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Vom neuen guten Leben (Buchbesprechung)

von Ivan Raduychev, erschienen in Ausgabe #33/2015
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Als ich vor drei Jahren eine ethnologische Untersuchung über die »alternativ« lebenden Zugezogenen in einer Mikroregion in Mecklenburg-Vorpommern vornahm, hatte ich zum Glück die Zustimmung meiner Professorin erhalten, privates und wissenschaftliches Interesse in meiner Forschung zu verbinden. »Toll«, dachte ich bei der Arbeit, »endlich unter Gleichgesinnten!« Ich musste mich sehr bemühen, meine Rolle als Forscher durchgehend aufrechtzuerhalten, denn die Versuchung war groß: Schon bald wollte ich ein aktiver Teil des für mich faszinierenden Kulturkreises werden und nicht mehr bloß (teilnehmender) Beobachter sein.
Umso größer ist meine Achtung vor Marcus Andreas, dessen Buch »Vom neuen guten Leben« demnächst erscheint. Für seine Dissertation hat der Ethnologe fünf Jahre lang im Ökodorf Sieben Linden geforscht, ohne am Ende selbst einer der »Ökodörfler« zu werden.
Sieben Linden hat etwa 140 Einwohner und liegt in der Altmark, ungefähr mittig zwischen Hamburg und Berlin. Das Ökodorf wurde 1997 als experimentelles Modell für nachhaltige Lebensführung gegründet, das ökologische, soziale, ökonomische und kulturelle Innovationen entwickeln und ihre Umsetzbarkeit durch eigene Erfahrung prüfen sollte. Die mehrfach ausgezeichnete Initiative zählt heute zu den bedeutendsten intentionalen Gemeinschaften im globalen Nachhaltigkeitsdiskurs.
Der Gedanke der Nachhaltigkeit wird mit der Verantwortung verknüpft, die wir als Gesellschaft und Individuen für unsere Handlungen übernehmen. Verantwortung wiederum hat mit Selbstbestimmung zu tun; Sieben Linden will sie mittels größtmöglicher Autonomie erreichen: Hausbau in Eigenarbeit, Lebensmittel größtenteils aus Eigenanbau, Energie teilweise durch Eigenproduktion – und all das möglichst klimafreundlich. Nachhaltiges Wirtschaften und bewusstes Konsumverhalten zielen auf maximale ökonomische Unabhängigkeit. Durch ihre Lebensweise zeigen die Dorfbewohner eine Alternative zur Mehrheitsgesellschaft.
Doch nicht den Versuch einer Subsistenzwirtschaft oder die bekannten in Stroh- bzw. Lehmbauweise errichteten Häuser sieht der Autor als Wahrzeichen von Sieben Linden, sondern die im Dorf zu findenden sozialen Beziehungen. Die Gemeinschaft sei es, die dem Individuum auf dem Weg der Nachhaltigkeit hilft, sich voll zu entfalten und seine Ziele zu erreichen: »[Die] Qualitäten, die hierbei kultiviert werden, wie […] Vertrautheit, Vertrauen und Verbundenheit, tragen einen weitgehend effizient-suffizienten Lebensstil.« Die meisten Dorfbewohner hätten gewisse Wertvorstellungen gemeinsam, zum Teil auch ein ähnliches Weltbild. Diese Merkmale allein würden für die Entstehung eines Kulturkreises ausreichen, doch der Aufbau einer starken Gemeinschaft erfordere mehr: eine Einheit in der Vielfalt. Unterschiedliche Organisationsformen und Kommunikationswerkzeuge finden dabei Verwendung, darunter hierarchielose Strukturen, Nachbarschaften als Wohnform, diverse themengebundene Gesprächsgruppen und Arbeitskreise.
In Sieben Linden gefundene Lösungen für gesellschaftliche Probleme verbreiten sich z. B. über inspirierte Besucherinnen auch über die Grenzen des Projekts hinaus. Da sie sich aber mitunter nur schlecht auf andere Verhältnisse – etwa urbane Räume – übertragen lassen, verbinden sich Ökodörfer stets mit weiteren Nachhaltigkeitssuchenden, um ein lösungsorientiertes Netzwerk zu schaffen.
Marcus Andreas’ Buch ist eine gut lesbare wissenschaftliche Publikation. Während einer unterhaltsamen Führung durchs Ökodorf wird beständig die Frage der Nachhaltigkeit gestellt und gezeigt, wie die von den Bewohnern gefundenen Antworten jeweils im Alltag überprüft werden. So entstehe ein »Nährboden, dem das Kulturpflänzchen des nachhaltigen Handelns erwachsen kann«. Es mag sich romantisch-utopisch anhören, aber nach der Lektüre mag man dem Autor zustimmen: »Utopia ist auch eine Chiffre für eudaimonia, das gute Leben.« Und dieses ist sowohl im Ökodorf möglich als auch in der ­Großstadt. ◆ ­

Vom neuen guten Leben
Ethnographie eines Ökodorfes.
Marcus Andreas
Transcript 2015, 306 Seiten
ISBN 978-3837628289
27,99 Euro

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