gewinnen können. Dem Franzosen ging es um das Lernen in einer möglichst lebendigen, vielfältigen Umgebung, in einem Klima von Angstfreiheit und Fehlerfreundlichkeit – in der modernen Permakultur wird das Prinzip »Action Learning« genannt. Leider geht es immer noch einen ganzen Schritt über unseren derzeitigen gesellschaftlichen Horizont hinaus, obwohl es doch einen grundlegenden Bestandteil aller Wege in die Zukunft darstellt: Nur wer Fehler und Irrtum als etwas Wertvolles, Hilfreiches kennenlernt, wird sich die Offenheit und Freude bewahren, immer wieder neue Gebiete zu erforschen, um bessere Lösungen zu finden. Lernen geschieht wie von selbst, wenn es in lebendige Zusammenhänge eingebunden ist.
»Was wissen wir denn von den Bienen?«, ist die nächste Überlegung. »Sie fliegen durch die Gegend und setzen sich auf Blüten. Blüten haben wir hier doch ganz viele im Garten, also gehen wir doch mal gucken! Dazu brauchen wir einen Erwachsenen, weil wir über eine Grenze müssen.« Zum Glück hat sich Monika der Gruppe angeschlossen und öffnet das alte Gartentürchen. Hier summt und brummt es fast an jeder Blüte. Die Kinder balancieren achtsam auf den schmalen Wegen. Gespannt und konzentriert machen sie ihre Beobachtungen. Tatsächlich, die Bienen fliegen von Blüte zu Blüte und machen da irgendwas. Doch da kommt das Sig­nal »Aufräumen!« vom Häuptling des Tages, und die Forschung muss erst einmal beendet werden. Am Mittag im Abschlusskreis sind die Bienen das Hauptthema: Wenn sie gerne auf Blüten leben, dann wäre es doch gut, noch mehr Blütenpflanzen von zu Hause mitzubringen.

Die Gestaltung der Strukturen bestimmt, was darin entstehen kann
»Selbstorganisation heißt für uns, dass wir gemeinsam unser Zusammenleben, unser Lernen von- und miteinander gestalten«, erklärt Monika Müller-Zeugner zur Konzeption der Kita. »Die Gruppe mit all ihren Ideen, Möglichkeiten und Potenzialen braucht aber einen Ort, eine Zeit und eine Form, um sich zu organisieren.« Wesentlich für die Selbstorganisation im Kindergarten ist vor allem der Morgenkreis, in dem aus vielen Individuen täglich aufs Neue eine Gruppe wird. Seine Qualitäten sind das Hören der einzelnen, der Austausch, die Verbindung und das Kennenlernen, das Finden von Lösungsansätzen für Konflikte – ein Ort der Rückkopplungen und der Selbstregulierung. Jedes Kind malt eine Ideenkarte für den Tag. Nach der Vorstellung von Angeboten und Wünschen wird geschaut, wer wo mitmachen möchte. Die Leitung des Morgenkreises hat jeweils ein Kind inne – der sogenannte Häuptling. In dieser Rolle können die Kinder lernen, was Leitung im Sinn des Ganzen bedeutet: bestimmte Aufgaben für die Gruppe zu übernehmen und selbst Entscheidungsfähigkeit und Gerechtigkeitssinn zu entwickeln. Außer dem Häuptling gibt es noch verschiedene andere Dienste. Diese und auch alle gemeinsamen Regeln werden aus der Gruppe heraus demokratisch entwickelt und abgestimmt; sie verändern sich durchaus mit den aktuellen Bedürfnissen.
Susanne ist Permakulturdesig­nerin und Mutter von Oskar und Frida. Sie sagt: »Der Kindergarten ist ein Mikrokosmos, in dem die Kinder alle wichtigen Fähigkeiten lernen, um an einer lebensfreundlichen Welt mitzubauen: Spiel, Austausch, das Verhandeln in einer Gemeinschaft, unvoreingenommenes Beobachten und Forschen, das Begreifen der Natur als ein wundersames, faszinierendes Ganzes.«
In den nächsten Tagen treffen verschiedene Blütenpflanzen ein, darunter auch eine Kürbispflanze, die zunächst nur aus zwei großen Blättern besteht. Sie wird im Beet neben dem Kindergarten eingepflanzt und regelmäßig von den Blumengießern gegossen. In den folgenden Wochen bildet sich erst eine grüne Knospe und dann eine große Trompetenblüte, aus der schließlich eine runde, gelbe Kugel wird. Die Kinder verfolgen gespannt, wie der Kürbis wächst – bis die Sommerferien anfangen.
Vier Wochen später ist der Kürbis riesengroß und dunkelorange geworden. Die Kinder bestaunen ihn beim Wiedersehen. Daraus könnte man eine Suppe machen! Kann man ihn jetzt ernten? Wann ist denn so ein Kürbis reif? Man könnte Frauke fragen, die wohnt hier und ist Gemüsegärtnerin. Frauke sagt, der Kürbis ist reif, wenn der Stiel braun und schrumpelig ist und die Kugel hohl klingt. Also üben sich die Kinder in Geduld und beobachten, wie der Stiel tatsächlich immer ein bisschen brauner wird. Und klingt der Kürbis jetzt hohl? Hmm. Wie klingt eigentlich hohl?

Experimentieren erwünscht!
Experimentieren erwünscht – das galt während der Baujahre auch für die Erwachsenen. Der ehemalige Bauernhof wurde mit viel ehrenamtlichem Enthu­siasmus und wenig Geldmitteln zu einem Tagungshaus ausgebaut, das heute vom Kindergarten genutzt wird. »Die Faszination von ›Low-tech-Experimenten‹ aus der permakulturellen Zauberkiste führte zu klangvollen Baudenkmälern wie Hypokaustenheizung, Heatpipe und Erdbelüftungsrohr, deren Funktionieren leider nicht nachgewiesen werden konnte oder die schlicht nie in Betrieb gingen«, erzählt mir mit ehrlichem Bedauern Detlef Kietzmann, PrinzHöfter seit 1988 und Architekt des brandneuen Krippenanbaus. »Mit etwas mehr Liebe zum Detail hätte man sich da aus heutiger Sicht sicherlich einiges an Arbeit sparen können.« Weinflaschenfußbodenisolierung, Anlehngewächshaus, Lehmbaugestaltung, Pflanzenkläranlagen und einiges mehr zeugen heute noch von der Experimentierfreude im ganzen Projekt, die weit über Bauliches hinausgeht.

Streben nach »positiver Dynamik«
»Das gesamte Projekt war und ist ein Spiel- und Versuchsfeld für die inhaltliche Sinngebung im Abenteuer Leben«, erklärt Detlef weiter. »Im ­Zusammenspiel aller Bereiche des Vereinsgeschehens – Tagungshaus, Erwachsenenbildung, Projekt­erleben, Geländeentwicklung und Kinderbetreuung – beobachten wir das ständige Wirken von Mustern und Merkmalen lebendiger Systeme. Diese Art des Betrachtens schärfte unseren Blick und die inhaltliche Reflexion. Den Umgang damit richten wir am Streben nach ›positiver Dynamik‹ aus. Mit diesem Ansatz und der Entwicklung von Ökosystemkriterien, wie Selbstregulation, Eigendynamik, Rückkopplung etc., trug die ›PrinzHöfter Schule‹ einiges zur Kunst der Selbstorganisation und den Grundlagen der sozialen Permakultur bei.« Diese Themen seien in PrinzHöfte ständig präsent – und tatsächlich finden sie sich in allen Strukturen und Prozessen des Vereins wieder.
Die Klangexperimente der Forschungsgruppe »hohl« ergeben leider, dass der Kürbis noch nicht reif ist – und zwar auch dann noch nicht, als die Herbstferien beginnen. Als die Kinder nach den Ferien wiederkommen und den Kürbis besuchen wollen, hat sich dieser dramatisch verändert: Die große Kugel ist halb eingefallen, und in ihrer Mitte ist knallgelber Matsch, der eklig riecht. Schuld ist der erste Frost – schade!
In einer Prozession werden der Matschkürbis und seine vielen großen, grünen Blätter zum Komposthaufen gebracht und dort abgeladen. Hier kann Monika noch erklären, dass daraus bald wieder Erde werden wird. Die Samen werden aus dem Matsch gerettet, denn aus ihnen könnten neue Kürbisse wachsen! Doch diese Möglichkeit wartet noch auf ihre Erforschung.
Vielleicht sind die neuen Kindergartenkinder daran interessiert oder die Kleinsten in der neuen Krippe? Denn Sofie und ihre Freunde gehen inzwischen zur freien PrinzHöfte Schule in Bassum. Diese erwuchs als logische Fortsetzung aus dem Kindergarten, der im Jahr 2011 sogar als »Konsultations-Kita« des Landes Niedersachsen ausgezeichnet wurde.
Für die Kinder geht das Abenteuer »­Leben lernen« täglich weiter. Dürfte ich etwas wünschen, dann wären es viel mehr derartige Kitas in der ganzen Welt! •


Ulrike Oemisch (37) istPermakulturdesignerin und lebt als Mutter von Rubin (2) und Flora (1) in PrinzHöfte – dem Ort mit dem besten Kindergarten der Welt.

PrinzHöfte virtuell besuchen
www.zentrum-prinzhoefte.de
www.freinet-kooperative.de
www.prinzhoefte-schule.de

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