Gewaltfreie Kommunikation und ihr Nutzen in Gemeinschaften
Die Hinwendung zu Gefühlen und Bedürfnissen kann menschliches Zusammenleben vereinfachen.
von Simone Thalheim, Monika Flörchinger, erschienen in Ausgabe #33/2015
Es scheint so, als hätten in unserer Kultur viele Menschen gelernt, dass ihr Glück von außen komme: »Du machst mich glücklich, meine Familie, mein Auto … macht mich glücklich.« Das hat zur Folge, dass im subjektiven Empfinden auch das eigene Unglück von außen kommt: »Du machst mich unglücklich, meine Arbeitsstelle, meine Kinder …« Wir sind darauf angewiesen, dass andere Menschen ihr Verhalten nach unserem Glück ausrichten. Der Haken dabei ist: Wie kann ich mein Verhalten auf das Glück anderer ausrichten, wenn ich selbst aufgrund der Taten dieser anderen unglücklich bin? Zuerst sollen sie mich glücklich machen, und dann kann ich sie glücklich machen. Ein Teufelskreis.
Wer nicht glücklich ist, hat etwas, das außerhalb seiner selbst liegt, nicht (an-)geschafft, nicht bekommen, nicht erreicht (und gehört nicht dazu). Immer wieder tappen wir in die Falle, darunter zu leiden, dass außerhalb von uns bestimmte Qualitäten auf der materiellen und der Beziehungsebene nicht so sind, dass wir glücklich sein können. Und es »weht« uns von überall entgegen: Das Produkt X oder das Angebot Y sei es, was uns letztlich helfen würde.
Glückserwartung und das Leben in einer Gemeinschaft Menschen, die sich für ein Leben in Gemeinschaft entscheiden, hoffen, glücklicher zu werden. Die Ursache für das Glücksempfinden wird unter anderem in den anderen Menschen der Gemeinschaft gesehen. Gemäß der obigen Hypothese müssen zuerst die anderen dazu beitragen, dass ich mich gut fühle. Wer das Leben in einer Gemeinschaft schon einmal ausprobiert hat, weiß jedoch aus Erfahrung, dass das Verhalten der anderen in einer Gruppe keineswegs immer dazu geeignet ist, in einem selbst Glücksgefühle hervorzurufen. Oft sind wir damit konfrontiert, dass jemand anderes auch gern hier leben möchte – nur leider nicht so, wie ich mir das vorstelle. Und da es so viele andere sind – und demzufolge auch so viele Begegnungen und innere Erschütterungen – komme ich gar nicht hinterher mit Nachfragen und Richtigstellen. Erst recht nicht damit, die anderen zu einem anderen Verhalten oder zu einer anderen Meinung zu bewegen. Etwa so: »Warum hast du die Kaffeekanne offengelassen, jetzt müssen wir ihn wegschütten?« oder »Wenn du nicht genug arbeitest, haben wir nicht genug Geld!« oder »Warum kümmert sich niemand um das Abdichten des Wasserhahns im Gemeinschaftsbad?«. In meiner Familie gelingt es vielleicht noch, die Illusion zu nähren, ich könnte die anderen verändern; es sind ja nur zwei bis fünf Leute, und diese lieben mich alle. In einer Gemeinschaft kann ich mir da nicht so sicher sein. Einige, die mir näher stehen, sind möglicherweise auch an meinem Glück interessiert. Aber andere Menschen dulden mich hier lediglich, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich für mich ändern wollen, ist gering. Ich kann es auch gar nicht schaffen, sie alle darüber zu informieren, wie ich sie gerne anders hätte. Wenn ich also in Gemeinschaft leben will, empfiehlt es sich, andere Quellen für mein Glück zu erschließen.
Gewaltfreiheit als innere Glücksquelle Wann erleben wir Gewaltfreiheit? Wenn wir aus innerem Frieden heraus handeln. Jemand sagt beispielsweise ein »Nein«: Halte ich das aus, auch wenn ich drei- bis dreißigmal tief durchatmen muss, um nicht zurückzupöbeln? Das ist ein Ideal, das kaum jemand immer schafft. Aber die Zeitspanne, bis man sich wieder daran erinnert, wird kürzer, je länger man sich in Achtsamkeit übt. Wie komme ich zu innerem Frieden, wenn ich täglich mit zahlreichen Herausforderungen durch meine Mitmenschen, die Heim und Herd mit mir teilen, konfrontiert bin? An einer herkömmlichen Arbeitsstelle gehe ich nach Hause, um den Abend zu feiern – in der Gemeinschaft sehe ich meine Kollegen beim Abendbrot wieder. Für diese Herausforderung bietet das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (GfK), entwickelt von dem Psychologen Marshall B. Rosenberg (1934–2015), verschiedene Werkzeuge. Das, was am meisten unterstützt, ist aus unserer Sicht die Schulung der Empathie. Empathie – auf Deutsch etwa »Einfühlung« – bedeutet, die Aufmerksamkeit auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse oder die eines Gegenübers zu lenken. Dabei kann ich entweder darüber nachdenken, wie sich jemand wohl gerade fühlt und was er oder sie braucht, oder ich kann mich eher intuitiv einfühlen. Klarheit über das jeweilige Sein in einem Moment entsteht am ehesten aus einer Kombination von beidem. Anstatt mir selbst zu sagen, wie ich »sein sollte«, erforsche ich, wie ich jetzt gerade tatsächlich »bin«. Wende ich mich beispielsweise meinem inneren Unfrieden empathisch zu, spüre ich, wie er sich anfühlt; ich nehme dann vielleicht wahr, dass ich denke, die anderen würden mich nicht mehr mögen, und dass ich dabei Angst empfinde. Dann merke ich möglicherweise, dass ich in dieser Angst gar nicht weiß, wie ich Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen kann. Es folgt vielleicht ein Gedanke über die anderen, über das, was sie in meinen Augen falsch machen. Dabei fühle ich eine Wut in mir aufsteigen usw. Wenn wir uns selbst empathisch begegnen, können wir bemerken, dass ein Gefühl nur ein Signal ist für etwas, das wir dringend brauchen. Empathie zu erleben, scheint eine unserer größten Sehnsüchte zu sein. Das kann daran liegen, dass wir durch Empathie zu größerer emotionaler Sicherheit finden. Viele Menschen haben offenbar gelernt, dass mit dem, was sie fühlen, etwas nicht in Ordnung sei. Deshalb birgt ein Gefühl, das anders ist als das kulturell angestrebte, schon in sich die Gefahr, dass es uns Angst macht. Dann reden wir uns »gut« zu und bemühen uns umso mehr, uns anzupassen.
Selbst-Einfühlung Mit Empathie können wir herausfinden, was dieses Etwas ist, das hinter dem abgelehnten Gefühl steht, und wie wir uns darum kümmern können. Wir können uns auch beruhigen, weil wir feststellen, dass die Bedrohung gar nicht so groß ist, wie wir vermutet haben. Doch das ist Theorie, die nur jemand nachvollziehen kann, der es schon erlebt hat. Um Empathie zu erlernen, ist es unabdingbar, dass uns jemand Empathie vorlebt – am besten die frühen Bezugspersonen. Doch oft werden Menschen im westlichen Kulturkreis in ein Umfeld hineingeboren, in dem die Empathiefähigkeit nicht ganz den Bedürfnissen des Säuglings und Kleinkinds entspricht. Die meisten von uns erleben dennoch ausreichend Empathie, um sich fortan irgendwie auf andere beziehen zu können. Was wir aber oft nicht wissen, ist, welche Gefühle gerade in uns wirken und mit welchen Motiven und Bedürfnissen diese zusammenhängen. In Gemeinschaften sind häufig Menschen anzutreffen, die – manchmal unbewusst – ihre Empathiefähigkeit ausbauen wollen oder die – ebenfalls unbewusst – darauf hoffen, dass sie gewissermaßen empathisch nachgenährt werden. Manche kommen auch während ihres Lebens in Gemeinschaft aufgrund der herausfordernden Erlebnisse, mit denen sie sich beim Zusammenleben konfrontiert sehen, zu diesem Schluss. Für dieses nachholende Lernen ist die GfK wunderbar geeignet, weil mit ihrer Hilfe Empathie in Worte gefasst werden kann. Marshall Rosenberg hat einen aus vier Elementen bestehenden GfK-Prozess entwickelt. In konflikthaften Situationen lenkt GfK unsere Aufmerksamkeit von den Fragen »Wer ist schuld?« bzw. »Wer hat recht?« auf folgende Fragen um: »Wie geht es mir, und was brauche ich, um mich wohler zu fühlen? Wie geht es dir und was brauchst du, um dich wohler zu fühlen?« Hier ist es nun hilfreich, folgende Unterscheidungen zu treffen: 1. Unterscheidung zwischen Beobachtung und Bewertung: Statt meine Urteile über eine Sache kundzutun und meine Sicht als einzig richtige darzustellen, beschreibe ich erst einmal möglichst neutral den Sachverhalt, auf den ich mich beziehe. Statt »Niemand kümmert sich doch hier darum, wie unsere Gebäude langsam verrotten!« kann ich feststellen: »Die Regenrinnen auf unserem Gelände sind verstopft, das Wasser läuft nicht mehr durch die Rohre ab.« 2. Unterscheidung zwischen Gefühlen sowie Interpretationen und Gedanken: Statt mein Unbehagen nach außen zu projizieren und den anderen zu sagen, was an ihnen nicht stimmt, finde ich erst einmal heraus, was dieser Sachverhalt in mir erzeugt und wie ich mich fühle. Das kann ich dann den anderen mitteilen: »Ich bin besorgt, beunruhigt, gestresst, sauer, weil ich …« (Empathie für mich selbst). 3. Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Strategie: Statt die anderen für meine unangenehmen Gefühle verantwortlich zu machen, übernehme ich selbst die Verantwortung und mache mir klar, welche Anliegen und Bedürfnisse meinen Gefühlen zugrunde liegen: »Ich bin besorgt, weil mir der Erhalt unserer Gebäude und der achtsame Umgang mit Ressourcen wichtig ist.« Wenn ich mir klargemacht habe, welche grundlegenden Bedürfnisse die Ursache für meine Gefühle sind, kann ich nach Wegen suchen, die Bedürfnisse zu »nähren«. Rosenberg spricht hier von »Strategien«. Er sagt: »Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, ein Bedürfnis zu nähren.« Sich den Unterschied zwischen Bedürfnissen und Strategien bewusstzumachen, ist aus mehreren Gründen hilfreich: Es wird leichter, Verständnis füreinander zu haben, weil alle die gleichen Bedürfnisse haben – auch wenn die Strategien zu deren Erfüllung sich entgegenstehen mögen. Außerdem gewinnen wir an Freiheit, weil wir mehrere Strategien für die Bedürfniserfüllung finden können und nicht mehr davon abhängen, dass andere genau das tun, was wir uns wünschen. Dies wiederum erleichtert es, unsere Anliegen in Form von Bitten zu äußern – was schließlich die Chancen erhöht, dass sie erfüllt werden. 4. Unterscheidung zwischen Bitte und Forderung: Statt die anderen subtil oder offen unter Druck zu setzen, übernehme ich Verantwortung für meine Gefühle und Bedürfnisse, indem ich diese transparent mache und eine Bitte formuliere. Eine Bitte kann den anderen auch eine konkrete Information darüber geben, mit welcher Handlung sie dazu beitragen können, dass mein Leben schöner wird. Ich bleibe aber offen dafür, dass es bei meinem Gegenüber vielleicht Gefühle und Bedürfnisse gibt, die meiner Bitte entgegenstehen, und ich versuche, diesen mit der gleichen Wertschätzung und Offenheit zu begegnen wie meinen eigenen. So könnte der Beginn eines Austauschs aussehen, in dem wir in gegenseitiger Wertschätzung und Freiheit mehr darüber herausfinden, wie es uns jeweils geht, was uns am Herzen liegt und was wir wechselseitig zu unserem Wohlergehen beitragen können.
Ein positives Menschenbild Diese gegenseitige Fürsorge ist gemäß dem Menschenbild der GfK eines unserer wichtigsten Grundbedürfnisse. Wenn ich durch das Erleben von Empathie größere Klarheit über mein Innenleben erlangt habe, kann ich anders mit einer anderen Person sprechen. Etwa so: »Ich habe gesehen, dass die Regenrinne verstopft ist, und wüsste gern, ob jemand vorhat, sich darum zu kümmern.« Oder: »Ich würde gern den Dachdecker anrufen, damit er die Regenrinne sauber macht. Hat jemand etwas dagegen?« Beides klingt anders als: »Meine Güte, warum kümmert sich hier niemand um die Dachrinnen? Was für ein Saftladen hier!« Aus unserer Erfahrung sind dies die GfK-Elemente, die für eine gute Verständigung sorgen und das Gemeinschaftsleben befruchten können. Ihre Anwendung ermöglicht es, emotionale Sicherheit zu erleben – eine Grundvoraussetzung dafür, dass mensch sich überhaupt mit den Anliegen anderer befassen möchte bzw. dazu in der Lage ist. Zudem ermöglicht es eine Fokussierung auf die unseren Meinungen und Ideen zugrundeliegenden Bedürfnisse, dass wir Lösungen gemeinsam tragen, auch wenn sie von den individuellen Lieblingslösungen abweichen. Wir öffnen uns für Kompromisse, weil uns das Ziel einleuchtet, weil wir uns mit dem Bedürfnis hinter der Lösung leichter verbinden können. Je höher der Grad der Freiwilligkeit und Empathie in einer Gemeinschaft ist, umso mehr Raum gibt es für die Freude am gemeinsamen Leben. •
Simone Thalheim (50) Krankenschwester, studierte Umweltwissenschaften und ist Trainerin für gewaltfreie Kommunikation.
Monika Flörchinger (53) Dipl. Pädagogin, ist Trainerin und Assessorin für gewaltfreie Kommunikation und moderiert Zukunftswerkstätten.
Marshall B. Rosenberg Der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GfK) starb im Februar dieses Jahres im Alter von 80 Jahren. Als 9-Jähriger hatte er in Detroit hautnah gewaltsame Rassenkonflikte erlebt. Kurz darauf musste er feststellen, dass sein jüdischer Name genauso gefährlich sein kann wie die falsche Hautfarbe. Die verwirrende Erfahrung, dass andererseits Menschen zu einer einfühlsamen Haltung fähig waren, brachte ihn früh dazu, zwei Fragen zu erforschen: Was genau geschieht, wenn wir die Verbindung zu unserer einfühlsamen Natur verlieren und uns gewalttätig und ausbeuterisch verhalten? Und was macht es manchen Menschen möglich, selbst unter den schwersten Bedingungen mit ihrem einfühlsamen Wesen in Kontakt zu bleiben? 1961 promovierte Marshall Rosenberg als klinischer Psychologe. Damals arbeitete er mit Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung. Basierend auf seiner Erfahrung entwickelte Rosenberg die GfK als Mittel der Konfliktklärung und als gewaltfreie innere Haltung. Sie bewährt sich seitdem als ein starkes Werkzeug zur Lösung von Differenzen auf der persönlichen, beruflichen und politischen Ebene. Rosenberg lehrte sein Konzept jahrzehntelang auf der ganzen Welt. Heute wird es in Familien und Schulen, in Therapie, Studiengängen, Organisationen und Firmen sowie bei diplomatischen und geschäftlichen Verhandlungen angewandt. Auch in Krisen- und Kriegsgebieten hat man immer wieder darauf zurückgegriffen.