Gemeinschaft

Durch dick und dünn

Die Gemeinschaft »Lauter Leben« in Brandenburg entwickelt sich. Ein neuerlicher Besuch.
von Ortrun Schütz, erschienen in Ausgabe #34/2015
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© privat

Die Linde in der Mitte des Vier-Seiten-Bauernhofs, sie steht da schon lange, schaut auf Haupthaus, Scheune, Seitengebäude, überblickt die vielen Jahre der Veränderung um sich herum. Die Kinder der Gemeinschaft pumpen Wasser, eine Slackline spannt sich quer über den frisch aufgrünenden Rasen. Langsam kommt der Hof wieder zu sich. Frieda schleicht vorbei, die Katze. Jetzt ist sie das älteste Mitglied von Lauter Leben.
»Vor gar nicht langer Zeit sah es hier aus wie auf dem Mond«, erzählt Friederike mit ihrem nordischen Akzent. »Überall Löcher und Schächte über das Gelände verteilt. Und wir mittendrin am Umziehen.«
Beruflich kümmert sich Friederike um Flüchtlinge. Im Hof ist ihr Vorhaben aktuell die Anschaffung von Hühnern. Keiner ist gezwungen, beim Bau des Stalls mitzuhelfen. »Nice to have« – nett zu haben – nennt die Gemeinschaft das in Abgrenzung zu früheren Zeiten. Johanna sucht gerne geeignetes Material für den Stall. »Es ist richtig schön, jetzt freiwillig bei 30 Grad Schwüle Bretter zu schleppen, ein ganz neues Gefühl«, so die Juristin mit demNasenring. Hanno, Friederikes Freund, hat sich gegen Bauen entschieden und schleudert stattdessen Honig. »Nichts muss, alles kann«, sagt er. Auch andere aus der Gemeinschaft gehen es locker an: Daniel ist mit seinen Kindern beim Fußballturnier, Joh und Stephie bereiten sich auf einen Auftritt in Berlin mit ihrer Band MUFK vor, Diana ist bei ihrer Heilpraktiker-Fortbildung und Julia am See.
So etwas hätte es vor kurzem nicht gegeben! Seine Zeit frei zu gestalten, war hier eineinhalb Jahre lang kaum möglich.

Am Anfang war Verliebtheit
Die Geschichte fängt mit zwei jungen Menschen an. Sie verliebten sich erst ineinander, dann in den Hof, dann kamen vier Kinder. Doch als Vermieter fühlten sie sich nicht wohl. Das Paar träumte von einer echten Gemeinschaft und gründete eine Genossenschaft, in die es sein Immobilie einbrachte. Jeder sollte für den Hof mitverantwortlich sein. Alle sollten die gleichen Rechte und Pflichten haben. Fünf Jahre ist es jetzt her, da wurde der Vierseithof zur Lauter Leben e G, mit Carsharing und Bio-Foodcoop. Die große Scheune, durch deren verrottete Holztore der Wind zog und in der sich die Katze Frieda mit ihren Jungen versteckte, schloss damals den Hof ab. »Es gab schon immer den Traum, die Scheune auszubauen, um das Wohnprojekt zu vergrößern«, erinnert sich Hanno. Mehr Wohnraum, mehr Leute, mehr Diversität.
In Kanin, ab vom Schuss, zwischen Kiefernwäldern, Spargelfeldern und Badeseen, holt man sich die Vielfalt am besten gleich in die Gemeinschaft hinein.
Im Januar 2012 wurde damit angefangen, die Scheune leerzuräumen. Im Sommer folgten Abriss, Staub und Dreck – Schluss war’s mit der Gemütlichkeit! Gleichzeitig musste das Haupthaus renoviert werden. Der Hof war eine einzige Baustelle. »Damals war jedes Wochenende Bauwochenende – jedes!«, erzählt Hanno. Mitmachen war Pflicht. Im August 2013 würden die neuen Mitbewohner einziehen, komme, was wolle. Mit den Mieteinnahmen mussten Kredite abbezahlt werden. Weil sie dem Plan meist hinterherhinkten, blieb sogar Nachtarbeit nicht aus. Nebenbei: Schwangerschaften, Geburten, lebensbedrohliche Krankheiten, durcheinandergewirbelte Familienkonstel­lationen, berufliche Umorientierungen. Beziehungen wurden in Frage gestellt und wieder gekittet.
Plenum war damals mehrmals die Woche. Sie wollten ja zusammen entscheiden, wie sie das gemeinsame Eigentum gestalten. Kostengünstig, ästhetisch, klimaneutral? Alle mussten einverstanden sein, einstimmig. »Natürlich ist der Konsens eine krasse Herausforderung«, meint Johanna. »Konstruktiv kommunizieren können wir Menschen insgesamt schlecht.« Ein Mediator half ihnen durch die Bauphase. Gewaltfreie Kommunikation war wichtig, bei allem, was sie gemeinsam stemmen mussten: sie half, wegzukommen von der eigenen Erwartungshaltung, von dem Vorwurf, die anderen seien schuld am eigenen emotionalen Zustand.
Dann der Einzugstermin. Der Hof durchzogen von Schächten und Löchern. Mit Brettern darüber, die als Brücken dienten. Mehrere Familien zogen vom Haupthaus in die Scheune, um neuen Genossinnen und Genossen Platz zu machen. In den neuen Wohnungen gab es nur den blanken Estrichboden, kein fließendes Wasser, keine Türen. Ihnen kam das aber schon sehr wohnlich vor, sie waren ganz andere Baustellen gewohnt. »Die Freunde, die uns beim Umzug geholfen haben, hatten da einen anderen Blick«, lacht Johanna. Noch Monate später mussten sie die Bäder in den alten Wohnungen teilen.
Drei Parteien waren nun neu am Hof: Drei Familien mit kleinen Kindern oder schwangeren Bäuchen. Schwierig, sie in dieser Zeit zu integrieren. Gemeinschaftsbildende Maßnahmen waren der Druck und der Dreck. Alles andere kam zu kurz.
Anita zog in dieser Zeit von Berlin-Neukölln nach Kanin. Einen Monat lang hat sich ihre Familie mit vier großen und kleinen frisch aus Dänemark zugezogenen Mitbewohnern eine Wohnung geteilt.»Einerseits war’s eng, andererseits auch schön, mit anderen Neuen anzukommen«, sagt Anita. Paten sollten versuchen, die nötigen Informationen zu vermitteln, doch vieles ging unter. Es habe eben keine offiziellen Lauter-Leben-Gesetze, dafür viele unausgesprochene Regeln gegeben und spürbare Hierarchien, aus Respekt vor den Gründern – oder vor dem, wie es schon immer war.
Über Hofkauf, Genossenschaftsgründung und Bauphase waren die Kinder der ersten Stunde Jugendliche geworden, die sich nach dem Stadtleben sehnten. Dann traf ein Blitzschlag die neue Scheune, als gerade die Elektronik zweier Tonstudios fertig eingerichtet war. Alles zerstört. Wie ein Zeichen.

Immer wieder neu beginnen
Der Blitz läutete eine Art Rundum-Erneuerung ein: Drei Erwachsene und fünf Kinder gingen. Mit den neuen Bewohnern kam auch der Wunsch nach einer neuen Mediation, einem echten Neuanfang. »Unser Mediator sagte uns: ›Es kommt immer irgendwann der Moment, an dem die Gründer gehen müssen, damit sich etwas weiterentwickeln kann.‹«, erzählt Hanno. Mit den Neuen mussten auch neue Regeln ausgehandelt werden. Anita hatte ihre Kinder in Berlin zum Beispiel immer mit dabei gehabt, abends, auf Konzerten und Veranstaltungen. Bei Lauter Leben waren sich aber alle unausgesprochen einig gewesen: Ab 21 Uhr ist Erwachsenenzeit, mit Rotwein und Zigaretten. Zeit, in der man mal nicht als Eltern, sondern als Paar auftreten kann. Da sollten keine Kinder herumwuseln. Anita beschreibt ihre Erfahrung so: »In eine Gemeinschaft zu ziehen, ist, wie ein Kind zu kriegen: Man hat eine Vorstellung, wie es sein wird, aber die Realität ist dann nochmal ganz anders – irgendwie schwieriger und irgendwie auch schöner.«
Sich auf die Neuen einzustellen heißt jetzt bei Lauter Leben auch, sich auf die zweijährige Jagoda einzulassen, die die Welt ohne Augenlicht entdeckt. Ihre Frühförderin kam auf den Hof und hat der Gemeinschaft erklärt, was die kleine Mitbewohnerin zur Orien­tierung braucht. Um Jagodas Wahrnehmung nachzuvollziehen, trugen alle abgedunkelte Brillen, durch die gerade noch ein Lichtfleck durchschimmerte. Vor allem im Gemeinschaftsraum achten sie jetzt auf penible Ordnung. So eigenständig wie möglich soll sich Jagoda bewegen können, ohne Stolperfallen.
Auch sonst gibt es neue Regelungen: Mediation findet jetzt regelmäßig statt, einmal im Monat, präventiv – und nicht erst wie früher, wenn’s brennt. Plenum ist wieder wöchentlich. »Jetzt sind wir alle auf der gleichen Stufe«, sagt Joh. Doch das Konsensprinzip sieht er mittlerweile kritisch: »Dabei ging es oft darum, wie viel Überzeugungskraft der einzelne hat.« Wieder hätten sich Hierarchien gebildet – allerdings durch die Fähigkeit, zu argumentieren. Um das zu verändern, hat Joh einen Workshop zum »Systemischen Konsensieren« besucht. Bei Abstimmungen geht es da nicht mehr nur um ein Ja oder ein Nein. Stattdessen sollen alle ihren Widerstand gegen eine Idee in Ziffern von 0 bis 10 ausdrücken. »Dadurch kann der tatsächliche Leidensdruck bei einer Entscheidung viel besser veranschaulicht werden«, sagt Joh.
Doch was ist gerecht? Jeder hat seine Wohnsituation mitgeplant, aber jetzt ist das Geld aus. Die Kredite müssen abbezahlt werden, erst dann können die Mieten sinken. In den neuen Wohnungen fehlen noch die Leisten, da sind in den alten schon wieder die Dielen kaputt. »Man kann nicht aufwiegen, wer die modernere Wohnung hat«, erklärt Johanna. »Die einzige Möglichkeit sind gleiche Mieten.« Der langersehnte Gemeinschaftsraum in der Scheune ist nutzbar, aber betongrau, die Gemeinschaftsküche noch nicht angeschlossen. Trotzdem hat es sich gelohnt. Der Traum von der größeren Gemeinschaft ist Realität: Lauter leben besteht nun aus 30 Projektbewohnern – davon 15 Kinder – plus einem Patchwork-Papa, der ab und an auf dem Hof ist. »Mit vier Parteien war es familiärer und enger«, sagt Hanno. »Aber es haben sich viel schneller Allianzen gebildet. Heute können besonders starke Freundschaften wachsen, denn mit mehr Auswahl entsteht die Möglichkeit, engere und weniger enge Beziehungen zu pflegen.« Der Plan, unterschiedliche Beziehungen zu ermöglichen, ging auf.

Wachstum der Vielfalt
Der Hof hat viel dazugewonnen, auch an Fertigkeiten: Mit Anita und Arne zogen ein Grafiker und eine Illustratorin nach Kanin – plötzlich gibt es künstlerisch gestaltete Flyer. Daniel kennt sich mit dem IT-Kram aus und bastelt Abrechnungstabellen; es gibt einen Landschaftsgestalter und Hobbygärtner, einige Mitglieder organisieren Abende mit Vorträgen, Filmen und Diskussionen zu politischen Themen, und mit einer Heilpraktikerin ist nun sogar medizinische Hilfe auf dem Hof. Auch Johs Tonstudio konnte wiedererstehen. Musiker wie Ron Spielman, die »Ruffcats« oder »Ratatöska« sitzen jetzt schon mal mit am Lagerfeuer. Ein bisschen Großstadt im Kleinen für die einen, ein bisschen Landleben während der Studioaufnahmen für die anderen.
Die Gemeinschaft ist noch gar nicht vollständig, es gibt freien Wohnraum, da schmieden sie schon neue Pläne: Lauter Leben will sich kulturell mehr einbringen, sich gegenüber den Dörfern im Umland öffnen. Die Gemeinschaft hat die Ökofilmtour zu sich geholt. 70 Leute waren am Kinotag da, viele aus der Umgebung. Und es soll so weitergehen. In diesem Jahr macht Lauter Leben kein ­eigenes Sommerfestival, sondern feiert als Teil des Dorffests, mit Feuerstelle im Amphitheater, Hofkino, glühendem Pizzaofen und der neuen Lauter-Leben-Band.
Doch heute ist es ruhig in Kanin. Die Schwüle zwingt zur Langsamkeit: Kinder matschen im Sand, Anita stellt einen Spiegel in den Schatten und schneidet Julia die Haare, Gitarrenklänge wehen aus dem Fenster. Dann entlädt sich der schwarze Himmel mit starkem Geprassel, die Linde tropft, Katze Frieda flüchtet, die buntbehängten Wäscheständer verschwinden schnell in den Wohnungen, zwei Kinder rennen über den Hof, lachend, nass bis auf die Haut. Das Geschirr vom Mittagessen im Gras wäscht der Regen ab. Hanno wollte mit den Kindern im Wald zelten, das wird heute nichts mehr. Aber es gibt schon neue Ideen. Ein Rockfestival in der Nähe. Wer kommt mit? Wer passt auf die Kinder auf? •


Ortrun Schütz (32) ist freie Radio- und TV-Journalistin. Als langjährige Freundin von »Lauter Leben« reist sie regelmäßig als Stadtflüchtling aus Berlin-Neukölln an, wo sie in einer Familien-WG lebt.

Die lauteren Leute besuchen:
www.lauter-leben.de

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