Eine »große Erzählung« findet wieder Gehör.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #1/2010
Wer, weiße Kondensstreifen in einen blauen Himmel zeichnend, den Luftraum Mitteleuropas durchmisst, wird sich kaum dem hypnotischen Sog der schachbrettartigen Symmetrie entziehen können, mit der die Begrenzungen der unzähligen parzellierten Äcker, eingezäunten Felder und umfriedeten Koppeln dem zehntausend Meter unterhalb liegenden Land eingeschrieben sind. Gibt man sich diesem suggestiven Gespinst aus schier unendlichen geraden Linien und rechten Winkeln hin, so tauchen unwillkürlich Fragen auf, ähnlich jenem poetischen Stoßseufzer Ingeborg Bachmanns: »Wer weiß, wann sie dem Land die Grenzen zogen / und um die Kiefern Stacheldrahtverhau?« Begleitet wird solches Fragen vielleicht von heraufdämmernden Erinnerungen an zaun- und grenzenlose Zeiten, die als vage Ahnungen in unserem kollektiven Gedächtnis fortleben. Wer sich auf die Suche nach Hinweisen auf jene anderen Zeiten begibt, wird früher oder später auf die Allmendewirtschaft stoßen.
Die »Einhegung« oder »Verkoppelung« der Landschaft könnte nicht augenfälliger sein, doch die Geschichte der Allmende gleicht einer Landkarte, auf der mehr weiße Flecken als erkundete Gebiete eingezeichnet sind. Die Allmende ist eine der Verliererinnen des neuzeitlichen Zivilisationsprozesses. Die Geschichte aber wird von Gewinnern geschrieben, und so ist uns heute wenig über die Hochzeit der Allmende bekannt. Dokumentiert ist meist nur ihr Niedergang. Der narrative Faden der Gemeingüter, der einst von Generation zu Generation weitergesponnen wurde, ist heute überlagert von neuen Mären, wie der von der Notwendigkeit von Konsum und Privatisierung, vom Ressourcenlager Erde oder vom »Krieg aller gegen alle«. In Zeiten, in denen wir als Gesellschaft vor die Aufgabe gestellt sind, eine radikale Kurswende zu vollziehen und Alternativen zu herrschenden ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Paradigmen zu finden, gilt es, die Geschichte der Allmende aufs Neue zu erzählen und die verschüttete Genealogie der Gemeingüter freizulegen.
Der Begriff »Allmende« bezog sich im Mittelalter auf Naturgüter, die von einer bestimmten Gemeinschaft von »Allmendegenossen« genutzt wurden. Im heutigen Sinn beinhaltet die Allmende alles, was von so umfassendem Charakter ist, dass es dem Gedanken der privaten Aneignung widerspricht: angefangen bei der Erdatmosphäre und dem menschlichen Erbgut über Wissen und Kulturtechniken bis hin zu abstrakten Zustandsformen wie Stille oder Dunkelheit, die oftmals erst dann ins Bewusstsein treten, wenn sie vom Schwinden bedroht sind, etwa durch »Lärm-« und »Lichtverschmutzung«.
Belegt ist die traditionelle Landallmende in Mitteleuropa seit dem 10. Jahrhundert. Zwar ist anzunehmen, dass auch in früheren Zeiten Land gemeinschaftlich bewirtschaftet wurde, und auch der römische Chronist Tacitus berichtete gegen Ende des 1. Jahrhunderts in seiner »Germania«, dass die Feldgemarkung im Gesamtbesitz der Gemeinde stand. Jedoch ist nicht gesichert, ob der Bericht des Tacitus auf historischen Tatsachen beruht oder nicht eher als Sittenspiegel zu sehen ist. Dem heutigen Forschungsstand zufolge gilt es als äußerst umstritten, ob sich die Allmende, wie einst behauptet, auf Urformen germanischer Landnutzung zurückführen lässt. Wie aber sah die historisch verbürgte Allmende aus? Ein typisches Haufendorf des Hoch- und Spätmittelalters gliederte sich in drei ringförmige Bereiche. Um den inneren Kern, in dem sich Gehöfte, Behausungen und Wirtschaftsgebäude befanden, zogen sich sogenannte Gewannfluren, von den Bauern individuell, meist in Dreifelderwirtschaft, bestellte Ackerflächen. Jenseits dieses zweiten Rings lag die Allmende oder Dorfgemarkung, die aus Weiden, Wäldern, Wiesen, Heiden, Steinbrüchen und Moorland sowie Fisch- und Jagdgründen bestand. Die Nutzung der Allmende war jedoch keinesfalls frei. Meist war sie den erbberechtigten männlichen Nachkommen der alteingesessenen Bauern vorbehalten und wurde durch die Dorfgemeinschaft genauestens reglementiert. So wurden etwa Termine für Weidetrieb, Aussaat oder Ernte genossenschaftlich festgelegt.
Gelebtes Beziehungsgeflecht Sehen manche in der Allmende lediglich eine historische Form der Landnutzungsorganisation, so betrachten andere die Allmendekultur als Lebensweise, die uns auch heute noch wichtige Impulse geben kann. Beispielsweise der Gesellschaftshistoriker Peter Linebaugh, dessen Wortneuschöpfung commoning (»gemeinschaften« oder »gemeinsames Tun«) andeutet, dass die Allmende nichts Statisches ist, sondern etwas ständig im Werden Begriffenes, das sich erst durch die Nutzung gemeinschaftlich verbundener Menschen begründet. Indem er aus dem Substantiv commons das Verb to common bildet, wird ein Perspektivenwechsel möglich, der die Allmende nicht als bloße Nutzungsressource, sondern als tief in die Gesellschaft hineinwirkende Praxis erkennen lässt. Auch der Politökonom Massimo De Angelis schreibt sinngemäß: Gemeingüter gibt es nur, wenn unablässig gemeinschaftende Menschen durch Beziehungen miteinander verbunden sind. Von welchen Beziehungen ist hier die Rede? Das von dem Rechtsgeschichtler Bernd Marquard beschriebene System der Mehrfacheinbindungen, das sich auch als »polyzentrisches System« beschreiben ließe, gibt Aufschluss über einige der verästelten, wechselseitigen Beziehungen, die zwischen den Allmendenutzern und ihrem sozialen und ökologischen Umfeld wirkten.
Ein Beziehungsstrang im Netz der Allmende verlief zwischen den gemeinschaftenden Menschen und dem lokalen, weltlichen oder klerikalen Herrscher. Zwar war die Allmende Teil eines herrschaftlichen Hoheitsgebiets, faktisch befand sie sich jedoch im Gemeindebesitz. An den Grundherrn wurden oft nur bestimmte Abgaben entrichtet, bei gewichtigen Entscheidungen hatte er ein Mitsprache- oder Vetorecht. Dem Rechtsphilosophen Louis Wolcher zufolge beförderte das Commoning eine Lebensweise, bei der das Leben in die eigene Hand genommen wird, anstatt darauf zu warten, dass einem durch Königs Gnaden oder Willkür Rechte gewährt oder entzogen werden. Dies mag unserer landläufigen Vorstellung, wonach der mittelalterliche Feudalismus als Inbegriff sozialer Ungerechtigkeit gilt, entgegenstehen. Die Macht des lokalen Herrscher war jedoch weder absolut noch willkürlich. Vielmehr war im Feudalsystem des 10. und 11. Jahrhunderts, so ist bei Norbert Elias in seinem Buch »Über den Prozess der Zivilisation« zu lesen, die faktische Macht derer, die den Boden bestellten, der Macht jener, die den Boden verlehnten, überlegen, denn »Boden ist in dieser Gesellschaft immer ›Eigentum‹ dessen, der tatsächlich darüber verfügt, der die Besitzrechte wirklich ausübt und der stark genug ist, das, was er einmal in Händen hat, zu verteidigen«. Ein weiterer weitverzweigter Beziehungsstrang verband die gemeinschaftenden Menschen mit den vorangegangenen und nachfolgenden Generationen. Da Allmenderechte vererbbar waren und von Generation zu Generation weitergegeben wurden, verfügten die Allmendenutzer über einen bemerkenswert großen Zeithorizont, der weit über die eigene Lebensspanne hinausreichte – sie erfuhren sich als Teil eines aus Vorfahren und Nachkommen gewirkten Beziehungsgeflechts. Dieser nachhaltige Generationenvertrag geht aus einem von Jacob Grimm gesammelten Weistum der Grafschaft Kyburg bei Winterthur aus dem Jahr 1536 hervor, in dem es heißt, Holz dürfe nur im notwendigen Rahmen geschlagen werden, »damit unsere kind und nachkomen och mogint geniessen«. Als Gesellschaft, die den Begriff »Nachhaltigkeit« inflationär gebraucht, jedoch ökologisch und ökonomisch auf Kosten unserer Kinder lebt, ist uns dieses Bewusstsein längst abhanden gekommen.
Die vielleicht wichtigste, weil umfassendste Beziehung, in die die gemeinschaftenden Menschen des Mittelalters eingebunden waren, ist die zu ihrem natürlichen Lebensraum. So schreibt etwa Bernd Marquardt: »Erkennen lässt sich ein reziprokes (wechselseitiges) Mensch-Ökosystem-Verhältnis, in dem nicht nur das lebensspendende Land zum Menschen, sondern umgekehrt auch der pflegende Mensch zum Land ›gehörte‹. Hier lag ein markanter Unterschied zum heutigen Eigentumsmodell, das die Herrschergewalt eines außerhalb und überhalb der Natur stehenden Individualeigentümers verabsolutiert hat.« Offenbar fühlten sich die Menschen nicht nur in das »lebensspendende Land« eingebettet, sondern empfanden sich auch in einem umfassenderen Sinn als Teil der Natur. Die entscheidende Frage lautet hier nicht, »Wem gehört die Welt?«, sondern »Wer gehört der Welt?«. Wer sich als Teil der Welt, der Erde und der Landschaft empfindet, wird die Erde nicht als Ressourcenlager betrachten, sondern als nährende Mutter, die über eine subtil gewirkte Nabelschnur stets mit dem eigenen Organismus verbunden bleibt. Diese Verbundenheit mit dem Land weist erstaunliche Parallelen zu zeitgenössischen tiefenökologischen Ansätzen auf, die den Menschen nicht als Krone der Schöpfung, sondern als Teil größerer Kreisläufe betrachtet. Auch Linebaugh betont, dass Allmenderechte stets »in einen spezifischen ökologischen Lebensraum mit seinen jeweiligen Bewirtschaftungsformen eingebettet« sind. Die maßgebliche Autorität stellte hier nicht der Souverän, sondern das gemeinschaftlich bewirtschaftete Land dar. Indem die gemeinschaftenden Menschen sich auf die Wälder und Fluren einstimmten, »entdecken sie nach und nach die Bedürfnisse des Landes«. Solche Beschreibungen fügen nicht nur unserem Bild der mittelalterlichen Gesellschaft eine neue Facette hinzu, sondern zeigen auch, welche Relevanz der Gedanke des Gemeinschaftens für eine chronisch naturferne Gesellschaft, wie es die unsere ist, im Zeitalter von Artensterben, Klimawandel und Weltvernutzung hat. Weit mehr als eine historische Landnutzungspraxis, kann die Allmende uns Heutige an unseren Platz als natürliche Wesen in einer natürlichen Welt erinnern.
Gerade die generationenübergreifende und die landschaftlich-ökologische Beziehung stellen wirksame Gegenargumente zur »Tragik der Allmende« dar, wonach bei Gemeingütern zwangsläufig eine Übernutzung auftrete. Diese 1968 durch Garrett Hardin vorgebrachte These wurde seither vielfach bemüht, um Einhegung und Privatisierung aus ökonomischer Sicht zu rechtfertigen. Wird ein Gemeingut jedoch ausgebeutet, um den persönlichen Profit zu maximieren, so widerlegt dies nicht die Allmende an sich, sondern zeigt lediglich, dass marktwirtschaftlich-kapitalistisches Profitstreben nicht mit dem Geist der Allmende zu vereinbaren ist. Wie Joachim Radkau in »Natur und Macht« anmerkt: »Solange sich die Nutzung der Allmende im Rahmen der Subsistenzwirtschaft hielt und von keiner Dynamik der Einkommensmaximierung gepackt wurde, gab es eine gewohnheitsmäßige Selbstbeschränkung.« In anderen Worten: Solange die gemeinschaftenden Menschen der Stimme des Landes lauschten, gab das Land selbst die Grenzen des Wachstums vor. Da sich die Allmendenutzer als zum Land gehörend betrachteten, dürfen wir vermuten, dass Subsistenz hier nicht in erster Linie das Wohlergehen der individuellen menschlichen Nutzer meint, sondern vor allem den langfristigen Erhalt des ökologischen Gleichgewichts, woraus wiederum die Lebensgrundlage jener entstand, die das Land bewohnten.
Mündlich tradiertes Gewohnheitsrecht Auch die rechtliche Organisation der Allmende spiegelte die organische Einbindung der Allmendenutzer in ihren Lebensraum wider. Meist wurde die Allmendenutzung durch mündlich überliefertes Gewohnheitsrecht geregelt, das sich regional herausbildete und bei Bedarf den landschaftlichen und herrschaftlichen Verhältnissen angepasst wurde. Wie Ivan Illich betont, wurde das Allmenderecht nicht deshalb mündlich überliefert, weil man »sich nicht die Mühe machte, es aufzuschreiben, sondern weil die Realität, die dieses Recht schützen sollte, zu komplex war, um sich zwischen Paragraphen zwängen zu lassen«. Ursprünglich in regelmäßigen Abständen mündlich verkündet, um sie stets aufs neue in Erinnerung zu bringen, wurden diese Rechtssprüche seit dem 15. und 16. Jahrhundert in Form sogenannter Weistümer kodifiziert. Die auf das rechte Verhalten weisenden Sprüche, die beständig zwischen Nutzergemeinschaft, lokalem Herrscher und den ökologischen Gegebenheiten ausgehandelt und mündlich überliefert wurden, schrieb man nun »wörtlich von neuem wieder ab, selbst dann, wenn die veränderten Verhältnisse eine Änderung erforderten«, so das »Reallexicon der Deutschen Altertümer«. Ähnlich jenen in die Landschaft eingebetteten Mythen indigener, auf mündlicher Überlieferung basierender Kulturen, denen der Naturphilosoph David Abram nachspürt, scheinen auch die Weistümer – Verschriftlichungen oral-indigener Überlieferungen aus unserem Kulturraum – durch die Niederschrift die Resonanz mit dem Land und die Fähigkeit, sich ständig an die gegenwärtigen Verhältnisse anzupassen, verloren zu haben.
Überhaupt wirkt es, als sei der Geist der Allmende mündlichen Kulturen näher als Schriftkulturen. Von zahllosen indigenen Kulturen aus aller Welt wird berichtet, dass ihnen der Gedanke des Eigentums oder der Veräußerung von Land unbekannt war und ist. Paradoxerweise wurde gerade mit den Mitteln der Schrift versucht, die Allmende zu bewahren – etwa in der englischen »Magna Carta« (1215) und der »Charter of the Forest« (1225) oder den »Zwölf Artikeln« im Deutschen Bauernkrieg (1525). In diesen und anderen Rechtstexten wurden ehemals selbstverständliche Allmenderechte niedergeschrieben. Dass diese Rechte schriftlich festgehalten wurden, deutet darauf hin, dass die Allmende zu jener Zeit bereits nichts Selbstverständliches mehr war. Im Licht von Nietzsches Ausspruch, wonach Gesetze nicht das widerspiegeln, »was ein Volk ist, sondern das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint«, wirkt die Kodifizierung von Allmenderechten nicht als Triumph, sondern als dokumentierter Anfang des Niedergangs der Allmende.
Die Einhegung der Allmende Die seit dem Spätmittelalter in nahezu ganz Europa um sich greifende Einhegung sollte das Ende der traditionellen Landallmende besiegeln. In England reichen die Anfänge dieser Entwicklung bis vor das 13. Jahrhundert zurück und erreichten im 15. und 16. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt. In einem Statut des englischen Königs Heinrich VII. von 1489 heißt es, in Landstrichen, die einst zweihundert Menschen ein Auskommen geboten hatten, seien infolge der Einhegung nur noch zwei, drei Schäfer anzutreffen. Pächter würden von Haus und Hof vertrieben, damit »ein einziger Prasser« einige tausend Morgen Ackerland einzäunen könne, klagt auch Thomas Morus in seiner »Utopia« (1516), und schreibt ironisch-überspitzt, dass die Schafe nicht nur ganze Länder, Häuser und Städte verwüsteten, sondern inzwischen auch Menschen fräßen. Beschrieben wird hier die Umwandlung von Acker- in Weideland, um die für die Grundherren einträglichere Schafzucht voranzutreiben. Gerechtfertigt werden diese Eingriffe oft heute noch mit der geringen Wirtschaftlichkeit des Allmendesystems. Die Einhegung führte jedoch keineswegs zu einer Effizienzsteigerung, sondern lediglich zu einer Konzentration der Erträge auf einige wenige Grundbesitzer, eine Entwicklung, die auch Elinor Ostrom nach dem Verlust von Allmendestrukturen beobachtet hat. Unter den Begriffen Verkoppelung (Königreich Hannover), Gemeinheitsteilung (Preußen) oder Flurbereinigung (Bayern) fand im 18. und 19. Jahrhundert verstärkt auch im deutschsprachigen Raum eine Konzentration und Einhegung ehemals gemeinschaftlich genutzten Landes statt. Vielfach ging sie mit jener Strukturanpassung einher, die erst nachträglich mit dem schönfärbenden Begriff »Bauernbefreiung« bezeichnet wurde, nämlich 1887 von dem Nationalökonomen Georg Friedrich Knapp. Dabei, so schreibt Marquardt in seiner »Universalgeschichte des Staates«, wurden die lokalen Herrscher zu Privatpersonen degradiert, die Gemeinden zu staatlichen Verwaltungseinheiten umstrukturiert und die herrschaftszugehörigen Bauern zu allgemeinen Staatsuntertanen erklärt. Diese oftmals entgegen den Wünschen der Bauern vorgenommenen Maßnahmen führten zu einer Zentralisierung der Herrschaftsgewalt und trieben die Herausbildung nationalstaatlicher Strukturen voran.
Auch das landschaftliche und gesellschaftliche Gefüge veränderte sich dramatisch: Das Allmendeland wurde in separiertes Privateigentum umgewandelt, und die scharf abgegrenzten Feldstrukturen, die wir noch heute kennen, bildeten sich heraus. Die Dreifelderwirtschaft wurde zugunsten der Fruchtfolge aufgegeben und die Subsistenzwirtschaft endgültig von der Marktwirtschaft abgelöst. Auf die landwirtschaftliche Revolution folgte die industrielle Revolution, die eine Landflucht und Verstädterung enormen Ausmaßes mit sich brachte. Ehemals in Allmendestrukturen lebende Menschen, die bisher ihre Lebensgrundlage selbst erwirtschaften konnten, wurden nun in die Abhängigkeit von Konsum und Lohnarbeit getrieben. Zu jener Zeit entwickelte sich auch der liberale Eigentumsbegriff – weg von Besitz- und Nutzungsrechten, hin zu veräußerbarem Privateigentum –, der uns heute zur zweiten Natur geworden ist.
Immanuel Kant schrieb 1797 in seinem Werk »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre«: »Alle Menschen sind ursprünglich in einem Gesamt-Besitz des Bodens der ganzen Erde, mit dem ihnen von Natur zustehenden Willen (eines jeden), denselben zu gebrauchen.« Das wirkt angesichts der historischen Entwicklung wie die Mahnung eines einsamen Rufers in der Wüste. Es ist bezeichnend, dass »Bauernbefreiung«, Einhegung und Allmendeaufhebung mit der Zeit des Nationalismus und der Staatenbildung in Mitteleuropa zusammenfallen: Wie die Einzäunung von Weideland im Kleinen, so stellen im Großen auch territoriale Grenzen eine Form der Einhegung dar. In einem Nationalstaat, dessen Bürger sich vor allem über ihre nationale Identität definieren, kommt es notwendigerweise zu einer Nivellierung regionaler Unterschiede. Die Allmende bedarf jedoch gerade des Lokalen, des Regionalen, des Partikularen, denn, wie uns Peter Linebaugh erinnert: »Die Praktik des Gemeinschaftens ist stets lokal«.
Eine zeitgemäße Allmende Dass die Allmende auch ihre Schattenseiten hatte, soll nicht verschwiegen werden: Die Dorfgemeinschaft schottete sich nach außen ab, und die persönlichen Freiheitsrechte der Dorfgenossen waren stark eingeschränkt. Ein Zurück zur real-exisistierenden Allmende nach mittelalterlichem Vorbild ist heute weder möglich noch wünschenswert. Dennoch kann uns das Commoning vieles lehren – etwa dass unsere eigene Tradition Alternativen zu einem auf Konsum und Profitmaximierung basierenden Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell birgt. Es ist eine Aufgabe dieser und kommender Generationen, in einer globalisierten Welt zeitgemäße Formen des Gemeinschaftens zu erdenken und zu leben. Anstöße dazu liefern die Globalisierungskritiker Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem neuen Buch »Common Wealth«. Sie schlagen vor, die Kluft zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen mit der Idee des »Gemeinsamen« zu überbrücken. Alles spricht dafür, dass die Commons ein essenzielles Thema des 21. Jahrhunderts sind: Die Auseinandersetzung um die Wissensallmende hat gerade erst begonnen, die Einhegung in ihren modernen Spielarten greift weiter um sich, und in den zwei Jahrzehnten seit dem Fall der Berliner Mauer wurden zahllose Mauern und Zäune neu errichtet oder verstärkt – jene im Westjordanland, an der US-mexikanischen Grenze, in den maghrebinischen EU-Enklaven Ceuta und Melilla oder um die Favelas Rio de Janeiros. Dem steht jedoch auch Ermutigendes gegenüber – der weltweit wachsende Widerstand gegen die Privatisierung, die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an Elinor Ostrom oder die vom Geist der Allmende inspirierte Verfassung Boliviens.
Bezeichnete die historische Allmende gemeinschaftlich genutztes Land, so kann sie uns heute als kraftvolle Chiffre für eine viel umfassendere Idee dienen, die sich im Großen wie im Kleinen auf Vieles übertragen lässt und ein Sammelbecken für die verschiedensten Einzelbewegungen bilden kann. Auch verdeutlicht sie, dass es am angeblichen Ende der Geschichte noch große Erzählungen gibt. Eine solche Erzählung ist die Allmende. Sie handelt von zahllosen Menschen, die im gemeinsamen Tun Sorge tragen für die Bedürfnisse ihres Lebensraums und sich als Teil größerer Kreisläufe und weitverzweigter Beziehungsgeflechte erfahren. Diesen aus vielzähligen Handlungssträngen gewirkten Erzählteppich gilt es wieder aufzurollen, seine Geschichten und narrativen Fäden gilt es wiederzuentdecken und weiterzuspinnen. Lauschen wir heute erneut den Erzählungen aus jener Zeit, bevor sie dem Land die Grenzen zogen, so wird es uns vielleicht gelingen, Alternativen zu den vorherrschenden Wirtschafts- und Lebensweisen zu finden – Alternativen, die nicht nur einen Bogen zu unserer Vergangenheiten schlagen, sondern uns auch in eine lebenswertere Zukunft tragen können.
Zur Vertiefung empfohlen Der von Louis Wolcher am 13. März 2009 an der Seattle University gehaltene Vortrag The Meaning of the Commons ist auf www.youtube.com verfügbar. Literatur: • Abram, David: Im Bann der sinnlichen Natur. Drachen Verlag, 2010 • De Angelis, Massimo: The Production of Commons and the »Explosion« of the Middle Class, www.taller-commons.com • Hardt, Michael und Antonio Negri: Common Wealth. Campus, 2010 • Helfrich, Silke und Jörg Haas: Gemeingüter – Eine große Erzählung, in: Silke Helfrich und Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.): Wem gehört die Welt? oekom verlag, 2009 • Illich, Ivan: Silence is a Commons. CoEvolution Quarterly 40 (1983), www.preservenet.com • Linebaugh, Peter: The Magna Carta Manifesto. University of California Press, 2008 • Marquardt, Bernd: Gemeineigentum und Einhegungen. Berichte der ANL 26 (2002) • Radkau, Joachim: Natur und Macht. C. H. Beck, 2002 • Zückert, Hartmut: Allmende und Allmendaufhebung. Lucius & Lucius, 2003