Contact Improvisation als Gemeinschaftswahrnehmung
Selbstorganisation lässt sich am eigenen Organismus lernen.
von Heike Pourian, erschienen in Ausgabe #43/2017
Ein sonniger Winternachmittag. Ich sitze auf einer Mauer der Nürnberger Burg, lasse die Beine baumeln, schließe die Augen und genieße zufrieden das Licht der untergehenden Sonne. »Sagen Sie, finden Sie das nicht ein bisschen gefährlich? Da braucht doch bloß irgendein Depp von hinten zu kommen!« Ich drehe mich um; da steht ein Mann vom Security-Dienst. Unter meinen Füßen ungefähr vier Meter Luft, hinter mir jede Menge Menschen – ich wäre nicht auf die Idee gekommen, einer von ihnen könne mich schubsen wollen. »Ich gehe mal davon aus, dass es keinen solchen Deppen gibt«, antworte ich. Etwas Unverständliches murmelnd, wendet er sich ab. Ich bleibe sitzen, aber etwas hat sich verändert. Der »Depp« steht jetzt als Möglichkeit hinter mir. Unwillkürlich verlagere ich meinen Schwerpunkt ein wenig nach hinten. Ich sitze nicht mehr frei zwischen Himmel und Erde. Lässt sich der Zustand von vorhin wiedererlangen? Woher könnte ich das nötige Vertrauen nehmen? Warum sieht der Mann vom Sicherheitsdienst Gefahr, wo ich keine sehe? Weil es sein Job ist – und diesen Job gibt es, weil wir Menschen uns angewöhnt haben, einander als potenzielle Bedrohung zu betrachten. An irgendeinem Punkt in unserer Entwicklung haben wir aufgehört, Gemeinschaft – also die Zugehörigkeit zu einem System, das uns unterstützt und zu dem wir beitragen – als etwas Gegebenes zu betrachten. Der Begriff »Gemeinschaftsbildung« legt Zeugnis von dieser Leerstelle, diesem Mangel ab. Auf der einen Seite mag ich das Wort. »Gemeinschaft« ist nichts Statisches; »Bildung« steht für den Prozess, das Werden und Wachsen. Auf der anderen Seite geht die Idee der Gemeinschaftsbildung davon aus, dass das Verbindende erst mühsam hergestellt werden muss. Und so fühlt es sich auch oft an: Gemeinschaftsbildung ist Arbeit; davon können alle Gemeinschaften ein Lied singen, die intentionalen wie die zufälligen. Wie wäre es, dem Wort ein Pendant, »Gemeinschaftswahrnehmung«, zur Seite zu stellen? Etwas ändert sich, wenn auch diese Grundannahme Raum bekommt: Verbundenheit ist schon da. Ich kann sie spüren, auf die Intelligenz des Ganzen vertrauen, mich entspannen und meinen Platz darin einnehmen. Alles, was ich tun muss, ist, meine Wahrnehmung für mich selbst und das Gefüge zu schulen. Das mag ein wenig blauäugig klingen. Schließlich legt die jüngere Menschheitsgeschichte Zeugnis vom fortwährenden Ringen ab, unser Zusammenleben lieber durch Kontrolle als durch Vertrauen zu regeln: Gesetze, Verträge, Normen, Regeln, Tabus, Strafen, Sanktionen, Überwachung und so weiter. Der Glaube daran, dass sich unser Miteinander mühelos organisieren könnte, ist uns abhandengekommen. Wir versuchen, alle Eventualitäten vorherzusehen, damit für jede Situation eine vorgedachte Lösung parat liegt. Wir hoffen, uns dadurch sicherer zu fühlen und jenem Chaos, das Leben heißt, nicht mehr so sehr ausgeliefert zu sein. »Die Aufgabe, die wir uns stellen sollten, ist nicht, uns sicher zu fühlen, sondern in der Lage zu sein, Unsicherheit zu tolerieren«, schlug der Sozialphilosoph Erich Fromm vor. Aber wo und wie können wir das üben? Es gibt Räume dafür. Zum Beispiel diesen hier: Eine große Turnhalle voller Leute, die sich bewegen. Zunächst ruckelt und holpert es ziemlich. Manche der Anwesenden wirken bemüht locker, andere zeigen ihre Orientierungslosigkeit. Einige sind ganz still und lauschen, wieder andere sind intensiv damit beschäftigt, ihren Körper aufzuwärmen. Menschen bewegen sich in den unterschiedlichsten Raumebenen, Geschwindigkeiten und Qualitäten, allein, zu zweit, in wechselnden Konstellationen. Es gibt keinen Plan und keine Musik, die einen Rhythmus vorgäbe, keine Choreografie. Niemand weiß, was als nächstes passieren wird, und niemand macht Ansagen, was zu tun ist. Es ist zunächst ein wildes Nebeneinander von Aktivitäten – bis sich allmählich eine Stimmigkeit einstellt und sich im Chaos Schönheit und Ordnung offenbaren. Ich stehe staunend und hellwach mitten in der Halle und spüre, dass alle am richtigen Platz sind, dass das Ganze, das ich hier bezeuge, mehr ist als die Summe seiner Teile. Ich spüre, dass alle im Raum bereit sind, sich von der Lebendigkeit der hier versammelten Menschen durchdringen zu lassen und das ganz Eigene dazu beizutragen. Ich spüre, dass hier Hunderte von Entscheidungen getroffen werden, ohne dass Gesetze, ein Mehrheitswahlrecht, Minderheitenschutz nötig wären, sondern dass sich ganz im Gegenteil das Besondere hier nur aus einer großen Freiheit und Selbstverantwortung heraus entfalten kann – in einem bewusst geschaffenen und begeistert genutzten Raum. Die Menschen in dieser Turnhalle treffen sich zu einer »Contact Jam«. Sie praktizieren jene Spielart des zeitgenössischen Tanzes, die unter dem Namen »Contact Improvisation« bekannt wurde. Bei dem Wort zucken manche zusammen, und ich habe schon verschreckte Kommentare dazu gehört: »verkappte Kuschelparty« oder »klebrige Angelegenheit«. Ich vermute, die Contact Improvisation ist häufig missverstanden worden, vor allem deshalb, weil sie mit Berührung und Intimität einhergeht. Doch der Körperkontakt hat hier nicht die sexuell aufgeladene Bedeutung, die wir ihm gemeinhin beimessen. Er ist schlichtweg Dreh- und Angelpunkt der Tänze. Wir brauchen die Berührung, um einander zu spüren, um Informationen über Richtung, Muskeltonus und Stabilität zu bekommen. Die Intimität ist Voraussetzung, einander wahrnehmen zu können – nicht nur, wie gewohnt, mit den Fernsinnen Sehen und Hören, sondern auch mit den Nahsinnen. Die Dynamik der Bewegung entsteht dadurch, dass wir unseren sicheren Standpunkt aufgeben – nicht jedoch die Verantwortung für die eigene Sicherheit –, uns zueinander hin lehnen und so statt zwei unabhängigen einen geteilten Schwerpunkt generieren. Dadurch hat jede meiner Bewegungen Auswirkungen auf den anderen – und umgekehrt. Es ist eine wunderbare Möglichkeit, den systemischen Blick auf die Welt körperlich zu erfahren. Deshalb halte ich Contact Jams für Orte politischen Lernens und Forschens. Hier können wir einen Eindruck davon gewinnen, wie ein Miteinander gelingt, das auf Wahrnehmung beruht statt auf Gesetzen – oder, besser gesagt, auf der Wahrnehmung der gegebenen Gesetzmäßigkeiten, wie Schwerkraft, Fliehkraft, Reibung, Impuls, Trägheit, statt auf menschengemachten.
Contact Jams sind Orte politischen Lernens und Forschens »Wenn diese Gesetze unsere Verfassung sind, haben wir keinen Bedarf an Gesetzgebung«, formuliert Nancy Stack Smith, tanzende Philosophin und Contacterin der ersten Stunde. Damit beschreibt sie, was wir beim Improvisieren erleben können. Dieses Erleben auf ein gesellschaftliches Miteinander zu übertragen, erfordert Mut und Visionskraft: Je mehr Verbundenheit wir körperlich erfahren können, desto weniger formale Strukturen benötigen wir als äußere Stützen. Zudem können Strukturen organischer und fließender gestaltet werden, wenn wir diese innere Haltung kultivieren. Vielleicht wirkt es ein bisschen vermessen, einem Haufen von Leuten, die in einer Turnhalle umherspringen, eine derartige Bedeutung zuzuschreiben. Bewusstseinsentwicklung und die politische Dimension sind allerdings keine im Nachhinein angedichteten Begleiteffekte dieser Bewegungs- und Begegnungskultur. »An der Contact Improvisation mitzuwirken, ist ein Bewegungsstudium durch Bewusstheit und ein Bewusstheitsstudium durch Bewegung«, konstatiert Curt Sidall, einer der Pioniere. Die Contact Improvisation entwickelte sich im Geist der künstlerisch-politischen Avantgarde der späten 1960er und frühen 1970er Jahre. Keimzelle für ihr Entstehen war der Wille, den Tanz neu zu definieren und alle Strukturen, Formate und Hierarchien radikal infrage zu stellen. Steve Paxton, ein maßgeblicher Impulsgeber für die Contact Improvisation, sprach bereits im Geburtsjahr 1972 davon, »Freiheit zu erlangen für die Individuen einer Gruppe und sie zu neuem Bewusstsein anzuregen.« Er bezeichnete sie als »eine Art Graswurzel-Arbeit am Gemeinwesen«. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer wagten den Schritt zur Improvisation, zeigten sich mit Unfertigem, im Entstehen Begriffenem. Sie trauten sich zu, Bewegung aus sich selbst heraus zu erschaffen, statt sich eine Choreografie vorschreiben zu lassen. Sie erforschten ihre Körper und die Kräfte, die auf sie wirkten; und sie übten, diesen Kräften so wenig Kontrolle wie möglich entgegenzusetzen. Bald erkannten sie, dass dieses Vertrauen in die Intelligenz des Körpers kaum planbare Bewegungen möglich machte. »Es geschieht etwas, das zu schnell ist für das Denken«, kommentiert Steve Paxton. Die ersten Performances entfachten im Publikum den Wunsch, das Gesehene selbst auszuprobieren. Seitdem hat sich die Contact Improvisation immer weiter von der Bühne weg entwickelt, hin zu einem neuen Volkstanz. Menschen treffen sich und »unternehmen den verzweifelten Versuch zu sein«, wie es mein Kollege Jörg Haßmann formuliert. »Improvisation übt sich in der Ehrlichkeit, dem Ausdruck zu verleihen, was gerade geschieht; [sie] will zeigen, was geschieht, wenn Menschen in Offenheit und Nicht-Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Mitwelt ihren Impulsen vertrauen und ihnen nachgehen.« Genau das halte ich für eine Zukunftsfertigkeit. Das gilt es zu üben, damit wir wieder begegnungsfähig werden. Wir brauchen Spielpätze für unser Genau-so-Sein. Wir brauchen Möglichkeiten, zu erleben, dass wir unser Ureigenes nicht verlieren, wenn wir uns einem größeren Zusammenhang anvertrauen. Letztlich brauchen wir diese Spielräume dringender als neue Methoden und Techniken, die so leicht in die Unmündigkeit führen können. Es ist verlockend, sich an etwas festhalten zu können und zu meinen: Jetzt weiß ich, wie es geht. Dieser Versuchung erliegen wir auch bei Contact Jams immer wieder. Manchmal scheinen alle das Gleiche zu tun, dann werden z. B. Geschmeidigkeit und Harmonie zum Dogma. Menschen sehnen sich nach Anhaltspunkten und Richtlinien; wir wollen gern dazugehören und denken oft, der einzige Weg sei die Anpassung.
Das Trennende ist zugleich das Verbindende Viele, die in der Gegenwart nach Wegen suchen, wie Menschen ihr Zusammenleben sinnvoll und befriedigend organisieren können, lassen das mechanistische Weltbild hinter sich und besinnen sich auf das Bild des Organismus. Auf dem Umschlag von Frederic Laloux’ Buch »Reinventing Organisations« – einer Analyse von Unternehmen, die andere Organisationsformen anstreben – findet sich eine Grafik, die an die Darstellung von Faszien erinnert. Faszien, das Bindegewebe – jenes Gewebe also, das die einzelnen Teile unseres Organismus umhüllt und voneinander abgrenzt und gleichzeitig miteinander verbindet. Es gibt eine Weisheit, die uns das Studium des menschlichen Organismus offenbart: Das Trennende ist zugleich das Verbindende. So ist es auch in einem Contact-Duett: Die Haut, die Hülle meines Körpers, Grenze zwischen mir und dir, ist der Schauplatz unserer Begegnung. »Begegnung findet im Raum zwischen uns statt«, schrieb der Philosoph Martin Buber. Das können wir hier ganz konkret und physisch erleben. Wenn wir von der Intelligenz organischer Systeme etwas für gesellschaftliche Zusammenhänge lernen wollen, dann ist es sinnvoll, sich den eigenen Körper zum Vorbild zu nehmen. Wir entsinnen uns, dass wir selbst ein Organismus sind, horchen und staunen, wie alles zusammenspielt, sich gegenseitig bedingt und koordiniert. Das ist Gemeinschaftswahrnehmung auf allen Ebenen: Ich bin ein System und bin Teil eines Systems, das wiederum Teil eines Systems ist. Das kann ich spüren, darauf kann ich vertrauen. Vertrauen bedeutet nicht blinde Selbstaufgabe, nicht vage Hoffnung. Ich muss nicht ahnen, ich kann spüren. Wenn ich übe, alle meine Sinne wach und offen zu halten, kann ich in Dialog mit der Welt treten. Genau deshalb ist die Contact Improvisation meinem Empfinden nach eine Praxis der Gemeinschaftswahrnehmung – ein sinnlicher, spielerischer und sehr konkreter Lernort. Gesellschaftsgestaltend aber wird dieser Ort erst dann, wenn ich zulasse, dass er über die Grenzen der Turnhalle hinaus wirkt. Dann kann ich mich auch in der U-Bahn unter Mitmenschen fühlen. Bringe ich die Bereitschaft dazu nicht auf, bleibt die Contact Jam eine Blase. Ich glaube daran, dass Strukturen dann weicher werden, wenn Menschen es wagen, berührbar zu sein. Ich vertraue darauf, dass lebendige Menschen lebendige demokratische Institutionen schaffen werden. »So können Menschen miteinander sein!«, staunte neulich ein Passant, als wir auf dem Nürnberger Hauptmarkt tanzten.
Heike Pourian (49) ist Kulturpädagogin, Tänzerin, Autorin und Wandelforscherin. 2016 veröffentlichte sie die Textsammlung »Eine berührbare Welt. Contact Improvisation als gesellschaftsbewegende Kultur« (zu beziehen über den untenstehenden Link) und war Gründungsmitglied des Vereins »contact bewegen«.