Wie Bürgerinnen und Bürger ihre Nachbarschaft beleben.
von Maria König, erschienen in Ausgabe #38/2016
Was haben Spielzeugleihstationen auf Spielplätzen im Berliner Stadtteil Karlshorst, der Innovationstag eines Telekommunikationsunternehmens und der Ostereier-Triathlon in der Gemeinde Erzhausen gemeinsam? Die kurze Antwort: die Verbindung über die Internetplattform »WIR.DE«. Die lange Antwort ist die Suche nach neuem sozialem und nachbarschaftlichem Zusammenhalt in einer Zeit, in der Familien und Freunde weit verstreut voneinander leben und Dorf- sowie Gemeinschaftsstrukturen zunehmend zerfallen. Unter dem Motto »Teilen und Helfen in der Nachbarschaft« ist WIR.DE eine Plattform, auf der man schnell und übersichtlich ein Angebot oder eine Suchanfrage einstellen kann: Wer hat einen Fahrradanhänger zu verleihen, wer bietet Kleinkinderbetreuung an? Mit einer Suche im eigenen Postleitzahlen-Bereich kann man sich einen Überblick über Möglichkeiten im eigenen Umfeld verschaffen. Die beiden Gründer der Plattform, Sergey Savchuk und Christian Ridder, merkten bald, dass zur Vernetzung von Menschen die virtuelle Welt nicht ausreicht. Mit Spielzeugleihstationen in Karlshorst – Motto: »Teilen lernt man im Sandkasten« – realisierten sie 2012 ihre ersten realen Nachbarschaftsaktionen. An anderen Kabelenden des Internets wurde die Gemeinde Erzhausen auf die Plattform aufmerksam. WIR.DE ist hier Teil eines vielfältigen Vernetzungspotpourris.
Zwei Menschen – ein Gedanke Erzhausen ist eine 7000-Seelen-Gemeinde in Südhessen mit einer Reihe von aktiven Vereinen. Eine Initiative, die sich vornimmt, die Nachbarn zusammenzubringen, gab es jedoch lange Zeit nicht. Als im Jahr 2012 abzusehen war, dass der beherzte und ambitionierte Rainer Seibold zum neuen Bürgermeister gewählt werden würde, gab dies dem 35-jährigen Erzhausener Johannes Stock den Impuls, sich für seine Idee einer Nachbarschaftsplattform zu engagieren. Er sprach den Bürgermeisterkandidaten darauf an – ohne zu ahnen, dass seine ihm lose bekannte 60-jährige Nachbarin Eveline Wesp mit einer ganz ähnlichen Idee an Seibold herangetreten war. So verknüpften sich ihre Anliegen. Johannes erinnert sich: »Eveline und ich stellten fest, dass es eine große Schnittmenge zwischen unseren Ideen gab, während wir uns an anderen Stellen ergänzten. Mir war es ein Anliegen, neue Medien zu nutzen und junge Menschen anzusprechen, während Evelines Herzens-projekt die Einrichtung eines Bürgerbüros war.« Bei einer Auftaktveranstaltung im Bürgerhaus stellten die beiden im Sommer 2013 ihre Idee vor gut 50 Menschen vor. An diesem Tag konnten sie Stefan Oemisch für ihr Team gewinnen, und mit Evelines Freundin Lilo Schmidt ist »Wir-in-Erzhausen« inzwischen zu viert. Um den bürokratischen Aufwand möglichst gering zu halten, haben sie sich bewusst entschieden, keine formelle Struktur, etwa einen Verein, aufzubauen. Sie wollen schließlich nur etwas sehr Einfaches – aber Wesentliches – ermöglichen: dass Nachbarn in Kontakt kommen und sich helfen. Manchmal geht es nur um das Verleihen von Werkzeug, manchmal aber auch um so anspruchsvolle Aufgaben wie die Unterstützung von Menschen, die nach einem Unfall allein zu Hause sind. Die Erzhäuser können Hilfesuchende und Hilfswillige entweder im dafür eingerichteten Bürgerbüro anfragen oder die Plattform Wir.de nutzen. Johannes fand sie bei Recherchen für das Projekt, und sie hat sich in Erzhausen inzwischen bewährt.
Belebte Nachbarschaft Neben der Nachbarschaftshilfe bildet die Organisation von Veranstaltungen für Jung und Alt das zweite Tätigkeitsfeld von Wir-in-Erzhausen. Johannes betont: »Das ›Wir‹ in unserem Namen steht bewusst nicht nur für uns vier im Team, sondern für alle Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde. Wir wollen Impulse geben, freuen uns aber immer sehr, wenn Leute mit eigenen Veranstaltungsideen an uns herantreten oder sich tatkräftig am Geschehen beteiligen.« So organisiert Wir-in-Erzhausen beispielsweise in Räumen der Gemeinde einen Tanztee, wo insbesondere ältere Menschen gesellig zusammenkommen können. Das engagierte Ehepaar Heidler, das die Infrastruktur gut kennt, richtet gerne die Teller und Tassen dafür her. Andere Veranstaltungen, wie die Waldweihnacht und der Ostereier-Triathlon, sind inzwischen zu gerne besuchten festen Einrichtungen des Dorf-lebens geworden. Besonders berührend war es für Johannes, als die Initiative das Präventions- theater »Powerchild« einlud, mittels mehrerer Veranstaltungen die 600 Kindergarten- und Grundschulkinder von Erzhausen spielerisch zu Selbstschutz und Selbstvertrauen zu ermutigen. Er berichtet: »Nach einer Veranstaltung kam die Mutter eines Erstklässlers zu mir und erzählte strahlend, dass ihr Sohn, der bis dahin immer Angst vor dem Schulweg gehabt hatte, nun gerne und voller Selbstbewusstsein morgens alleine aus dem Haus ginge. Diese Zuversicht hatte er von dem Drachen Lucky aus dem Theaterstück gewonnen« Solche Erfolgserlebnisse helfen, sich auch bei schwierigen Situationen im Team wieder auf den gemeinsamen Fokus auszurichten, denn es bleibt nicht aus, dass es innerhalb der Gruppe auch zu Reibereien kommt. Oft sind es solche Kleinigkeiten wie die Gestaltung eines Flyers, an denen sich Unmut über unterschiedliche Einstellungen und Herangehensweisen entzündet. Es sei wichtig, sich dann daran zu erinnern, dass das Engagement nicht um seiner selbst willen geschieht, sondern aus dem Wunsch heraus, etwas für den Ort zu erschaffen, betont Johannes. Was das Team stärkt, ist die gute Zusammenarbeit mit den ortsansässigen Vereinen und Initiativen sowie mit der Gemeinde. Nicht nur, dass Wir-in-Erzhausen von der Gemeinde Räume zur Verfügung gestellt bekommt und deren Minibus für Transportfahrten unentgeltlich nutzen kann – fast noch wichtiger ist der moralische Rückenwind, den das Team vom Bürgermeister und der Gemeinde erfahren. Stefan weiß dies zu schätzen: »Vor einigen Jahren nahm ich an einer Ausbildung zum ›Engagement-Lotsen‹ teil und lernte Menschen aus anderen Gemeinden und Städten kennen. Mit einigen bin ich bis heute in Kontakt. Initiativen, die ohne Rückhalt ihrer Gemeinde begonnen haben, konnten nicht richtig Fuß fassen.« Aktuell gibt es eine schöne Entwicklung hinsichtlich der Integration von Flüchtlingen in Erzhausen. Sie werden gerne zu den Veranstaltungen eingeladen, helfen beim Auf- und Abbau oder zusammen mit Anwohnern bei gemeinsamen Arbeitseinsätzen. »Wir wollten geflüchtete Menschen ganz gezielt mit ins Bild der Stadt bringen«, erzählt Johannes. »Das gemeinsame Anpacken hilft, Vorurteile zu überwinden. Mittlerweile sind dadurch neue Verbindungen und Freundschaften entstanden.« Während sich die Veranstaltungen wachsender Beliebtheit erfreuen, ist die Nachfrage nach Hilfsangeboten zurückgegangen. Ob sich daran zeigt, dass in einer lebendigen Nachbarschaft der informelle, direkte Kontakt das Wichtigste ist? Herauszufinden, inwieweit sich die gegenseitige Unterstützung inzwischen ins Private verlagert hat oder ob es wichtig wäre, etwas zur Wiederbelebung der öffentlichen Hilfsangebote zu tun – das steht gerade nicht im Fokus von Johannes, Stefan, Eveline und Lilo. Gegenwärtig sind die vier noch ganz eingebunden in die Organisation der vielen Aktivitäten, die sie in Erzhausen angestoßen haben. Es scheint, als hätten sie einen langen Atem, aus dem sich ein lang anhaltender, nährender Strom von Gemeinschaftlichkeit speisen kann. •
Maria König (29) lebt mit ihren drei Kindern in Berlin, schreibt ihre Masterarbeit zum Thema »Freilernen« und engagiert sich in der Berliner Gemeinschaftsinitiative »Taram«.