Gemeinschaft

Macht und Ohnmacht in Gemeinschaften

Eine persönliche Reflexion.
von Karl Giggenbach, erschienen in Ausgabe #44/2017
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Vor gut zehn Jahren lebte ich in einer großen Gemeinschaft. Zusammen nahmen wir an einem Visionskurs teil, und der Kursleiter fragte: »Wer von euch möchte denn hier Macht ausüben?« Alle, einschließlich meiner selbst, stritten ein solches Bedürfnis ab. Nach dem Kurs meinte der Leiter: »Es war einfacher, mit der nordkoreanischen Nomenklatura ein Seminar abzuhalten, als mit euch, denn die geben ihren Machthunger wenigstens zu.« (Er beriet Nordkorea tatsächlich.) Es geht in diesem Beitrag um eine der Kernfragen in Gemeinschaften: Wer trifft Entscheidungen, wer hat Macht?
Ich bin 62 Jahre alt und habe seit meinem 20. Lebens­jahr in unterschiedlichsten Gemeinschaften gelebt. Wenn ich heute mit Menschen spreche, die sich für Gemeinschaft interessieren, klingen die Motive oft ähnlich: Sie möchten Menschen nah sein, wünschen sich Freundschaft und Liebe, wollen zusammen etwas Sinnvolles tun, ehrlich kommunizieren, die Welt retten, sich selbst versorgen, ökologisch leben und so fort. Aber dann will der eine das Fenster nachts offen und der andere geschlossen ­haben. Vorhänge zu oder auf. Sex von hinten oder von vorn. Die eine kommt mit Unordnung zurecht, der andere braucht alles blitzblank. Immer mehr Menschen vermeiden solche Konflikte, indem sie als Singles leben. Ein gutes Zusammenleben setzt tatsächlich vieles vor­aus: Toleranz, Kommunikation, Ehrlichkeit, Kompromissfähigkeit, Liebe und Großzügigkeit müssen mühsam erlernt werden.
Wenn Menschen trotz dieser Hürden eine Gemeinschaft gründen, stellt sich meist recht schnell die Frage, wie und von wem Entscheidungen getroffen werden. In religiösen Gemeinschaften mit vorgegebener Hierarchie ist das klar; in Zusammenhängen mit egalitären Werten ist die Sache nicht ganz so einfach. Viele haben noch den Spruch aus den 1970er Jahren im Ohr: »Macht korrumpiert, totale Macht korrumpiert total.« Damals lehnten wir die Macht unserer Eltern, Lehrer, Priester, Politiker und des Kapitalismus komplett ab und wollten in Gemeinschaften ohne Autoritäten leben. In der anarchistischen »Regenbogenkommune«, in der ich mit 20 Jahren lebte, etablierten sich jedoch sehr schnell neue, unbewusste Machtstrukturen.
Ich landete darauf bei einer Gruppe, die erkannt hatte, dass der politische Weg nicht wirklich etwas an den Strukturen in uns selbst ändert, und sich daher auf einen spirituellen Weg begab. Mit 23 Jahren wurde ich Leiter einer Osho-Gemeinschaft bei Freising. Bei dem indischen Guru, der damals noch Bhagwan hieß, gab es eine ganz klare Hierarchie. Ein Ashram-Leiter wurde von Osho dazu auserwählt, seine Botschaft weiterzugeben. Hier wurde nicht gemeinsam entschieden. Es ging um einen ganz bestimmten Tagesablauf, um bestimmte Meditationen, Therapien und den Blick nach innen.
Anfangs wähnte ich mich noch gleichberechtigt. Ich war zusammen mit den anderen, ohne mich als etwas Besonderes zu fühlen. Auch meine Mitbewohner fühlten sich mir gleichberechtigt und teilten ihre Sorgen und Wünsche mit mir. Doch ich trug die Verantwortung, stand in der Zeitung, der Bürgermeister sprach nur mit mir. Neue Menschen, die mich nur in der herausgehobenen Position kannten, kamen in die Gemeinschaft. Mein Selbstbewusstsein nahm zu. Vielleicht, so dachte ich, kann ich manche Dinge tatsächlich besser als andere, sonst wäre ich nicht in dieser Position. Ich merkte gar nicht, dass etwas mit mir passierte. Es war letztlich die gleiche Veränderung, die Karstadt-Chef Middelhoff dazu brachte, sich am Abend mit dem Hubschrauber nach Hause fliegen zu lassen, weil er in der Firma so unabkömmlich war.
Es erfordert einen hohen Grad an Bewusstheit, um die mit Macht einhergehenden schleichenden Veränderungen in sich selbst überhaupt zu bemerken. Nach zwei Jahren hatte ich nur noch meine engsten Freunde um mich geschart, vom Rest kapselte ich mich ab; ich hatte einen besonderen Tisch, fällte immer mehr Entscheidungen alleine – bis ich merkte, dass keiner mehr sah, wer ich wirklich war. Ich war eine Rolle geworden, getrennt von den Menschen. Ja, ich meditierte und übte die gleichen Therapien und Rituale aus wie alle anderen. Ich wurde mir meiner inneren ­Themen zunehmend bewusst. Da ich aber nicht frei von Macht­streben war, schrieb ich an Osho und bat ihn, mich aus der Position zu entlassen. Freiwillig auf Macht zu verzichten, erschien mir damals als ein heroischer Schritt.
Ich ging dann nach Oregon in die größte existierende Osho-Gemeinschaft Rajneeshpuram, doch im Grund habe ich mich mit diesem Schritt um fundamentale Fragen gedrückt: Wie gehe ich mit Macht um? Wie kann ich Gleicher unter Gleichen sein? Wie kann ich tiefe Beziehungen eingehen? Was sind meine inneren Motive und Schattenseiten? Und auch: Wie kann ich zu meinen großartigen Fähigkeiten stehen, ohne abzuheben?
Drei Jahre später ging auch die Zeit in Rajneeshpuram zu Ende; Grund war wieder die Machtproblematik. Wer die Geschichte der Osho-Bewegung kennt, weiß, wie schrecklich das Abenteuer ­Oregon ausging. Die entstandenen Machtstrukturen um Oshos Sekretärin Sheela – die dann sogar ins Gefängnis musste – führten dazu, dass sich die Gemeinschaft von 4000 Menschen im Nichts auflöste. Osh­os Begründung für den Zusammenbruch war, er habe uns zeigen wollen, was passiert, wenn man Macht an jemanden abgibt, und wie man selbst Teil der Macht wird. Es war die extremste Situation, die ich jemals erlebt habe.
Als die Karawane der Osho-Jüngerinnen und -Jünger wieder zurück nach Pune in Indien zog, konnte ich mit den dort vorgefundenen Hierarchien nicht umgehen; ich wollte mir nichts mehr sagen lassen. So gründete ich in Deutschland ein Buchhaltungs- und Versicherungsbüro. 20 Jahre war ich dort der »Steuermeister«. Zahlen haben ja anscheinend immer recht, und das wusste ich für mich zu nutzen. Was den Traum von Gemeinschaft betrifft, fühlte ich mich desillusioniert. Doch seit 2002 begann wieder etwas in mir zu wachsen, was 20 Jahre zuvor scheinbar zu Ende gegangen war. Ich gründete wieder eine Gemeinschaft, mit den alten Ideen und Idealen – und abermals fanden meine Mitbewohner und ich uns am gleichen Punkt wieder. Es war zum Verzweifeln! Offenbar war ich immer noch völlig unfähig, mit den Macht-Themen umzugehen. Ich beleidigte die anderen, entschuldigte mich und wollte es »nie mehr wieder tun«. Am nächsten Tag passierte aber das gleiche. Doch nicht nur mir – allen erging es so, und alle waren unfähig, aus den eigenen Mustern auszusteigen. Da endlich entschied ich mich, in die Tiefen der Vergangenheit, zum Beginn der Muster, in die seelisch-psychischen Abgründe von Zweifel, Machtlosigkeit, Schwärze und Dunkelheit hinabzutauchen.

Dem eigenen Machthunger auf der Spur
In den ersten drei Jahren dieses Prozesses war ich damit beschäftigt herauszufinden, wie die Machtmechanismen in mir wirken: wie ich mit Menschen, Freundschaften und Machtpositionen umgehe, welche Methoden ich nutze, um meine Bedürfnisse durchzusetzen. Das war sehr schmerzhaft, denn ich hatte mir diese Strategien als Kind mühsam angeeignet, zu einer Zeit in der ich wehrlos war. Ich bin ohne Vater aufgewachsen, und meine Mutter hat immerzu gearbeitet. Auf mich allein gestellt, war es überlebenswichtig, Verantwortung zu übernehmen, die Kontrolle über mein Leben zu bewahren, mich notfalls zu wehren und mich keinesfalls aufhalten zu lassen. – So hat jeder Mensch seine inneren Muster, die – unter anderem – bei Macht­fragen zum Vorschein kommen.
Mehrere Jahre der psychischen Aufarbeitung vergingen, ohne dass eine Besserung eingetreten wäre; ich sah nur den Zustand und verzweifelte. Schließlich identifizierte ich mich sogar fast vollständig mit jenem inneren (psychischen) Anteil, der nach Macht strebt, und vergaß meine anderen Wesenszüge. Damit wurde freilich alles noch viel schlimmer. Ich hatte einen Burnout und musste die Gemeinschaft verlassen. Ja, beinahe wäre ich sogar an einer extremen allergischen Reaktion gestorben! Mit meiner Frau zog ich mich auf einen Bergbauernhof zurück.
Dennoch gab ich nicht auf, sondern wollte ­herausfinden, wer es ist, der sich da vor der Liebe versteckt, einen Panzer um sich baut, Platitüden von sich gibt, arrogant ist und seine besten Freunde lächerlich macht. Nur langsam bin ich an dieses »Ich« herangekommen. Heute vermag ich auch den Menschen in mir zu sehen, der großzügig, weise, gütig ist, der lieben kann, der sich entschuldigt, wenn er verletzt – und der auch mal auf den Tisch haut, wenn es sein muss. Mir ist nun klar, dass ich wirklich etwas zu geben habe, aber ich muss mich deswegen nicht überheblich fühlen.
Ich war in hohen Positionen und weiß, wie sich das anfühlt. Ich wollte etwas Gutes, war aber in meinen Machtspielen ­gefangen. Ich glaube heute zu wissen, dass all die angeblich bescheuerten Politiker ursprünglich auch Gutes wollen. Ich weiß, durch was ich gegangen bin, und deshalb bin ich den Menschen in Führungspositionen sehr dankbar. Ich kann ihnen ihre Fehler und Schwächen fast eher nachsehen als denen, die zu Hause sitzen, schlau daherreden, Politiker-, Banken- und Reichenschelte betreiben – und es doch selbst nicht besser könnten. Letztere haben oft nicht einmal den Mut dazu, aufzustehen und Verantwortung zu übernehmen. Wie wärst du, wenn du zu Macht kämst? Drückst du dich vor Verantwortung, indem du das kleine Würstchen spielst, das nichts kann, oder den schlauen, ohn-mächtigen Weltverbesserer?
Aus meinen ge-macht-en Erfahrungen heraus glaube ich, dass wir in Gemeinschaften und auch in der Gesellschaft ein System von kontrollierter Macht brauchen, eine Mischung aus guter Führung und breiter Beteiligung. Weil Menschen fehlbar und verführbar sind durch Macht – aber auch durch Passivität und Ohnmacht –, wurden Demokratie und Gewaltenteilung erfunden. Diese sollen den Diktator vermeiden, der in so vielen von uns schlummert; sie sollen die Macht im Zaum halten, die Stärken von Entscheidungskraft als Dienst an der Gemeinschaft nutzen und alle Menschen einbeziehen, indem sie letztlich die Kontrolle ausüben.
Was hat das alles mit Gemeinschaft zu tun? Hätten wir alle das Bewusstsein von Heiligen, so wäre das Zusammenleben möglicherweise eine schöne Sache. Weil es so aber wohl nie sein wird, stellt sich die Frage, wie wir mit unseren Licht- und Schattenseiten umgehen. Wer sich einer Gemeinschaft anschließt, hat einen guten Willen und hehre Ziele. Doch der Tag, an dem die Emotionen hochkochen, an dem unsere Kindheitsdramen hervorkriechen, kommt oft schnell!
Viele Gemeinschaften entscheiden nach dem Konsensprinzip. Theoretisch ist das eine tolle Sache. Allerdings führt sie meiner Erfahrung nach in der Praxis immer wieder zu Diskussionen, Verletzungen und Machtkämpfen. Natürlich weiß ich nicht, was in einzelnen Gemeinschaften abläuft. Doch kann ich sagen, dass die Machtmechanismen, die in uns schlummern, in der menschlichen Natur liegen und dass hierüber eine große Unwissenheit besteht. In den zahlreichen mir bekannten Gemeinschaften gibt es damit einhergehende Konflikte. Mit Methoden wie dem »Forum«, »Community Building«, Aufstellungen usw. wird häufig versucht, die persönlichen Verletzungen zu bearbeiten. Für viele Menschen ist das ein Weg für inneres Wachstum und ein Weg, der tiefe Begegnungen ermöglicht. Für meinen Geschmack blieb bei solchen basisdemokratischen Methoden indes zu wenig Zeit für Liebe, Meditation, Freundschaft, Zusammensein, Stille, Losgelassenheit und Freundlichkeit.

Beziehungen intensivieren
Dies führt mich zu der Frage, ob ich für einen gemeinschaftlichen Weg überhaupt eine »alternative« Gemeinschaft brauche. Wäre es vielleicht erfolgversprechender, die Kraft unserer Ideen in die bestehende lokale Gemeinde, in unser konventionelles Umfeld einzubringen?
Ich wohne in einem kleinen Dorf mit ganz durchschnittlichen Menschen, zu denen ich ein freundliches Verhältnis habe; manche liebe ich sogar. Das ist vielleicht nur deshalb möglich, weil ich ihre dunklen Seiten nicht kenne und sie nicht die meinen. Wir wahren Abstand zueinander, denn das meiste in unserem Leben können wir autonom entscheiden. Es ist nicht das Paradies, aber ich kann meditieren, Yoga machen, in die Berge gucken oder mich vor Ort engagieren. – Was will ich mehr? War es das schon? Könnten wir diesen gesunden Abstand, der in gewachsenen Gemeinden herrscht, auch in unseren intentionalen Gemeinschaften pflegen?
Mit wem immer ich auch rede – viele scheinen nach wie vor von einer Art intensiverer Gemeinschaft zu träumen. Sie ­vermissen in dieser Welt den tieferen Kontakt mit Freunden, Partnern und Menschen drum herum. Tatsächlich haben wir es jedoch alle in der Hand, tiefer in uns selbst zu fühlen und intimer zu kommunizieren! Laut über die eigenen Gefühle, Stärken, Schwächen und Vorbehalte zu sprechen, führt in eine große Unsicherheit. Das Schöne ist, dass diese Unsicherheit augenblicklich eine große Tiefe in die Beziehung mit anderen Menschen bringt. Wer dies jedoch nicht in seinem bisherigen Alltag tut und sich nicht in Empathie gegenüber anderen Menschen übt, wird auch nicht die erträumte Gemeinschaft finden. Wenn wir die Beziehungen in unserem Leben bewusst gestalten, ist es im Grund egal, mit wem und wo wir kommunizieren.
Wann immer wir mit anderen zusammenkommen, sind wir herausgefordert, mit der Frage der Macht umzugehen. Das geht meiner Ansicht nach nur, indem wir tief in unser Wesen schauen und uns mit den nackten Tatsachen konfrontieren. Dann ist es nicht mehr nötig, an alten Glaubenssätzen festzuhalten, die früher einmal geholfen haben, zu überleben und ein wenig Liebe zu bekommen. Dann wird es möglich, die Kontrolle loszulassen, ohne Angst davor zu haben, überrannt zu werden, allein dazustehen und seelisch zu verhungern. Mit dieser inneren Haltung können wir Macht kontrolliert zulassen und müssen sie nicht fürchten. Das ist meine Erfahrung – die Erkenntnis eines schmerzhaften Wegs im Umgang mit meiner eigenen Macht und Ohnmacht. \ \ \

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