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Vordenker guten Wirtschaftens

Daniel Dahm porträtiert den Volkswirt Gerhard Scherhorn.von Daniel Dahm, erschienen in Ausgabe #37/2016
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© www.wupperinst.org

Lange bevor es schick wurde, befasste sich Gerhard Scherhorn mit der Bedeutung der nicht-monetären Ökonomie. Es war eine Pio­nierleistung, als er seine Arbeit den sozioökonomischen ­Dimensionen der Gemeingüter widmete. Wissenschaftliche Anschlussfähigkeit war ihm immer unverzichtbar, ebenso wie nahe an der beschreibbaren Wirklichkeit zu sein. So ist er einer der wenigen kritischen Volkswirte, deren Argumente und ­Analysen auch in der konservativen Wirtschaftswissenschaft schwer zu ignorieren sind.

Im Frühling 1997 begegneten wir uns das erste Mal im Flur der AG »Neue Wohlstandsmodelle« des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Ich war 28 Jahre alt und er der neue Direktor. Der feine, im Stil ein wenig britisch anmutende Herr wurde mir als Professor Doktor Gerhard Scherhorn vorgestellt. Etwas hager, lächelte er mit schmalem Schnurrbart ein wenig zurückhaltend und doch interessiert. Mit hoher Denkerstirn und Halbglatze, großen, freundlichen Augen hinter einer randlosen Brille, dazu Tweed-Jackett und korrekt gebundene Fliege, entsprach er ziemlich genau dem Bild, nach dem ich mir als Kind einen Wissenschaftler vorgestellt hatte – neben dem wild-weißhaarig-bärtigen Mann, den ich kurz darauf in Gestalt des Physikers Hans-Peter Dürr kennenlernen durfte; doch das ist eine andere Geschichte. Dass in dem bescheiden wirkenden Ökono­men ein Riese des Geistes steckte, fand ich erst mit der Zeit heraus. Dass dies eine der prägendsten Begegnungen meines bisherigen ­Lebens sein würde, hätte ich mir damals nicht vorstellen können. Als wir uns ­trafen, fing er gerade etwas Neues an.  Hinter ihm lagen bereits über 40 Jahre wissenschaftliche Arbeit.

Ein volles Leben
Der 1930 geborene Gerhard Scherhorn schloss 1951 zunächst eine Lehrzeit als Verlagsbuchhändler ab, bevor er nach einem Studium der Volkswirtschaft und der Philosophie in Köln eine wissenschaftliche Karriere antrat. Er promovierte 1959 bei dem ­Finanzwissenschaftler und Sozialökonomen Günter Schmölders, bei dem er sich 1966 auch habilitierte. Dieser hatte 1958 in Köln die Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik gegründet, in der erstmals Theorien über wirtschaftliches Verhalten interdisziplinär unter Bezug auf Psychologie, Sozialpsychologie und Soziologie analysiert wurden. Auch später blieben Gerhard Scherhorn die empirische Sozialforschung und die psychologischen Grundlagen wirtschaftlichen Handelns wichtig. 1966 wurde er an die Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik berufen, deren Rektor er später war. Die hanseatische Haltung nahm er in die Folgejahre mit. Hohe Bekanntheit erlangte er, als er 1974 in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung berufen wurde. Im »Rat der fünf Wirtschaftsweisen« blieb er bis 1979. Nach den 1960er Wirtschaftswunderjahren und vor dem Hintergrund des blinden Vertrauens jener Zeit in die wirtschaftliche Beherrschbarkeit der Welt, war die Position im Sachverständigenrat für einen kritischen Ökonomen nicht leicht. Die wirtschaftlichen Krisen der 1970er und die »Neuen Sozialen Bewegungen«, in deren Geleit die junge Umweltbewegung zum Durchbruch kam, verlangten ein neues Denken in Theorie und Praxis des Wirtschaftens. Doch in einer auf Wirtschaftswachstum und Massenkonsum fixierten Gesellschaft waren die Beharrungskräfte enorm. 1971 wurde Scherhorn Vorstandsmitglied des Kölner Instituts für angewandte Verbraucherforschung (IFAV) und saß von 1972 bis 1982 im Verbraucherbeirat beim Bundesministerium für Wirtschaft. 1975 wurde er Professor für Konsumtheorie und Verbraucherpolitik an der Universität Hohenheim, wo er das Institut für Haushalts- und Konsum­ökonomik gründete. Zeitgleich war er im Verwaltungsrat der Stiftung Warentest, bis 1991 im Verbraucherpolitischen Beirat beim Senator für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft in Hamburg und bis 1995 Mitherausgeber des Journal of Consumer Policy.
In den 1990ern fokussierte sich Scherhorn auf nachhaltige Wirtschaftsweisen und eine ökologische Ökonomie. 1997 veröffentlichte er mit Kollegen den Frankfurt-Hohenheimer Leitfaden zur ethischen Bewertung von Unternehmen, der bis heute als Standardwerk für die Methodologie von Nachhaltigkeitsratings gilt.
Ernst-Ulrich von Weizsäcker, Gründungspräsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, überzeugte Gerhard Scherhorn, seinen Arbeitsmittelpunkt ins Bergische Land zu verlegen. Mit seiner Emeritierung wechselte er 1996 an das noch junge, aber bereits renommierte Institut und wurde dort Direktor einer Querschnittsabteilung, der Arbeitsgruppe »Neue Wohlstandsmodelle«, und, nach deren Schließung aus wirtschaftlichen Gründen und gegen den Willen Scherhorns, 2004 Direktor der Forschungsgruppe »Nachhaltiges Produzieren und Konsumieren«. Sein Stellvertreter war der Soziologe und Theologe Wolfgang Sachs.

Eine prägende Verbindung
Im Frühjahr 1997 war ich bei Sachs Praktikant und arbeitete zu Suffizienz und Nachhaltigkeit an Studien zu »Ahnen neuer Wohlstandsmodelle«. Anschließend gab mir Gerhard Scherhorn meinen ersten Werkvertrag. Meine Aufgabe war es, ihm bei der Erstellung der Publikation »Arbeitsplatzvernichtung und Umweltzerstörung haben die gleiche Ursache« zu assistieren. Er schickte mir seinen Textentwurf zur kritischen Durchsicht. Ich erfüllte meine Aufgabe grünschnabelig in der unerfahrenen ­Arroganz eines besserwisserischen Berufseinsteigers und überzog den Text mit rot markierten Ergänzungen und Korrekturen. Was darauf folgte, zeigt, wie Gerhard Scherhorn arbeitet: Er hielt es aus, war nicht verärgert, sondern sprach alle Anmerkungen interessiert mit mir durch. Er nahm mich ernst, setzte seine Argumente durch und übernahm meine, sofern sie ihn überzeugten. Inhaltlich war diese Publikation ein wichtiger Schritt. Sie argumentierte, dass
1) der technische Fortschritt die Produktivität schneller steigert, als die Nachfrage zunehmen kann;
2) die Produktivitätssteigerung aus dem ungezügelten ökonomischen Umbau der Natur zum Produktionsfaktor resultiert und so mehr Naturverbrauch nach sich zieht;
3) aus der Industrialisierung der Produktion eine Produktivitätssteigerung resultiert, die Erwerbsarbeitsplätze vernichtet;
4) die Fokussierung auf materielle Güterproduktion und Erwerbseinkommen die Natur des Menschen vernichtet, somit die Produktion immaterieller Güter, Gemeinschaftsarbeit und -güter behindert und sozialen Wohlstand zerstört.
Deutlich benennt er die zentralen Konfliktmechanismen: Die Natur wurde zum Produktionsfaktor und dem Kapital untergeordnet, der Mensch einerseits auf ein Leistungsinstrument der Produktionsanforderungen und andererseits auf einen Konsumenten reduziert. Die Entscheidungskompetenz wurde an den Kapi­talbesitz gebunden; damit wurde das Marktsystem selbstregulierend, denn die kapitaldominierten Entscheidungen sind mechanisch und unpersönlich, folgen allein dem Rentabilitätskalkül. Zugleich werden der Naturverbrauch direkt und indirekt subventioniert sowie die Löhne und Lohnnebenkosten künstlich niedrig gehalten. Denn da »der geforderte Kapitalzins höher ist als die Nachfragesteigerung, muss er durch größere Naturausbeutung oder/und geringere Zahlungen an die Arbeitnehmer finanziert werden«. Hieraus leitet ­Scherhorn eine Naturpflichtigkeit des Eigentums ab und fordert den ökologischen Umbau der marktlichen und regulatorischen Institutionen. Vor allem fordert er eine Revidierung unseres Verhältnisses zur Natur – zur eigenen und zu jener, die uns umgibt und deren Teil wir sind. So argumentiert er bis heute und schlägt dazu konkrete Steuerungsmechanismen vor. Für den Schutz der natürlichen und kulturellen Gemeingüter fordert Scherhorn eine Anpassung des Wettbewerbsrechts. Die Externalisierung von privatwirtschaftlichen Kosten dürfe nicht weiter zu erhöhten Profiten und Wettbewerbsvorteilen führen, während nachhaltige Unternehmen auskonkurriert würden.

Das Gegenteil von Nachhaltigkeit
Selten begegnete mir ein so neugieriger Mensch wie Gerhard Scherhorn. Außer mit ihm konnte ich nur mit dem Quantenphysiker Hans-Peter Dürr Gedankenexperimente über Tage, Wochen und Monate durchspielen und immer weiterspinnen. Beide lernten sich kennen, als ich mit Dürr 2005 am Pots­damer Manifest arbeitete. Ihre Begegnung war geprägt von hohem gegenseitigem Respekt, beide waren fasziniert vom andersartigen Denken des anderen auf einem gemeinsamen Weg.
Die Lust am schöpferischen Denken und Antworten-Finden hielt Gerhards und meine Verbindung immer vital und spannend. Oft konnte ich es kaum abwarten, meine Gedanken mit ihm auszutauschen oder seine Meinung zu hören. In der langjährigen Zusammenarbeit widmeten wir uns der Erforschung der Subsistenzökonomie und ihrer Schnittstellen zu Erwerbs- und Marktwirtschaft. Gemeinsam begleiteten wir die Plattform für nachhaltigen Konsum »­utopia. de«. Als ich die erste Messe für nachhaltige Konsumgüter »goodgoods« in Hamburg gründete, saß Gerhard in deren Fachbeirat. Im Mai 2011 war er bei der Taufe meiner Tochter Selma Lou dabei.
Die letzten Jahre war seine wie meine Arbeit von der Externalisierungsproblematik und dem erzwungenen Substanzverzehr durch die Wachstumsfixierung der globalisierten, finanzkapitalistischen Wirtschaftsweise geprägt. Diese zerstören auch die Grundlagen der Marktwirtschaft. Bereits im letzten Jahrzehnt formulierten wir: Kapitalismus ist das Gegenteil von Nachhaltigkeit.
Am 10. Juni 2013 telefonierte ich mit Gerhard. Wir sprachen darüber, wie wir eine zukunftsweisende Wirtschaftspolitik auf den Weg bringen könnten. Einig waren wir uns, nicht darauf warten zu können, bis alle jene, die in politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Macht verharren, intellektuell und emotio­nal in der Lage seien, an dem lebenszerstörenden Status quo wirtschaftlichen und politischen Handelns etwas zu ändern. Wir verblieben, bald zusammen über weitere, wirkungsstarke politische Instrumente nachzudenken und diese auf den Weg zu bringen. Dazu kam es nicht mehr. Am 11. Juni 2013 wurde Gerhard Scherhorn als Fahrradfahrer unverschuldet zum Unfallopfer und somit in den Ruhestand gezwungen. Heute lebt er mit seiner Frau Monika von Brandt in Mannheim. Während ich diesen Artikel am 21. Februar 2016 finalisiere, feiert er seinen 86. Geburts­tag. Lieber Gerhard, herzlichen Glückwunsch und alles Gute! •


Daniel Dahm (46) ist Gründer der United Sustainability Group, Botschafter der Gemeinwohlökonomie sowie Juryvorsitzender des Internorga Zukunftspreises der Hamburger Messe HMC.

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