Die Decrustate von Anneli Ketterer bringen die Erde, die sonst unter unseren Füßen liegt, auf Augenhöhe.von Maria König, erschienen in Ausgabe #43/2017
In einer kleinen Berliner Galerie blicke ich auf die Böden der Welt, darf den Erdreliefs an den Wänden ganz nah kommen und mit den Fingern über die vielfältigen Oberflächen streifen. Der Boden ist rot, orange, gelb, braun, schwarz, weiß, grau, einfarbig, gestreift, mit Wellen und Mustern, glatt, grobkörnig, fein, erhaben, eben. Im Licht einer kleinen Standlampe werden Anneli Ketterers Decrustate zu Erd-Licht-Objekten, die beginnen, Geschichten zu erzählen – von huschenden Mäusen, lauernden Ameisenlöwen, wandernden Antilopen und Elefanten, von Termiten, die nach einem Waldbrand den Untergrund neu besiedeln, vom Wind, der mit Grashalmen zeichnet, von Greifvögeln, die beim Beutefang mit den Flügelspitzen Spuren in den Sand tupfen. Oder sie schweigen und stehen für sich, geben in ihrer einfachen und zugleich erhabenen Schönheit Rätsel auf.
In den Weiten der Wüste Vor 17 Jahren, als sie der Kunstakademie in München den Rücken kehrte, fand Anneli in den Weiten der Namibwüste zu ihrem künstlerischen Schaffen. »Die Auseinandersetzung mit Kunst in der Akademie erschien mir oberflächlich und artifiziell. Ich wollte davon nicht geprägt werden, wollte ohne Schulungszwang herausfinden, was aus mir selbst entsteht. Die Wüste konfrontierte mich mit existenziellen Fragen: Wer bin ich? Wo stehe ich als Mensch, als Künstlerin?« Sie experimentierte mit Pigmenten aus Erde, brach die Arbeit jedoch ab, weil ihr selbst das zu künstlich erschien: »Die Wüste war erfüllt von unglaublichen, universellen Bildern. Was wollte ich da noch erschaffen?« Schließlich wurde der Wüstennebel zu ihrer Inspiration. Er legte sich nachts auf die von Wetter und Wind gestalteten Oberflächen des Bodens, ohne sie zu verändern. Am Morgen war es möglich, die nur durch Nebeltröpfchen fixierten Schollen abzuheben und zu berühren, bis die Wärme des Tags die Feuchtigkeit verdunsten ließ. Anneli begann, Böden mit Sprühkleber zu benebeln, bis aus ihnen tragbare Objekte wurden. Sie fanden ihren Weg in die Galerien der Welt. »Die Erdobjekte bewirkten bei den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellungen überall etwas Ähnliches: Begegnen die Menschen dem Boden, der sonst unter ihren Füßen ist, auf Augenhöhe, ergibt sich ein anderer Betrachtungswinkel, und sie sind ergriffen und berührt. Es entsteht etwas Mystisches, ein Zauber an der Wand. Diese Objekte brauchen keine Erklärung, jeder Mensch bekommt eine Verbindung zum Boden – er spricht eine universelle Sprache. Ich selbst betrachte mich als Trägerin, die den Boden fixiert und ihn den Menschen nahebringen kann.«
Aktiv für den Schutz des Bodens Aufklärungsarbeit über die Erosion oder die Vergiftung fruchtbarer Erde war von Anfang an mit Annelis künstlerischem Schaffen verbunden. Ihre Objekte, die nach Längen- und Breitengraden ihres Herkunftsorts benannt sind, erhalten in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen jeweils entsprechende Untertitel. So waren sie in einer Ausstellung, die sich mit dem Thema Grundbesitz beschäftigte, mit »Grundstück 1«, »Grundstück 2« etc. bezeichnet. Anneli trat dabei als Immobilienmaklerin auf. »Das Thema ›Wasser als Menschenrecht‹ wird weltweit diskutiert. Es sollte unmöglich sein, Wasser zu besitzen. Doch Boden bringen wir ganz selbstverständlich mit Eigentum in Verbindung – Staaten definieren sich über Landesgrenzen und finanzieren sich über Grundsteuern. Es gab vor drei Jahren in der EU eine Gesetzesinitiative, die den Schutz der Böden zu einer gemeinschaftlichen europäischen Aufgabe machen wollte, aber die meisten Staaten haben sie mit dem Argument, Boden sei Privateigentum und der Umgang damit dürfe nicht staatlich oder gar europaweit geregelt werden, abgelehnt«, empört sich Anneli. Inzwischen hat sie sich im Netzwerk »people4soil«, einer der größten Bürgerpetitionen in der EU, mit anderen Bodenaktivistinnen zusammengeschlossen. Die Gruppe setzt sich dafür ein, dass die Gesetzesentwürfe zum Schutz und Erhalt der Lebensquelle Boden erneut dem europäischen Parlament vorgelegt werden. Annelis neueste Arbeiten, 5 mal 5 Meter große Decrustate, sollen dabei das Bewusstsein für den Boden stärken. Aufgestellt in öffentlichen Räumen, werden sie Teil des geplanten Global Soil Festivals Berlin sein.