Erleben erdet
Jährlich erscheinen neue Bücher über die Bedeutung von Naturerlebnissen für Kinder und Jugendliche – doch wie sieht es in der Praxis aus?
Werden wir die Probleme dieser Welt durch den technischen Fortschritt lösen? Wird zum Beispiel der Klimawandel – unzweifelhaft eines der größeren Probleme unserer Zeit – durch zu viele Maschinen, zu viel Technik hervorgerufen, oder brauchen wir schlicht nur »grünere« Maschinen, um ihn in den Griff zu bekommen? Für diese Großfragen liefert die Forschung zum Rebound-Effekt keine fertigen Antworten, aber Denkanstöße. Um diese zu geben, spreche ich hier nicht über die Ergebnisse solcher Forschung – sie finden sich in meinem neuen Buch, zu dessen Lektüre ich einlade. Vielmehr erkläre ich, welchen Beitrag die Erforschung dieses Phänomens für übergeordnete Fragestellungen leisten kann und welche Schwierigkeiten sich dabei stellen. Drei verschiedene Perspektiven, wozu die Rebound-Forschung dienen kann, drängen sich auf:
Erstens
Anders als Tiere entwickeln Menschen systematisch Werkzeuge. Na gut, Affen verwenden auch Steine, um Nüsse aufzuklopfen, aber zweifelsohne hat Homo sapiens die Nutzung von Werkzeugen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ in eine völlig andere Dimension gehoben. Insbesondere seit der Entfesselung der sogenannten industriellen Revolution hat sich der Mensch zum Homo technologicus entwickelt: Wir entwickeln längst nicht mehr nur Geräte, bei denen schlaue Handwerkskunst mit geschnitzten oder geschmiedeten Gegenständen wirkt, sondern wir schaffen Maschinen aller Arten, bei denen die »Beherrschung des Feuers« mittels Erfindung des Stroms nun die Fahrzeug-, die Elektro-und die Informationstechnik sowie unzählige weitere Verfahren hervorgebracht hat, die zu einer komplexen Interaktion von Mensch und Maschine geführt haben. Ein Ende der Technisierung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil scheint diese Entwicklung nachgerade noch in den Kinderschuhen zu stecken: Nanotechnik und das »Internet der Dinge« singen ein Lied davon.
Die meisten jener Techniken, die unser Leben verändern – von bloßen Spielereien wie leuchtenden Autoreifen, Nintendos und anderem Schnickschnack einmal abgesehen – sollen letztlich dem Zweck dienen, unsere Möglichkeitsräume zu vergrößern, das individuelle und gesellschaftliche Potenzial zu steigern, kurz: die menschliche Effizienz zu erhöhen. Die Rebound-Forschung widmet sich den Folgen der zunehmenden Technisierung unseres Lebens. Deren Kernfrage lautet: Wie verändern sich unser Verhalten und die Strukturen unserer Gesellschaft, wenn Technik effizienter wird? Ohne Frage: Durch immer neue Technik wird unser Leben und Schaffen laufend effizienter. Von der Erfindung des Mähdreschers bis zum Mobiltelefon, vom Schaufelradbagger bis zur Smartwatch geht es immer um die beiden gleichen Ziele: Kraft zu vervielfältigen oder Zeit einzusparen. So ermöglichen es technische Effizienzsteigerungen, noch verborgene Schätze unseres Planeten zu plündern (Prothese unseres Körpers), die »Rechenkapazität« unseres Gehirns zu potenzieren (Prothese unseres Geists) oder Symbole schneller und häufiger an unsere Mitmenschen zu kommunizieren (Prothese unseres Munds).
Vor diesem Hintergrund betrachtet, zeigt sich die Erforschung des Rebound-Effekts als noch in den Kinderschuhen steckend. Die letzten 35 Jahre Rebound-Forschung haben zwar ganz gut erklären können, wie sich die Effizienzsteigerung bei der Erzeugung von Kraft auswirkt; beispielsweise, welche Rebounds auftreten, wenn Autos weniger Sprit verbrauchen oder wenn Waschmaschinen lästige Handarbeit ersetzen. Meistens wurde die Frage allerdings unter Rückgriff auf die Ökonomie beantwortet: Je effizienter Energie in Arbeitskraft umgewandelt wird, desto billiger wird diese und desto mehr technisch erzeugte Kraft wird eingesetzt. Erst in den letzten Jahren wurde begonnen, auch mittels anderer Disziplinen, etwa der Psychologie, die Auswirkungen entsprechender Effizienzsteigerung zu analysieren. Inwiefern etwa verändern »saubere« Elektroautos unsere Einstellung gegenüber dem Fahren? Welche technischen Effizienzsteigerungen wirken sich auf unser Lebenstempo aus? Hier sind vor allem soziologische Erörterungen gefragt. Auch die Auswirkungen von Effizienzsteigerungen in Bezug auf Rechenleistung, also der Geisteskraft unseres Gehirns, wurden bisher nur am Rande betrachtet. Was folgt daraus, dass vom altmodischen Fernseher über E‑Mails, soziale Netzwerke, wie Twitter, und Streaming-Dienste immer mehr Botschaften um die Welt kreisen? Die Großfrage hinter allem, die sich die Rebound-Forschung leider zu wenig stellt, ist letztlich eine zutiefst philosophische: Wozu dient die Steigerung der Effizienz unserer menschlichen Existenz? Und ist das überhaupt möglich – »Effizienzsteigerung des Lebens« –, oder bleibt technischer Fortschritt für den Sinn unserer Existenz, von wenigen Ausnahmen abgesehen, doch ein Nullsummenspiel?
Zweitens
Aus einem gänzlich anderen Blickwinkel trägt die Rebound-Forschung dazu bei, das Scheitern bisheriger politischer Anstrengungen zu erklären, unser gegenwärtiges System bitteschön nicht vor die Wand fahren zu lassen. Doch danach sieht es leider aus: Der Klimawandel ist das prominenteste Beispiel dafür. Seit 100 Jahren wird er wissenschaftlich verstanden, seit 30 Jahren politisch und zunehmend auch gesellschaftlich wahrgenommen. Doch die Treibhausgasemissionen stiegen ununterbrochen an. Dabei mangelt es weder an ernstgemeinten Absichtserklärungen noch an konkreten Maßnahmen. Dieser zweite Punkt ist entscheidend: Gemeinhin wird nämlich behauptet, das Klimachaos komme, weil »die Politik« oder »mein Nachbar« kaum etwas dagegen tun würden. Selbstverständlich – es könnte und müsste weit mehr unternommen werden! Allerdings werden schon seit den 1970er Jahren allerorten politische und unternehmerische Anstrengungen aufgewendet, den Energieverbrauch zu drosseln, indem die Effizienz von Geräten und Industrieparks verbessert wird. Tatsächlich: Gemessen am Energieeinsatz pro Wertschöpfung (BIP) wurden riesige Einsparpotenziale erschlossen! Sie haben aber zu einem höchst widersprüchlichen Ergebnis geführt: Der globale Energieverbrauch ist nicht zurückgegangen, sondern sogar leicht gestiegen. Das ist die Botschaft des Rebound-Effekts.
Insofern kann Rebound-Forschung als Versuch verstanden werden, Erklärungen für diesen Widerspruch zu finden. Sie ist die Lehre von den fehlgeschlagenen Versuchen, den Lektionen vom Scheitern.
Für viele ist diese Pille schwer zu schlucken. Ich habe bei einem meiner Vorträge zum Rebound-Effekt erlebt, wie ein Effizienz-Fetischist hinausgerannt ist und die Türe zugeschlagen hat. Häufig liegt so einer ablehnenden Haltung eine enge Sichtweise auf Rebound-Effekte zugrunde, nämlich dass sie allein auf Mikroebene, bei Endkonsumenten, gesehen werden. Dort mögen sie tatsächlich oft nicht sehr hoch sein. Demgegenüber aber fallen sie auf der Meso- und Makroebene, also bei Firmen, in Industriesektoren und Märkten, deutlich größer aus. Hier besteht auf jeden Fall noch Forschungsbedarf. Die Rebound-Forschung versucht, dem Scheitern bisheriger Effizienzsteigerungen ins Auge zu sehen – ohne aber zwingend das Kind mit dem Bade ausschütten zu wollen. Selbstverständlich ist es sinnvoll, anstelle eines Benzinschluckers ein sparsames Auto zu fahren, wenn mensch denn gar nicht darauf verzichten mag; die Glühbirnen gegen stromsparende LED-Lampen auszutauschen; Dreifachverglasung anzubringen anstatt die Energie zum Fenster hinauszuheizen. Rebound-Forschung erklärt nicht, dass dies schlecht sei – sie erklärt, dass technische Lösungen alleine nicht ausreichen, sondern dass strukturelle Änderungen in der Produktion und beim Konsum, in Wirtschaft und Gesellschaft unabdingbar sind.
Eine »Rebound-feste« Politik erfordert eine ausgewogene Mischung aus Effizienzsteigerungen und einer absoluten Begrenzung des Energie- und Ressourcenverbrauchs. Hier sind konkrete Maßnahmen und Handlungsansätze gefragt: Wie lässt sich eine absolute Begrenzung des Energieverbrauchs institutionell umsetzen – ob national (beispielsweise durch Obergrenzen im Energieverbrauch), städtisch (2000-Watt-Gesellschaft) oder individuell (persönlicher Emissionshandel)? Wie müssten Energiesteuern (Ökosteuern) ausgestaltet werden, damit Einsparungen durch Effizienzvorteile in erneute Investitionen zur weiteren Vermeidung von Energieverbrauch gesteckt werden? Wie können Infrastrukturen für Wohnen, Arbeiten und die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Gütern so gestaltet werden, dass weit weniger Mobilität und überregionale – geschweige denn globale – Produktionsnetzwerke nötig sind? Hier ist angewandte Forschung vonnöten – eine praxisnahe Suche nach Lösungen mit denjenigen Akteuren, die in Zukunft nicht mehr scheitern wollen.
Drittens
Doch hört sich dies leichter an, als es ist. Deutlicher als viele andere Zweige der umweltpolitischen Forschung bildet die Untersuchung von Rebound-Effekten die hohe Komplexität und Verworrenheit unserer Welt ab. Um zu verstehen, warum Einsparungen auf der Mikro-Ebene – mein neues Drei-Liter-Auto fährt jetzt mit weniger Sprit auf 100 Kilometern anders, als intuitiv erwartet, eben nicht zur Einsparung, sondern zu einem Mehrverbrauch auf der Makro-Ebene führen können, muss sozusagen »um die Ecke« gedacht werden. Dafür müssen Kausalzusammenhänge konstruiert werden, die nicht nach dem simplen Schema »Aus A folgt B« bestehen, sondern die Wechselwirkungen mit anderen Einflüssen, Feedback-Schleifen und Kaskadeneffekte mehrerer Faktoren berücksichtigen. Rebound-Forschung gleicht der sprichwörtlichen Chaostheorie: Der Schmetterlingsflügelschlag auf der einen Hemisphäre kann einen Taifun auf der anderen erzeugen. Trägt – in diesem Sinn – die Anwendung einer neuen »App« vielleicht zur Erwärmung der Erde bei? Um das durchdringen zu können, bedarf es sozusagen einer »göttlichen Gesamtsicht« beziehungsweise einer globalen, ganzheitlichen Perspektive auf die komplexen Wechselverhältnisse der Welt.
Rebound-Forschung kann als die Wissenschaft von den Wechselverhältnissen zweiter und dritter Ordnung verstanden werden. Beispiel Verkehr: Nicht nur ich, sondern auch meine Nachbarinnen und Landsleute erwerben alle ein Drei-Liter-Auto. Was könnte geschehen? Weil die gesamte Nation nun weniger Benzin nachfragt, sinken die Preise an den Tankstellen. Das veranlasst Logistikkonzerne, Transporte von der Schiene auf die Straße zu verlagern und – schwupps! – sind die Einsparungen des Drei-Liter-Autos perdu: ein sogenannter Marktpreis-Effekt. Könnte es aber vielleicht auch sein, dass Tankstellenbetreiber und Erdölraffinerien reihenweise pleitegehen, weil sie aufgrund der vielen Drei-Liter-Autos weniger Sprit verkaufen können, und dass deswegen Benzin möglicherweise sogar teurer wird als vorher und weniger Straßenverkehr stattfindet? Diese Feedback-Schleifen sollten wir besser verstehen, bevor Hoffnungen in weitere Effizienzsteigerungen des Verbrennungsmotors gesetzt werden. Oder Beispiel Informationstechnologie: Die Erfindung von LCD-Displays hat gegenüber den alten Röhrenfernsehern enorme Energiesparpotenziale mit sich gebracht. Doch hat dies zu einer Reihe von Effekten auf unterschiedlichen Komplexitätsstufen geführt: 1) Menschen besitzen nun weit größere Flachbildfernseher, als die alten Flimmerkisten maßen (Effekt zweiter Ordnung). 2) Aufgrund von stromsparenden LCD-Displays wurden tragbare Computer mit Touchscreens möglich (Effekt dritter Ordnung). 3) Die Verschmelzung von Smartphone und Sozialleben hat zur sozialen Beschleunigung und zu einer Verdichtung beruflicher und lebensweltlicher Netzwerke geführt (Effekt vierter Ordnung). Wird dies alles im Ergebnis nun mehr Energie- und Ressourcenverbrauch für zum Beispiel größere (Verkehrs-)Mobilität nach sich ziehen oder aber den Verkehr eindämmen, weil wir ja alle Sozialbeziehungen übers Display pflegen können (Effekt fünfter Ordnung)?
Es gilt, die vielfältigen Wechselverhältnisse von Rebound-Effekten mit weiteren Ermöglichungs- und Transformationseffekten besser zu durchdringen und zugleich abzugrenzen. Simple ökonomische Modellrechnungen, bei denen Menschen wie der sprichwörtliche Homo oeconomicus nur deshalb mehr vom Gleichen konsumieren, weil die Preise sinken, sagen wenig über die Wirklichkeit aus. Über eine interdisziplinäre Herangehensweise hinaus scheint mir vor allem eine transdisziplinäre Ausrichtung wichtig, bei der die Rebound-Forschung sich auf konkrete Fallbeispiele und geplante Politiken konzentriert. Wenn es dabei gelingt, einer ganzheitlicheren Weltsicht, der sprichwörtlichen göttlichen Gesamtsicht (»Alhamdulillah«), ein Stückchen näherzukommen, wird dies von großem Nutzen für die Lösung der multiplen Krisen sein, in denen sich der Homo technicus mit seiner Umwelt und Mitwelt befindet. Ob diese Krisen am Ende tatsächlich gelöst werden können, steht in den Sternen. Aber ohne die komplexen Wechselverhältnisse der Welt zu berücksichtigen, brauchen wir sie gar nicht erst anzugehen. •
Tilman Santarius (41) schreibt als wissenschaftlicher Autor zu Themen wie Klimapolitik, nachhaltiges Wirtschaften und globale Gerechtigkeit. Von 2012 bis 2015 schrieb er eine Doktorarbeit zum Rebound-Effekt. www.santarius.de
Das umfassende Buch zur Rebound-Forschung
Tilman Santarius: Der Rebound-Effekt: Ökonomische, psychische und soziale Herausforderungen für die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch. Metropolis, 2015
Jährlich erscheinen neue Bücher über die Bedeutung von Naturerlebnissen für Kinder und Jugendliche – doch wie sieht es in der Praxis aus?
Das Buch »Sterben und Tod. Am Ende ist es nicht vorbei« von Peter Krause ist eines von vielen, die zu einer positiven Auseinandersetzung mit dem Lebensende anregen wollen. Der Autor spannt einen weiten Bogen von der Geburt über das gesamte Leben hin bis zum Sterben des Körpers
Die erste und wichtigste Aufgabe des Gehirns sei es, Geschichten zu erzählen, sagte Oliver Sacks (1933–2015) in einem Interview wenige Jahre vor seinem Tod. Dass er als Neurobiologe nicht nur Experte für das komplexeste der menschlichen Organe, sondern auch ein versierter