Hort der Ankunft
Das süditalienische Dorf Riace litt unter starker Abwanderung. Da hieß der Bürgermeister ankommende Flüchtlinge willkommen. Inzwischen hat sich der Ort zu einer Oase des Miteinanders gewandelt.
Als ich zwölf Jahre alt war, bekam ich die griechischen Heldensagen zum Geburtstag geschenkt. Ich habe sie verschlungen, aber sie sind mir fremd geblieben. Was sollten der andauernde Krieg zwischen den Helden, das viele Gebrüll, die gekränkte Ehre, die Morde und die Intrigen? »So ist das wohl mit den Helden«, dachte ich, und das Harte blieb mir als Rätsel haften.
Beim Lesen der Geschichte vom »Lied vom Kind des Friedens«, dem fünften Kapitel von »Song of Waitaha«, saß ich als Erwachsene dann tränenüber- strömt vor dem Buch. In Gedanken sah ich mich wieder als Kind mit den griechischen Heldensagen auf dem Schoß. In meinem Kopf passierte etwas, das ich nur als »Umstülpung« beschreiben kann: es war die Erkenntnis, dass sich eine Kultur auch an eine Heldengeschichte binden kann, die nichts, aber auch gar nichts mit Krieg und Konkurrenz zu tun hat. Die eigentliche Heldin dieser Geschichte ist eine Pflanze: Kumara – das »Kind des Friedens« – eine Süßkar- toffelart, deren Samen und Setzlinge die Frauen während einer langen Seereise in ein unbekanntes Land an ihrem Körper trugen, um sie in der neuen Heimat erneut zum Leben zu erwecken. Te Wairau, der menschliche Held der Geschichte, ist schlicht derjenige, dessen Gartenterrassen die reichste Frucht tragen. Er ist am geschicktesten, wenn es darum geht, Gärten und Fischgründe einzurichten, deshalb trägt er den »Mantel der höchsten Würde«. »Im Namen von Te Wairau verfolgen wir einen Traum. Er beginnt mit dem Anlegen der Gärten und entfaltet sich, wenn die Kumara-Pflanzen gedeihen und die Ernte naht. ... Un- ser Traum lebt weiter durch den Jahreskreis und jede Generation, denn unsere Kinder werden eines Tages viele Gärten anlegen in den Ebenen und in den Vorge- birgen, wo der Schnee die Berge berührt.«
Das ist eine der Erzählungen der Waitaha, eines neuseeländischen Stamms, dessen Älteste wie in
so vielen indigenen Traditionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert beschlossen haben, ihre heiligen Gesänge, in denen sich die Geschichte ihres Volks über Jahrhunderte tradiert hat, in schriftlicher Form festzuhalten. Sie beginnt auf der Osterinsel, »auf der sich drei gänzlich verschiedene Völker unterschiedli- cher Hautfarbe ... friedlich vermischt haben«, erklärt der Herausgeber Winfried Altmann in der dem Buch beiliegenden Informationsbroschüre. Dieser friedliche Anfang scheint prägend für die gesamte Kultur gewe- sen zu sein, denn das Muster setzte sich auch nach ihrer Ankunft in Neuseeland fort. »Nach der Landung der Pioniergruppe aus den drei alten Völkern, die vor 67 Generationen von der Osterinsel nach Neuseeland kam, vollzog sie einen genialen Schritt: Sie teilten sich in zwei neue ›Völker‹, in die Rapuwai und die eigentlichen Waitaha; ein altes Volk der ›Steinleute‹ lebte bereits im Land. ... Die Rapuwai gingen auf Wan- derschaft, sie wurden die Entdecker des Landes, die Meister der Pfade durch das schwierig zu durch- querende Land, die sie in Liedern festhielten. ... Die Waitaha sammelten Erfahrung beim Anbau der ver- schiedenen Nutzpflanzen und beim Fischfang. Das Erstaunliche ist, dass alle drei Volksgruppen sich nicht voneinander abgrenzten, sondern im ständigen Austausch lebten – auch untereinander heirateten – und die Früchte ihrer Arbeit und ihr überliefertes Wis- sen miteinander teilten. Statt sich in Stammeskrie-
gen aufzureiben, wie wir es von den meisten Völkern und durch alle Zeiten kennen [...], pflegt man eine arbeitsteilige Kooperation zum Wohle aller.«
So entwickelten sich parallel eine nomadische und eine sesshafte Kultur, die sich jeweils bewusst war, dass jede der beiden Lebensweisen ihre eigenen Werte verkörperte. Nur gemeinsam ergaben sie ein Ganzes, und nur durch diese »Arbeitsteilung« ließ sich die Kultur mit dem vollen Reichtum ihrer Vergan- genheit verbinden und zugleich in die Zukunft führen. Sesshaft zu werden, bedeutet schließlich nicht nur ein Gewinn, sondern auch ein Verlust von Kultur.
Dieser geniale Schritt der Überbrückung zweier Paradigmen – die nomadische Weltsicht ist in der Regel eine fundamental andere als die von sesshaf- ten Ackerbauern – ist vielleicht der Grund, warum »Song of Waitaha« die Herzen der Europäer im Sturm erobern kann. In den Mythen, Liedern und Legenden wird die Verbindung zu einem archaischen Bewusst- sein aufrechterhalten, das sich von dem der europä- ischen jungsteinzeitlichen Kultur womöglich nicht stark unterscheidet. Erstaunlich viele Menschen, die das Buch auf sich haben wirken lassen, berichten jedenfalls von dem überwältigenden Gefühl, dass es auch die eigenen Ahnen sein könnten, von denen da erzählt wird.
Die erste Auflage der deutschen Ausgabe von »Song of Waitaha« erschien 2006 im Pforte-Verlag. Große Aufmerksamkeit erhielt das Buch, als im März 2008 im Rahmen einer internationalen Waldorflehrer- Tagung Song of Waitaha als »eurythmisch-sinfoni- sches Theater-Spektakel« von Schülern im Beisein zweier Waitaha-Ältester aufgeführt wurde.
Dann war das Buch vergriffen, und glücklicher- weise hat der Drachen Verlag dafür gesorgt, dass es inzwischen neu aufgelegt wurde. Für alle, die auf der Suche sind nach Inspiration für die große Erzählung der Zukunft: Lesen Sie diese zeitlose Erzählung einer Friedenskultur, die heute zwar im Aussterben begrif- fen ist, aber an allen Lagerfeuern der modernen Zeit, an denen die Menschen nach Frieden suchen, weiter- erzählt werden kann und sollte.
Song of Waitaha
Das Vermächtnis einer Friedenskultur in Neuseeland.
Nach den Gesängen der Ältesten erzählt von Te Porohau Ruka Te Korako.
Drachen Verlag, 2010
304 Seiten, Leinen, Beiheft mit Einführung, Großformat, im Schmuckschuber
ISBN 978-3927369511
64,00 Euro
Das süditalienische Dorf Riace litt unter starker Abwanderung. Da hieß der Bürgermeister ankommende Flüchtlinge willkommen. Inzwischen hat sich der Ort zu einer Oase des Miteinanders gewandelt.
Als ich zwölf Jahre alt war, bekam ich die griechischen Heldensagen zum Geburtstag geschenkt. Ich habe sie verschlungen, aber sie sind mir fremd geblieben. Was sollten der andauernde Krieg zwischen den Helden, das viele Gebrüll, die gekränkte Ehre, die Morde und die Intrigen?
Die selbstbestimmte Gesellschaft der Zukunft braucht heute die direkte Demokratie.