Titelthema

19 (Leserbriefe zu Oya 40)

Es hätte viele Gründe gegeben, »Oya 40« – unsere letzte Ausgabe – reichlich ­unver­ständlich zu finden: lange, fragmentarische Texte, experimentelles ­Design, ­seltsame Metaphern. Unser »Reisebericht« hat jedoch eine überwältigende Flut von ­ermutigenden Briefen von Menschen, die sich mit ­unserem Weg verbunden fühlen, ausgelöst. Die folgenden Passagen stehen für viele weitere Beispiele, die uns in ­unseren Denkrunden beschäftigt haben.von Der Schwarm, erschienen in Ausgabe #41/2016

Ich habe die zehn tastend suchenden Kapitel der Ausgabe nach und nach gelesen – und das als sehr fruchtbar erlebt. Und zwar gar nicht so sehr auf der kognitiven Ebene der Texte. Es war eher etwas anderes. Immer wieder habe ich einen Abschnitt gelesen, etwas hat mich berührt (oder besser: hat etwas in mir berührt), hat Resonanz ­erzeugt, meine eigenen Gedanken angestoßen, und ich habe mich meinem eigenen, höchst lebendigen Such- und Sinnierprozess hinein in mein eigenes Fühlen und Nichtwissen überlassen, bis die Sequenz vorbei war und ich wieder im Text weiterlas. Etwas von der Tiefe eures Denkprozesses hat sich wohl zwischen den Zeilen auf mich übertragen. 
Johannes Krause, Wiesenburg

Berührt sein – was für ein Phänomen ist das? Was berührt sich denn, wenn Menschen einander ihre Geschichten erzählen? Was geschieht auf einer tieferen Ebene in uns, wenn etwas in Resonanz gerät?


Ich entdecke viele Parallelen eurer Haltung des Innehaltens, Lauschens und einer nicht nur rhetorischen Offenheit zu meiner gestalttherapeutischen Arbeit: Der »Arbeitsauftrag« an die Therapeutin besteht in der Regel in einem Problem, das Leidensdruck erzeugt und verschwinden soll. Oft haben Ratschläge und Besserungsvorschläge bisher nicht wirklich gefruchtet, und es hat sich eine Ratlosigkeit und Verzweiflung breitgemacht. Dies ist der Ausgangspunkt – an dem es gilt, erst einmal anzukommen, sich bewusstzuwerden, dass gerade dieser Punkt ein Ausdruck einer kreativen Anpassung und eines Lösungsversuchs ist – unabhängig davon, wie tauglich oder untauglich er faktisch ist. Solange die Funktion des problematischen Verhaltens nicht erkannt und gewürdigt ist, haben lösungsorientierte Herangehensweisen keine tiefe und dauerhafte Wandlungskraft. Die Wirklichkeit ist kreativer Ausdruck unseres gegenwärtigen Bewusstseins im Individuellen wie im Kollektiven.
Ich freue mich und bin dankbar, dass Oya den Mut hat, sich so verletzlich zu zeigen, und sich selbst gemeinsam mit den Leserinnen und Lesern einlädt, unter die Oberfläche des ständigen Tauziehens zwischen Problemen und Lösungsansätzen zu tauchen. 
Dorothea Betz, Lauf an der Pegnitz

Ja, es fordert viel Lassenskraft*,  an diesem Ausgangspunkt im Nicht-Wissen zu stehen. Während der ersten Gehversuche zur Gestaltung der vorliegenden Ausgabe von Oya haben wir das deutlich gespürt. Kaum deuteten sich die Konturen eines größeren Bilds an, lösten sie sich auch schon wieder auf – bis wir dazu stehen konnten, dass es gegenwärtig nicht darum geht, aus etwas »schlau« zu werden oder einen »Durchbruch« zu erzielen, sondern sich ganz und gar auf einen Wandlungsprozess einzulassen.



Ich werde die Nummer 40 als Gebrauchsanleitung für meinen kommenden Veranstaltungsblock zum Thema »Bäuerliche Ökonomie und Subsistenz*« an der Universität für Bodenkultur in Wien nehmen. Wie genau, weiß ich noch nicht, aber die generelle Linie ist klar: Es hat keinen Sinn, die bäuerliche Ökonomie und ihre Prinzipien immer wieder als die Art und Weise vorzustellen, wie es in der Landwirtschaft und im Umgang der Gesellschaft mit dem Boden, den Pflanzen und Tieren anders und richtig gehen würde, wenn dem keine nennenswerte wirkliche Tendenz entspricht. Eher das Gegenteil ist der Fall: Die Macht der Agrarindustrie ist größer denn je, 8 die bäuerliche Praxis wird weltweit zurückgedrängt, Organisa­tionen wie »La Via Campesina« hin oder her. Trotzdem finde ich nach wie vor, dass in der Subsistenzorientierung bzw. Subsistenzperspektive eine kraftvolle Energie steckt. $ Genau diese Kraft werde ich versuchen, im Licht der heilsamen Enttäuschung zu ergründen, mit all der nötigen Aufrichtigkeit hinsichtlich besserwisserischer Erwartungen. 
Veronika Bennholdt-Thomsen, Bielefeld

Wenn es möglich ist, trotz der aussichtslosen Weltsitua­tion in positiven Perspektiven eine »kraftvolle Energie« zu sehen, führt das weder zu Reformversuchen noch zu Kämpfen gegen die »Machthabenden« noch in die Resigna­tion. Ist es möglich, sich diesem Kraftvollen unabgelenkt zuzuwenden, völlig unabhängig davon, in welchem Zustand sich die Welt befindet? 



Ich erkenne in den letzten Ausgaben eine Art Obsession mit der Megamaschine*. Wie ein Kaninchen wird auf die Schlange gestarrt. Selbstverständlich – sie ist da und zerstört sehr viel. Es ist mir auch klar, dass dieses Bild zu einer Inszenierung gehört, dass Oya mehr als nur dieses Bild sieht.
Wir sollten nicht vergessen, dass die Maschine lebt, dass wir sie erschaffen haben und weiterhin beleben. Ich weiß, dass Oya die Welt nicht schwarzweiß sieht, als die schlechte Maschine und das gute Leben. Trotzdem reizt es mich, wenn »die« Maschine als das Böse dargestellt oder gar mit dem Bild eines bösen Geists (Pharao*) belegt wird. Den Satz »In der guten Welt haben Pharao und Maschine ausgedient« mag ich nicht. Der Pharao sind wir, die Maschine ist unsere Schöpfung. In der guten Welt bleiben wir – und die Maschine auch, sicherlich stark verändert, aber sie bleibt. Was wir brauchen, ist nicht die Zerstörung einer bösen Maschine, sondern eine Transformation. 
Didier Achermann, Wolfratshausen

Es ist paradox: Die lange Geschichte der von Gewalt geprägten Kultur der »Mega­maschine« steckt vor allem uns Europäern tief in den Knochen. Selbstverständlich können wir sie nicht abschütteln, sondern nur annehmen und transformieren. Ist es aber nicht zugleich wichtig, mit großer ­innerer Klarheit den lebensfeind­lichen Prinzipien der eigenen Kultur eine Absage zu erteilen? Das wäre der Beginn eines »Ausstiegs«. Die Geste des Annehmens und die der Abgrenzung scheinen gleichermaßen wichtig zu sein.


Wenn ihr an Oya schreibt und darüber im Austausch seid, sitzt ihr neben euren Beeten im Garten. Da denke ich an eine meiner jüngeren Schwestern, die nach vielen Jahren Arbeit und Sinnsuche ihr Zu-Hause-Sein in Litauen in einem russisch-orthodoxen Kloster gefunden hat. Als ich sie mit meinem Liebsten vor Jahren besuchte, zeigte sie uns lange Reihen von Zucchini­beeten und sprach von ihren »Gemüse-Gebeten« – leise lächelnd, mit einem Schalk in ihren großen, blauen Augen. Die Schwestern dort leben als Selbstversorger.
Ich wünsche mir eine Oya, die in Abständen ihre Leserinnen und Leser einlädt, gemeinsam in die Stille zu gehen, um das, was sich darin zeigen will, zu teilen. Ich bin schon lange nicht mehr in der Lage, aktio­nistisch durch die Welt zu gehen, bin je nach Tagesform schnell erschöpft, bin langsamer als die meisten Menschen. Inzwischen erkenne ich das für mich als sinnvoll an. Es erfordert Geduld und auch Demut.
Als ich vor längerer Zeit in der Uckermark in der Gegend von Wallmow lebte, habe ich acht Jahre lang mit Menschen jener Gegend wöchentlich in Singkreisen gesungen. Seit ich Oya lese, kommen die damaligen Lieder wieder in mein Bewusstsein – seit vielen Jahren haben sie darauf gewartet, wieder gesungen zu werden. Sie scheinen mir hochaktuell zu sein. 
Kathrin Schulz, Berlin

Vermutlich ruft die Vorstellung »gemeinsam in die Stille zu gehen«, bei dem einen oder anderen Unbehagen hervor. Ist das nicht alles zu gefühlig? Mutet es nicht schon religiös an, dieses Gerede vom Geschehenlassen, dem Innehalten und der Stille? Es gehört mit zur heutigen (Un-)Kultur, dass es für ganz selbstverständliche Dinge, wie einfach mal die Klappe zu halten, scheinbar nur überhöhte oder flapsige Ausdrucksweisen gibt. Finden wir eine stimmige Balance in der Sprache, auch um nach innen gewandte Prozesse zu beschreiben? 



Was mich beim Oya-Treffen irritiert hat, war die Einstellung, dass man weg wolle von der alten Manier, immer nach Zielen zu fragen, alles produktionsorientiert anzugehen, immer einen Zweck haben zu müssen für sein Tun.
Ja, die Zielstrebigkeit in unserer kapi­talisierten Verwurstungsgesellschaft ist selbstverständlich erschreckend. Nichts wird mehr unbewertet gelassen, immer muss ein Erfolg messbar sein. Der Maßstab erwächst aus dem Ziel, dem Zweck einer Sache. Der Zweck, so könnte man vielleicht sagen, war die Reißzwecke, die früher in der Mitte von Zielscheiben steckte.
Wenn es keinen Zweck gibt, schießt man irgendwo hin, mal in den Wald, mal in den Himmel. Oder suche ich mir auch da ein Ziel? Sollte ich den Bogen spannen und einen Pfeil losschnellen lassen, ohne zu zielen? Ich werde doch mindestens schauen, ob niemand im Weg steht!
Ich bin der Meinung, dass wir Menschen kaum anders können, als Ziele zu haben. Was erschreckt uns daran aber so? Warum wollen wir – besonders in der Seifenblase der »Gemeinschaftsszene« – denn davon weg? Es geht wohl um die gefassten Ziele der Megamaschine, wie unsere pekuniär profitorientierte, durchstrukturierte Gesellschaft in Oya treffend genannt wird. Wir empfinden sie als ungünstig für das Erreichen eines guten Lebens und haben stattdessen andere Ziele und Werte, die wir in der Welt umgesetzt sehen wollen. Sie sehen anders aus als Finanzspekulation, Landgrabbing*, Autobahnausbau etc. Wir bauen mit Lehm und unseren Händen!
In der westlichen Standardgesellschaft ist das Pendel der Zielorientierung sicherlich zu weit in die eine Richtung geschwungen. Aber schaffen wir ein Gleichgewicht, indem wir es auf die andere Seite werfen? Nur weil in der Welt soviel Gerede ertönt, müssen wir nicht schweigen. Weil Manager und Finanzlobbyisten mit Flipcharts und PowerPoint arbeiten, viel aufschreiben und selten über Gefühle reden, müssen wir nicht die Sprache und das Denken verteufeln. 
Philipp Gerhardt, Lübtheen

Das ist ein sensibler Punkt. »Gegenkultur« war lange ein Begriff für alle Ansätze, die Oya vorsichtig mit »anders denken« zu umschreiben versucht, und sie war davon gekennzeichnet, das Pendel auf die andere Seite schlagen zu lassen. Dabei läuft man immer Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Aber das Hin- und Herpendeln bleibt letztlich im ewig Gleichen gefangen. Wenn deutlich wird, dass die üblichen Wege, Ziele zu verfolgen, nun seit 50 Jahren Gegenkultur nicht fruchten – ist es dann nicht sinnvoll, sie in Frage zu stellen und dabei alle Sinne und Ausdrucksformen zu nutzen – das klare Denken wie das tastende Fühlen?



Ich habe nicht den Anspruch, die Welt zu retten, indem ich kompromisslos lebe. Ich stehe zu meinen Schwächen (zum Beispiel ­leckere Weizenbrötchen) und Stärken (noch nie ein Auto gehabt, alle Lasten mit Rad und Bahn transportiert). Ich kann mich nicht selbst versorgen und weiß zu wenig darüber, als dass ich die Frage beantworten könnte, ob die Planetin neun Milliarden Menschen erlauben könnte, von gemeinschaftlich bebauten Äckern zu leben und mit Sonne und Feuer zu heizen, abgekoppelt von den Auslaufmodellen Öl, Gas und Co. Ich habe für vieles keine Geduld und bin müde. Aber ich glaube an die Kraft der Gedanken – und dass wir versuchen sollten, Ei-Phones aus Holz zu bauen und mit ihnen gedankenkräftig bis nach Australien zu telefonieren; an die Kraft der Träume und ihrer Realisierungen; an die Kraft der Klänge, wenn ich mit Kindern auf Natur­instrumenten spiele und ihre leuchtenden ­Augen sehe.
Nicht nur die »Meistin« aus dem ersten Kapitel von Oya 40 können wir fragen, wie es weitergehen soll, auch die vielen Bäume, Tiere oder Steine. Es geht viel um die mehr-als-menschliche Welt* in den Oya-Texten. Wo aber sind Berichte von Fragen und Antworten dieser anderen Wesen? In Litauen traf ich Menschen, die ganz selbstverständlich die Bäume heiligen, besingen, fragen, umarmen und dafür anders als im taz-Cartoon nicht durch den Kakao gezogen werden. Also fragen wir den (die?) Bien, Plätze in der Natur, Wiesen, Linden. Darüber könnte ich erzählen.
Hannes Heyne, Dresden

Es ist schön, von Gesprächen mit Bäumen zu erzählen, 8 aber nicht einfach, denn es wird so schnell romantisiert, und man stülpt menschliche Vorstellungen über Wesen, deren Sprache wir nicht mächtig sind. Deshalb waren wir in Oya damit bisher sehr vorsichtig. Aber vielleicht ist es Zeit, diese Behutsamkeit zu thematisieren.



Nach dem Lesen der letzten Oya wollte ich euch sofort schreiben, aber dann war da das volle Leben: Neben 30 Stunden bezahlter Arbeit (und welch Glück, ich habe noch Arbeit!) wenige Kartoffeln ernten, Wühlmaus-Gefühle, Saatgut sammeln, Kräuter trocknen, einkochen, TTIP-Demo, Glyphosatdiskussionen mit Politikern,  Obstgehölze als Geschenk an die Gemeinde wie Sauerbier anbieten, schönes Essen kochen und aus Geerntetem Sinnhaftes backen, ein syrisches Ehepaar ins Herz schließen. Genau über dieses ständige Tun reflektiert ihr, haltet inne – und wisst nicht weiter. Ich auch nicht! Das richtige Leben im falschen …
Bei den letzten Oyas vor der Nummer 40 war ich manchmal beim Lesen etwas müde von der Wucht der (scheinbar?) unbeirrbaren kapitalistischen Beschleunigungsmaschinerie, während wir für die Bienen Natternkopf anbauen, während Flüchtlingsheime brennen.
Weiterhin erlebe ich fassungslos und traurig in unserem nicht kleinen Freundeskreis – fast alle psychotherapeutisch tätig und Fühlen gewohnt – dass die meisten in Überforderung und Verdrängen weitermachen wie bisher. »So viele Flüchtlinge passen doch auch nicht in Deutschland hinein«, hörte ich selbst in diesem Freundeskreis.
Ich fühle mich euch in dem Suchen, dieser Ratlosigkeit, dieser wunden Ohnmacht und dieser Liebe zu allem, was lebt, sehr verbunden. Immer wieder nehme ich ein Netz von Menschen wahr, die sich berühren lassen, die das Unaushaltbare ans Herz lassen. Das meine ich nicht selbstgefällig, sondern traurig, wild und zärtlich! Und ich will euch sagen, dass ich (fast) alles mit euch – mit Oya – mitmache in eurem Wandel-, Such- und Gestaltwerdeprozess. Wie gut, wie gut, dass ihr nicht einfach so weitergemacht habt, sondern wach geblieben seid für den leisen Ton, das Wispern des lebendigen, prozesshaften Wesens eurer Zeitschrift.
Ich schicke etwas Gebackenes mit (enthält Eier, Weizen, Zucker, Mandeln, Butter). Grüßt mir die­ ­wacklige Bank, die Heckenrose und das Jelängerjelieber, diesen ausatmenden Platz, diesen geschützten.
Dorothee Jentzsch, Ahnatal

Die Kekse waren köstlich. Einige davon haben uns während einer wichtigen Oya-Besprechung mit Energie versorgt. Es war die Runde, in der wir beschlossen, die Puppe eines Schmetterlings auf unser Titelbild zu setzen. Die wacklige Bank verwittert inzwischen im Regen, das Jelängerjelieber verliert seine Blätter, aber die Rose trägt noch rote Hagebutten.

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