Bildung

Lebenswirbel statt Lebenslauf

Welche Geschichten erzähle ich über mich?
von Michaela Christ, erschienen in Ausgabe #43/2017
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© Pierre Lischke

Meinen letzten klassischen Lebenslauf habe ich im Jahr 2011 geschrieben, damals für Bewerbungen an der Uni und für ein Freiwilliges Soziales Jahr. Zwei Jahre später brach ich mein Studium ab und beschäftigte mich mehr mit den Dingen, die ich aus eigenem Antrieb ausleben wollte: Rapmusik, Poesie, Videos, Workshops geben. So erfüllend die Zeit seitdem war, so wenig Zählbares im traditionellen Sinn kam dabei heraus: Ich hatte weder etwas gegründet noch irgendwelche Abschlüsse vorzuweisen. Von außen betrachtet, sieht mein Lebenslauf bestimmt aus wie eine einzige Lücke, dachte ich. Dabei war ich ganz und gar nicht untätig gewesen, hatte mich mit meinen Tätigkeiten verbunden gefühlt, viele Leute erreicht und hatte das Gefühl, persönlich gewachsen zu sein und viel gelernt zu haben. Indem ich mir das bewusstmachte, hatte ich einen ersten Aha-Moment: Der Lebenslauf bildet gar nicht das ab, was mich wirklich erfüllt und ausmacht! In einem klassischen Lebenslauf wird jede Station des Lebenswegs als Bestandteil einer linearen Höherentwicklung zum »Erfolg« auf der Karriereleiter betrachtet. Das Berufsleben zählt dabei viel mehr als das sogenannte Privatleben. Als ich das erkannt hatte, fragte ich mich: Wie könnte ich stattdessen darstellen, was mein Leben lebenswert gemacht hat?

Wirbel statt Tabelle
Mir wurde bewusst, dass es nicht nur einen einzigen »­roten«, sondern zahlreiche bunte Fäden gibt, die sich durch mein Leben ziehen und in ganz konkreten Momenten sichtbar werden. Ich begann, sie aufzuzeichnen, und taufte die bunten Fäden »Lebensenergien«, die konkreten Tätigkeiten, in denen sich diese Energien wiederfinden, »Lebenswirbel«. In diesen Metaphern konnte ich ausdrücken, wer ich bin und wie ich mich als Mensch fühle: noch nicht ausgereift und in ständiger Weiterentwicklung begriffen.
Warum eignen sich gerade Wirbel dafür, das eigene Leben abzubilden? Zunächst habe ich nicht darüber nachgedacht, sondern intuitiv Kringel um besonders wichtige Ereignisse, Gespräche oder Projekte gemalt, was mich an die Form eines ­Wirbels erinnerte. Wie in einem Wasserwirbel verweben sich eben auch im Leben an bestimmten Punkten verschiedenste Kräfte. Die Wirbelbewegung steht für Lebendigkeit und emotionale Verbindung: Wo hat schon einmal etwas in mir gewirbelt und mich aufgewühlt?
Die »Energien« sind die Farbpalette der Lebenswirbel; sie bilden bei jedem Menschen andere Muster und Kraftströme, die immer wiederkehren und als resonanz- und sinnstiftend erfahren werden. »Lehren«, also Menschen etwas zu zeigen, »Performen«, also auf der Bühne vorzutragen und Spaß am Inszenieren zu haben, »Poesie« und »Empathie« gehören zum Beispiel in meinem Lebenswirbel-Bild zu diesen bunten Energiefäden.
Die Lebensenergien sind so etwas wie das Blut, das durch uns fließt. Das bedeutet auch, dass sie niemals völlig verschwinden, sondern höchstens eine Zeitlang aus dem Fokus rücken: Als ich mein Leben noch in der Form eines Lebenslaufs erzählt habe, war ich der Meinung, ich müsste Informatik studieren. Schließlich entschied ich mich dagegen und ging davon aus, dass das Programmieren in meinem Leben damit keine Rolle mehr spielen würde. Später regte sich aber doch wieder Interesse: Ich fühlte mich – intrinsisch ­motiviert – wieder zu Informatik hingezogen. Ursprünglich dachte ich noch, jedes Inter­esse müsste ich in ein Studium oder ein Zertifikat ummünzen. Mittlerweile sehe ich es so: Ich kann jederzeit auf der Energiewelle surfen, wenn sie gerade kommt – und wenn nicht, warte ich eben ab.
Um die eigenen Lebensenergien zu finden, ­genügt es meiner Erfahrung nach, sich daran zu erinnern, welche Momente und Gefühle mich besonders begeistert haben und öfter aufgetaucht sind. Dann kann ich fragen, was mir daran gefallen hat. Ich habe mich beispielsweise in einem Informatik-Praktikum schrecklich gelangweilt – aller­dings hatte ich für die Bewerbung eine eigene HTML-Seite gebastelt, was mir riesigen Spaß gemacht hatte.
Ich sage nicht, dass Lebensläufe per se schlecht sind; diese altbekannte Form, sein Leben zu erzählen, kann für einige Menschen sehr dienlich sein – es geht mir nur um Möglichkeitsfenster für andere Erzählformen. Unsere kulturellen Prägungen verhindern oft, dass sie sich öffnen.
Lebenswirbel können den Weg für einen Bildungsweg, bei dem die eigene Motivation und nicht gesellschaftliche Normen im Zentrum stehen, öffnen: Sie »heilen« nicht nur das Tabellendenken, das den Menschen schon in der Schule eingeimpft wird, sondern fördern auch ein Bewusstsein darüber, was die eigene Persönlichkeit wirklich in der Tiefe »schult«, aus welchen Lebensereignissen und Begegnungen sinnvoll Lernen und Selbsttransformation resultiert.

Der Eigensinn des Lebens
Meine Freude am Weitergeben von Erfahrungen führte dazu, dass ich begann, gelegentlich anderen Menschen das Aufzeichnen von Lebenswirbeln zu vermitteln.  Alle Beteiligten bringen dabei ihre ausgedruckten, anonymisierten Lebensläufe mit und verteilen sie zu Beginn in der Gruppe. Danach präsentiert jede Person den Lebenslauf, den sie zugeteilt bekommen hat, ohne zu wissen, um wen aus der Runde es sich handelt. Den eigenen Lebenslauf stellt also eine fremde Person vor. Dabei wird deutlich, wie willkürlich und nichtssagend solche Aufzählungen oft sind: Ich fand zum Beispiel bei einem Teilnehmer erwähnenswert, dass er einen zweiten Platz bei einem Chorwettbewerb gewonnen hatte – später berichtete er, dass er an diesem Tag krank und mental kaum anwesend gewesen sei und ihm der Preis rein gar nichts bedeute. Solche Beispiele zeigen die Absurdität der klassischen Beurteilung von Lebensstationen. Über sie zu sprechen schafft ein Forum, das Unbehagen darüber mit anderen zu teilen. Viele denken aber, sie seien damit alleine.
In der zweiten Phase eines solchen Workshops sitzen alle vor einem weißen Blatt. Wieviele bunte Fäden werden sich darauf wiederfinden? Das bleibt jeder und jedem allein überlassen.
Lebenswirbel können die Tendenz ­haben, nur positive, lebendige Momente abzubilden, und so den Anschein erwecken, das Leben bestehe nur aus erfreulichen Höhepunkten. Das wäre aber genauso geschönt wie konventionelle Lebenslauferitis. Es kann viel Kraft spenden, auch die etwas düsteren und unschönen Episoden des Lebens einfließen zu lassen – etwa Depressio­nen, Trennungen oder andere Schicksalsschläge. Für mich war es wichtig, solche Erfahrungen in meine Lebenswirbel einzubeziehen.
Eine Workshop-Teilnehmerin hat mir geschrieben, dass sie jahrelang dachte, sie sei nicht für diese Welt gemacht. Die Verwirbelung ihres Lebens habe ihr aber geholfen, ihre Erzählung über sich selbst zu ändern und für die Energien, die uns wirklich durchs Leben tragen, erheblich freier zu werden.   


Pierre Lischkes Poesie
www.pierrelischke.de/anhoeren/hoerbuch
soundcloud.com/pyeahyeah/sets/was-ich-mir-schon-immer-mal

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