Gesundheit

Sterbende haben keine Lobby

Johannes Heimrath sprach mit der Ärztin Annegret Kneer über das von ihr geleitete
Hospiz am Engelberg in Wangen im Allgäu.
von Johannes Heimrath, Annegret Kneer, erschienen in Ausgabe #39/2016
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© Privat

Wie schön, dass wir uns jetzt, ein wenig verspätet, am Telefon ­zusammengefunden haben. Ich höre, dass Sie gerade eine schwierige Situation zu lösen hatten.

Ja, ich habe einen Patienten, der ein Fastensterben umsetzen möchte. Die Schwierigkeit ist, dass er nicht nur Essen und Trinken ablehnt, sondern auch die Pflege. Wir lassen hier aber niemanden in den eigenen Ausscheidungen liegen, rechtlich dürften wir es auch gar nicht. Der Mann hat erst zwei Tage nichts gegessen und getrunken und kommt jetzt in eine kritische Phase. Er will seiner Entscheidung treu bleiben, merkt aber, dass Sterben nicht schnell geht. Mit circa zwei Wochen muss er mindestens rechnen, und in dieser Zeit hat man seine Gedanken und Aggressionen, die Platz finden müssen.

Ich habe einmal während einer musikalischen Performance über 50 Stunden lang nicht getrunken. Das Durstgefühl gehört zu meinen schrecklichsten Erlebnissen. Der ganze Schlund brennt – ein unglaublicher Schmerz! Ich habe gehört, beim Fastensterben sei das Wichtigste, den Mund feucht zu halten. Das würde der Patient aber wohl ablehnen, weil er seine Würde nur gewahrt sieht, wenn er nicht mehr versorgt wird …

Ja, aber ich kann den Menschen in unserem Team nicht zumuten, jemanden so leiden zu sehen. Wer keine Hilfe von uns annehmen möchte, kann seinen eigenen Weg doch zu Hause gehen. Das habe ich dem Patienten vermittelt und hoffe, dass sich die Situation bald löst. Meiner Erfahrung nach ist es kein schöner Tod, wenn jemand nach und nach eintrocknet. Es kann sehr lange dauern, und irgendwann verliert der Mensch die Sprache. Vielleicht will er dann um Hilfe bitten, kann es aber nicht mehr. Das Verdursten­lassen wird leider im großen Stil praktiziert. Kaum jemand nimmt sich Zeit, Sterbenden ständig den Mund zu befeuchten.

Warum kommt es dazu?

Oft schreiben Menschen in Patientenverfügungen, dass sie am Ende ihres Lebens nicht mehr an Apparate und Schläuche angeschlossen werden wollen. Sie ­denken nicht daran, dass sie in Situationen kommen könnten, in denen eine Infusion von Flüssigkeit ihre Lage sehr erleichtern würde. In Pflegeheimen werden Patientenverfügungen oft wörtlich genommen: Steht dort »keine Schläuche«, wird die sterbende Person verdursten, wenn sie das Trinken verweigert. Der Wille des Patienten ist schließlich oberstes Gebot. Dabei wird oft außer Acht gelassen, dass sich dieser Wille in Notsituationen ändern kann. Bei dementen, alten Menschen ist es oft nicht einfach, eine Willensäußerung zu erkennen. Manchmal rufen uns Pflegeheime in Notfällen an. Es heißt dann zum Beispiel: »Eine sterbende Patientin schreit und schreit – können Sie helfen?« Solches Leiden lässt sich oft durch ein wenig Zufuhr von Flüssigkeit und Schmerzmedikamenten lindern. Selbstverständlich sprechen wir alles, was wir tun, mit den Angehörigen ab.

Solche Themen sind in der Debatte um die Sterbehilfe wichtig. In der Patientenverfügung meiner Mutter steht, dass sie keine ­lebensverlängernden Maßnahmen wünscht, aber in Würde und möglichst schmerzfrei sterben möchte. Das scheint mir eine sinnvolle Formulierung.

Manchmal verstehen die Angehörigen die Formulierung »keine lebensverlängernden Maßnahmen« allzu wörtlich. Gerade habe ich eine Patientin hier, die nach einem extremen Blutverlust zu Hause bei ihrem Mann und ihrer Tochter sterben wollte. Als für die Beteiligten die Pflege nicht mehr zu bewältigen war, kam sie zu uns. Inzwischen kann sie nicht mehr schlucken, und so habe ich ihr eine Infusion angeboten. Sie hat zugestimmt, aber ihr Ehemann meinte: »Stopp, meine Frau will doch sterben!« Da hat sie widersprochen: »Wir machen es so, wie ich es möchte!«
Wir haben nicht nur die Sprache der Angehörigen zu sprechen, sondern an erster Stelle die der Patientinnen und Patienten. Ich versuche, bis zum letzten Atemzug mit ihnen zu kommunizieren, auch nonverbal. Bedürfnisse lassen sich auch durch Mimik und Gesten äußern. Unsere Mitarbeiter lernen diese Art der Kommunikation, oft können sie das besser als ich. Bis zuletzt in Würde gehen – das ist nur möglich, wenn die pflegenden Menschen den Sterbenden verstehen. Das verlangt Empathie und vielfach auch medizinisches Wissen.

Ihr Hospiz ist in einer großen Klinik untergebracht. Wie gelingt die Zusammenarbeit?

Zwischen dem Hospiz und dem Krankenhaus ergben sich viele Synergien. Wir sind hier inzwischen seit zehn Jahren im 5. Stock – in der Belle Etage – des Krankenhauses Wangen und verfügen über neun Zimmer mit elf Betten für eine stationäre Betreuung.

Wieviele Menschen arbeiten dort?

Im Moment besteht unser Team aus 20 hauptamtlichen und vielen ehrenamtlichen Mitgliedern aus allen gesellschaftlichen Schichten. Unter den Helfern sind erstaunlich viele junge Menschen, die neben ihrem Beruf – etwa einer Arbeit vor dem Computer – noch eine sinnvolle Aufgabe erfüllen wollen, bei der die Beziehung zu Menschen im Mittelpunkt steht.

Worin besteht die Tätigkeit der Ehrenamt­lichen in erster Linie?

Sie verbringen Zeit mit den Patientinnen und Patienten, können in Hülle und Fülle das »Vitamin Z« geben. Da sie anders als die Festangestellten nicht ständig von einem Zimmer zum nächsten gehen und sich auch nicht um Pflege und Medikamente Gedanken machen müssen, können sie sich oft tiefer in ihr Gegenüber einfühlen. Wer sich eine Stunde mit einem Sterbenden unterhält, erfährt unglaublich viel – dieses ehrenamtliche Schenken von Zeit ist echte Lebens­begleitung.

Diese Begegnungen stelle ich mir als sehr intensiv vor. Meistens werden dabei ja nur kürzere Beziehungen entstehen. Wieviel Zeit verbringen Sterbende in der Regel in Ihrem Hospiz?

In der Regel drei bis vier Wochen, einige wenige sind nur ein paar Tage da, andere dafür ein ganzes Jahr.

Kommt es vor, dass eine Heilung geschieht?

Gott sei Dank erleben wir das immer wieder – so wie bei Wolfram Nolte, Ihrem Redakteur (siehe Artikel Seite 79). Er hat bei uns seine Lebensstrategie und die Einstellung zu seinem Tumor geändert. Ich habe ihm gesagt: »Der Tumor muss dich nicht beherrschen. Er kann bei dir zu Gast bleiben, aber du bist der Gastgeber und sagst ihm, wo es langgeht.«

Welche Instanz im Menschen hat solche Macht? Der Körper hat ja sein Eigenleben. Wer sagt meinen Zellen, wo es langgeht?

Das ist eine weltanschauliche Frage, die ich nicht so beantworten kann, dass Sie zufrieden sein werden. Ich glaube, es ist wichtig, ein Ziel vor Augen zu haben. Das gibt den Lebensmut, der sich positiv auf alle körperlichen Prozesse auswirkt. Dass ein Tumor in den Körper einzieht, kann das eigene Selbstvertrauen und die psychische Kraft stark erschüttern.
Meiner Erfahrung nach ist es schwierig, weitestgehend auf sich allein gestellt zu einem gesunden Selbstbewusstsein zurückzufinden. Da sind die Menschen im ­eigenen Umfeld wichtig, sie können die ­nötige Kraft geben. Wolfram hatte ja ganz viele ­Menschen um sich, die ihn getragen haben; er brauchte diese Energie der anderen.

Wolfram erzählte uns, dass der Standort ­Ihres Hospizes gefährdet sei. Worin besteht das Problem?

Unser schöner Ort wird uns streitig gemacht. Wir brauchen aber den Blick auf die Berge, auf Sonnenaufgang und Sonnen­untergang. Die Natur zu spüren, ist für unsere Arbeit elementar wichtig. Auch die Inneneinrichtung macht viel aus. Wer in unsere Räume kommt, spürt: Hier ist etwas anders, hier sind Licht, Farbe, Blumen und freundliche Menschen. An unserem jetzigen Standort ist mir auch der kurze Weg zu den Ärzten im Krankenhaus wichtig.

Hat das Hospiz nicht auch der Klinik viel zu geben?

Es ist schon jahrelang Kooperationspartner des onkologischen Zentrums. Bei der Renovierung des Krankenhauses hat das Vorbild unserer Räume viele Anregungen gegeben. Bisher haben sich die beiden Institutionen gut ergänzt. Leider haben wir beim Einzug einen nur zehnjährigen Mietvertrag unterschrieben, denn ich wusste damals ja noch nicht, ob sich unsere gemeinnützige GmbH, die das Hospiz trägt, langfristig etablieren kann. Nun sollen wir gekündigt werden, damit der 5. Stock mit seinem schönen Ausblick zu einer Premium­station für Privatpatienten umgebaut werden kann. Wir wissen nicht genau, was dahintersteckt, aber sicherlich spielt Geld eine Rolle. Privatpatienten können die Kasse aufbessern. Uns wurde angeboten, auf dem Gelände der Klinik zu bauen, aber dafür bräuchten wir Spenden in Millionenhöhe. Ich möchte bleiben und finde es ungeheuerlich, dass Sterbende, die keine Lobby haben, zugunsten von Wohlhabenden auf diese schönen Räume verzichten sollen!

Mit wem verhandeln Sie in dieser Sache?

Mit ganz vielen Menschen im Sozialministerium und in den Gremien des Landkreises. Von Weihnachten bis heute haben wir alle Kreisräte persönlich aufgesucht. Wir sind auch mit vielen Bürgerinnen und Bürgern im Gespräch.

Wie könnten Oya-Leserinnen und -­Leser Sie in diesem Prozess unterstützen?

Wir haben einen Verein, die Calendula Hospizgruppe e. V., da kann man Mitglied werden. Briefe an das Gesundheitsminis­terium oder an den Landkreis können auch helfen. Die größte Unterstützung, die ich mir für Sterbende wünsche, ist aber, dass überall in unserer Gesellschaft Empathie entwickelt und gepflegt wird.

Vorhin haben Sie erklärt, dass Sie ihre ­Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern lehren, auch nonverbal empathisch mit den Patienten zu kommunizieren. Wie gelingt das?

Das Wichtigste in der Sterbebegleitung ist die Sprache der Worte, der Hände und des Schweigens. Hände können ganz viel sprechen, aber auch im Schweigen lässt sich ganz viel aus einem Gesichtsausdruck oder einer Körperhaltung ablesen. Menschen kommunizieren bis zu ihrem Lebensende. Wir finden immer eine Ebene der Kommunikation mit Sterbenden, auch wenn sie kaum noch präsent sind. Musik ist dabei sehr wichtig. Wir singen mit den Patienten und haben eine Musiktherapeutin im Team. Ich spiele Geige und Orgel – oft auch auf den Trauerfeiern.
Eine Patientin kam hier mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) an. Sie konnte weder sprechen noch schlucken. Nach kurzer Zeit haben wir begriffen, wie sie kommuniziert und was sie wollte, zum Beispiel sich ihre Kleidung selbst auszusuchen. Als wir das zum ersten Mal verstanden, strahlte sie übers ganze Gesicht. Zwei Jahre hat sie noch bei uns gelebt, und mit niemandem hier haben wir jemals so viel gelacht. Dass wir ihre Bedürfnisse verstehen konnten, hat ihr Würde gegeben. Würde gibt dir ein Gegenüber, das dich menschenwürdig behandelt, sie entsteht nicht von allein. Je weniger wir selbst können, desto wichtiger ist die Wertschätzung durch andere.

Das ist ein schönes Schlusswort. Ich danke Ihnen für das berührende Gespräch.•


Annegret Kneer (64) studierte Medizin in Freiburg und arbeitete anschließend als Palliativmedizinerin. 1996 gründete sie den Hospizverein Calendula und eröffnete nach zehn Jahren ambulanter Arbeit das Hospiz am Engelberg.

Dem Hospiz Beistand leisten:
www.hospizamengelberg-calendula.de
Unterstützerbriefe bitte an info_ÄT_hospizamengelberg.de

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