von Ivan Raduychev, erschienen in Ausgabe #36/2016
Als professioneller Kletterer weiß ich: Sehr unterschiedlich sind die Reaktionen der Menschen beim Anblick eines hoch oben schwebenden Menschen – Bewunderung, Freude, Überraschung, aber auch Angst und Sorge. Glücklicherweise musste ich bisher nie heruntergeholt werden; doch für andere Kletterer steht eben dies auf der Tagesordnung. »Das machst du toll da oben!«, hört Cécile Lecomte alias »Eichhörnchen« so oft wie die bald darauf folgende polizeiliche Aufforderung »Kommen Sie da runter!«. Céciles Buch greift den hilflosen Befehl im Titel auf und glänzt innen mit Kurzgeschichten und Texten aus dem politischen Alltag einer Kletteraktivistin. Die ziemlich wirksame Demonstrationsform des Eichhörnchens: In luftiger Höhe positioniert, verkündet Cécile ihre politische Meinung – ganz zum Missfallen von AKW-Betreibern, Stuttgart-21-Verfechtern, Vattenfall-Fans und ausführenden Polizeibeamten. Weil Letztere bislang keine passende Handlungstaktik gegen »Protestaktionen in der dritten Dimension« entwickeln konnten, gelingt es ihr, Castor-Transporte stundenlang aufzuhalten oder den Betrieb von Uran- fabriken zum Erliegen zu bringen. Zugleich wird mit Céciles Aktionen fast immer erfolgreich die Aufmerksamkeit der Medien auf Umweltprobleme gelenkt. Mehrere Monate lang besetzte sie zusammen mit anderen Aktivisten bei Eis und Schnee Bäume im Hamburger Gählerpark, die einer Fernwärmetrasse weichen sollten. Die Besetzungen erfuhren große Unterstützung seitens der Bürgerinnen, so dass die Baupläne des Vattenfall-Konzerns gestoppt wurden. Doch hat der Erfolg auch eine Kehrseite. Nicht selten wurde Cécile bereits von der Polizei in Gefahr gebracht; sie wurde schikaniert, verletzt, in Gewahrsam genommen, festgehalten. So ist fast jeder Bucheintrag mit Aktenzeichen der Staatsanwaltschaft versehen, in mehreren Fällen wurde sie verurteilt. Allerdings weiß das Eichhörnchen auch Gerichtsprozesse in Kundgebungen zu verwandeln … Nicht nur als Tagebuch ist das vorliegende Werk zu lesen, sondern auch als Appell an die Menschlichkeit (auch in Uniform), als Entblößung der staatlichen Willkür, als Anleitung zum Nachahmen sowie als Ermutigung zum Weiterkämpfen. Menschen gehen täglich auf die Straße, um für ihre Überzeugungen einzustehen. Andere erklettern eben Bäume, Brücken oder Masten und erobern somit für die Protestbewegung nicht nur Weite und Breite, sondern auch Höhe – von wo aus man die Problemlagen stets in voller Größe vor Augen hat.
»Kommen Sie da runter!« Kurzgeschichten und Texte aus dem politischen Alltag einer Kletterkünstlerin. Cécile Lecomte Graswurzelrevolution, 2014, 189 S. ISBN 978-3939045236 16,90 Euro