Titelthema

Anastasia – die Macht eines Phantoms

Die Roman-Reihe des russischen Fantasy-Autors Wladimir Megre bringt eine Siedlungs-Bewegung mit bedenklichen Tendenzen hervor.von Lara Mallien, Anja Humburg, Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #45/2017
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© Arsen Kljan

Warum wir uns mit Anastasia beschäftigen
Im Sommer wurde der Wunsch an die Oya-Redaktion herangetragen, das Anastasia-Festival, das in diesem Jahr auf dem Gelände der Gemeinschaft »Windberg« in Nordthüringen stattfand, in den Nachrichten anzukündigen. Anastasia – so heißt die Heldin einer Roman-Reihe des russischen Autors Wladimir Megre. Uns war bekannt, dass die Bücher eine Bewegung angestoßen haben, die dazu aufruft, »Familienlandsitze« zu gründen: Jede Familie solle einen Hektar Land bepflanzen, dort wohnen und sich davon ernähren. Seltsamerweise schien in der Bewegung die Meinung verbreitet, Anastasia sei eine reale Person, die in der Taiga lebe, mit Tieren und Pflanzen sprechen könne und über heilerische und hellsichtige ­Fähigkeiten verfüge. Irritierend war zudem, dass die Geschichte die ­Existenz eines alten Volks der »Wedrussen« propagiert.
Es hatte zuvor keinen Anlass gegeben, sich näher mit dem Anastasia-Phänomen zu beschäftigen; doch nun mussten wir auf die Anfrage reagieren. Wie sich leicht recherchieren lässt, wird die »Wedrussen«-Fiktion von Leuten herangezogen, die sich zum Beispiel »König von Preußen« nennen, Reichsbürger-Thesen vertreten und nebenbei Anastasia-Zedernholz-Produkte verkaufen. Protagonisten der Anastasia-Szene treten in dem rechtsesoterischen ­Online-Magazin »Neuzeit« auf, wo unter anderem gegen Flüchtlinge gehetzt wird und von der »jüdischen Weltverschwörung« die Rede ist. Um niemandem Unrecht zu tun, fragten wir uns, ob es sich dabei um einige Wenige handeln könnte, die eine Szene, in der die meisten Leute womöglich eher unpolitisch sind und sich vor allem ein schönes Landleben wünschen, in Misskredit bringen. Oder sind in diesen Kreisen völkisches Denken und krude Verschwörungsideologien Normalität? – Wir fanden in der Szene nirgendwo eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Aussagen, und damit war klar, dass es keine Ankündigung in Oya geben würde. Zwar kam es dann zu einer Terminkalender-Buchung durch die Veranstaltenden. Doch einen solchen Eintrag würden wir nach dem heutigen Stand unseres Wissens nicht mehr akzeptieren. Oya ist kein Forum für Projekte oder Bewegungen, in denen menschenverachtende Gedanken geäußert werden!
Warum wir uns auf den folgenden Seiten dennoch dem Anastasia-Phänomen widmen, hat einen guten Grund: Das Festival fand nicht irgendwo statt, sondern auf dem Gelände eines jungen Gemeinschaftsprojekts, das sich in die Szene der Ökodörfer und Lebensgemeinschaften, über die Oya regelmäßig berichtet, einbringt. Auch wenn der »Windberg« nicht selbst Veranstalter war, sondern lediglich den Raum zur Verfügung stellte, entstand dadurch offen­sichtlich eine Nähe zwischen der Anastasia- und der ­Gemeinschafts-Bewegung. Da wir uns mit Letzterer verbunden fühlen, erschien es uns unerlässlich, genauer hinzuschauen und die Auseinandersetzung auch als Möglichkeit zur Selbstkritik zu nutzen. Wir entschieden, dass wenigstens ein Mitglied aus dem Oya-Redaktionskreis das Festival besuchen würde und einige von uns die mittlerweile zehn Anastasia-Bände lesen sollten.
Unsere Beschäftigung mit dem Anastasia-Phänomen – die ­Lektüre der Bücher, Gespräche mit Anastasia-Gläubigen, Interviews im Vorfeld des Festivals mit dem Veranstaltungsteam, ­Diskussio­nen im Redaktionsteam, Eindrücke vom Festival selbst und ­Gespräche mit der Gemeinschaft Windberg – sorgte für Ratlosigkeit, Traurigkeit und Zorn. Wir dokumentieren sie hier zumindest fragmentarisch in der Hoffnung, damit einen sinnvollen Beitrag zu Gesprächen mit Menschen zu leisten, bei denen das Anastasia-­Phänomen Fragen aufwirft.

Die heile Welt
Es ist für mich einfach, die Anastasia-Bücher in der Nachbarschaft auszuleihen. Was fasziniert Menschen in meinem Umfeld daran? Anastasia erzählt von einer heilen Welt. Sie lebt im Wald unter alten Zedern, badet in glasklarem Wasser und wird von den Tieren mit Nahrung versorgt. Sie sagt, alle Menschen könnten so sein wie sie, wenn sie sich nur vom Unheil der technokratischen Welt befreien würden. Der Weg zu Glück und Frieden sei einfach: Jede Familie solle einen Hektar Land bekommen, um dort im Einklang mit dem Kosmos beim Gärtnern wieder zur wahren Natur des Menschen zurückzufinden. Dann würde die Erde wieder ein Paradies wie zur Zeit der »Wedrussen«, die als das erste Volk der Erde über Jahrhunderttausende gelebt hätten.
Ich fragte zwei junge Aktive der Anastasia-Szene, was ihnen an den Büchern am wichtigsten sei. »Die geniale Idee der Landsitze spricht mich an«, antwortet einer von ihnen. »Dass ich selbst etwas tun kann, was mich in meine Verantwortung bringt, etwas für die Welt beizutragen. Landsitze sind eine Lösung für die ganzen Probleme in der Welt. Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung oder De-Regionalisierung – alles könnte durch die Landsitze ganz einfach gelöst werden. Ich kann damit anfangen und muss nicht auf eine Politik warten.«
Sich vom eigenen Land selbst ernähren zu können, in einer glücklichen Beziehung die Kinder in einem gesunden Umfeld aufwachsen zu sehen und dabei zu Frieden in der Welt beizutragen – darin würden wohl viele Oya-Leserinnen und Leser ihre Sehnsucht nach gutem Leben wiederfinden. Die Anastasia-Bücher geben genau dieser Sehnsucht eine Identifikationsfigur, deshalb ist wohl in ihrer Leserschaft der Glaube so verbreitet, dass Anastasia real sei. Zwar beteuerte der Autor in einem Plagiatsstreit vor Gericht, die ­Figur sei frei erfunden, doch nährt er bis heute die Illusion, es handle sich um eine existierende Person. (LM)

Heilslehren sind totalitär
Warum, so wurden wir gefragt, sei die Vision der Familienlandsitze nicht längst in der Rubrik »Kraft der Vision« in Oya erschienen?
Oya veröffentlicht keine Ansätze, die in ihrer Struktur Züge einer Heilslehre tragen. Die Anastasia-Bücher machen unmissverständlich klar, dass ihre Hauptfigur nicht nur die Quelle der Wahrheit sei, sondern dass sie die Menschheit aus dem Dunkel ins Licht führen werde. Tatsächlich soll es um nichts Geringeres gehen als die »Erlösung« der Menschheit. Im siebten Band ist explizit von Ana­stasias »erlösender Heldentat« die Rede: Sie habe Gott mitgeteilt, die Menschheit benötige seine Hilfe nun nicht mehr, sondern würde lernen, auf ihre eigenen Kräfte zu vertrauen. Die Familienlandsitze und die fantastischen Fähigkeiten jedes Einzelnen, die mit einer solchen Lebensweise einhergehen sollen, seien »die« ­Lösung schlechthin. Ein solcher Heilsanspruch, den Ausweg für alle Probleme gefunden zu haben, wird aber der Komplexität der Welt nicht gerecht und hat stets einen totalitären Zug. Die Weltsozial­foren – in denen sich globalisierungskritische Gruppen weltweit in den 2000er Jahren trafen – wussten das, die Erfahrung des gescheiterten »real existierenden Sozialismus« noch frisch im Kopf, sehr gut. »Ein Nein, viele Jas«, war ihre Losung – also ein gemeinsames Nein zur Megamaschine und viele, unübersehbar viele Jas, die sich gegenseitig respektieren und anerkennen.
Dass die Anastasia-Vision ihren eigenen Absolutheitsanspruch relativieren würde, ist bisher nicht zu erkennen. (AV/LM)

Das Feindbild
Wer erst einmal für eine Idee Feuer gefangen hat, ist offenbar ­bereit, vieles hinzunehmen, was man sonst rundherum ablehnen würde. Frage ich Anastasia-Leserinnen und -Leser, ob sie ein Feindbild hätten, antworten sie selbstverständlich mit »Nein«. Dennoch scheinen sie kein Problem damit zu haben, dass in den Büchern ein klares Bild vom »Bösen« gezeichnet wird. Gut-Böse-Dualismen sind der Nährboden, auf dem Feindbilder entstehen. »Die technokratische Zivilisation«, ja die gesamte Gesellschaftsordnung der Gegenwart sei vom Bösen völlig durchdrungen und müsse deshalb abgelehnt werden, heißt es in den Anastasia-Büchern. Man müsse sich von all diesen Verschmutzungen reinigen, und Anastasia werde dafür sorgen: »Ich werde die Menschheit aus dem Zeitalter der Dunkelmächte entrücken.«
In Band 6 wird in Anastasias Ausführungen über »Wedismus« erläutert, wer die »Dunkelmächte« sind. Am Ende des 990 000 Jahre andauernden Zeitalters der Weden gerät in sechs Menschen die kosmische Harmonie aus der Balance, wodurch das Böse erwacht. Diese sechs Menschen beschließen, als Priester die Weltherrschaft zu erlangen. Einer ist der »Oberpriester«; er versucht sich erst an der Infiltrierung der ägyptischen Pharaonen und geht dann zum Volk der Juden, das er auf dem Marsch in die Wüste zu seinen »biologischen Soldaten« »umprogrammiert«.
Warum, frage ich mich, werfen nicht sämtliche Leserinnen und Leser an dieser Stelle ihre Anastasia-Bücher umgehend in den nächsten Papiercontainer?
Das tun sie erstaunlicherweise nicht. Sie kommen irgendwie damit zurecht, dass sämtliche Judenverfolgungen der vergangenen Jahrhunderte aufgelistet werden und darauf dieser Absatz folgt:
»Da das schon mehr als ein Jahrtausend geschieht, kann man den Schluss ziehen, dass das jüdische Volk vor den Menschen Schuld hat. Aber worin besteht die Schuld? Die Historiker, die alten wie die neuen, sprechen davon, dass sie Verschwörungen gegen die Macht anzetteln. Sie versuchten alle zu betrügen, vom jungen bis zum alten. Von einem, der nicht sehr reich sei, versuchten sie wenigstens etwas wegzunehmen, und bei einem Reichen seien sie bestrebt, ihn ganz und gar zu ruinieren. Das bestärkt die Tatsache, dass viele Juden wohlhabend sind und sogar auf die Regierung Einfluss nehmen können.«
Ich spreche Anastasia-Leserinnen und Leser auf diese Passage an, und höre Abwiegelungen: Das sei im russischen Original vielleicht ganz anders gemeint; das müsse man im Kontext verstehen; das mit dem Oberpriester sei doch nur eine Metapher; das Ganze sei ja schließlich ein Märchen; man müsse doch erstmal weiterlesen; Anastasia spreche ja im Konjunktiv – es »kann« so sein, dass das jüdische Volk …
Für mich ist die rote Linie längst überschritten: Allein die Vorstellung, es »könnte« so sein, dass eine ganze Gruppe von Menschen negativ programmiert wäre und dies Morde rechtfertige oder auch nur erkläre, ist als menschenverachtendes, grausames Denkmuster inakzeptabel. Die Anastasia-Bücher rufen nicht zu Volksverhetzung auf, aber sie zeichnen ein Bild des »Bösen«, und so ist es kein Wunder, dass sich Menschen, die an eine jüdische Weltverschwörung und ähnliches glauben, sich von den Büchern bestätigt fühlen. (LM)

Ist in der Bewegung Selbstkritik zu finden? 
Aktuell gibt es in Deutschland zwölf »Familienlandsitze« im Sinn der Anastasia-Idee. Auch in Holland, der Schweiz, Österreich, Tschechien und Italien existieren mittlerweile solche Siedlungen. In Russland sollen es über 300 sein, Tendenz steigend. Mitglieder der russischen Landsitz-Bewegung besuchten das jüngste internatio­nale Treffen des Global Ecovillage Network (GEN), des Netzwerks von Ökodörfern weltweit.
Über 500 Menschen kamen Anfang September zum 4. Anasta­­sia-Festival auf dem Gelände der Windberg-Gemeinschaft zusam­men. Ich war dort die einzige Journalistin. Eine Anfrage des Bayerischen Rundfunks, der im Sommer negativ über Anastasia berichtet hatte und der Szene rechte Züge zuordnete, war abgelehnt worden. Vor Ort erlebte ich vor allem viele junge Menschen, die sich zum Teil emotional stark mit der Anastasia-Figur identifizierten. Einige skizzierten Pläne für ihren eigenen Landsitz. Das Erntedank-Ritual auf der Festwiese stiftete gemeinsame Identität. Viele begeg­neten sich hier zum ersten Mal; die Szene ist erst jung, aber sie beginnt, sich zu organisieren – und sie wächst. Eine typische Bewegung ist sie jedoch nicht. Bislang war sie nur wenig in der Öffentlichkeit präsent.
Die Workshop-Themen auf dem Festival reichten von Schamanismus, »Mann und Frau als Uranfänge der Schöpfung«, Geomantie oder »neuen russischen Heilungstechnologien« über Volkstanz, Mähen mit der Sense und Obstbaumschnitt bis hin zu Freilernen sowie der Lerntechnik »Lais« und der Vorstellung von Landsitz-Projekten. Ich besuchte Vorträge, Workshops und Konzerte und führte zahlreiche Gespräche mit Referenten, Teilnehmenden und für die Organisation Verantwortlichen. Obwohl die Anastasia-Szene in Analysen und Studien kritisiert wird, gab es im Programm keine einzige Veranstaltung etwa zu »Anastasia und rechts«, um diese Kritik aufzunehmen, miteinander zu besprechen und einen gemeinsamen Umgang damit zu suchen. Eine Frau, die eine Kunstperformance anbot, bei der sie sich teilweise mit nackter Brust zeigte, wurde schon im Vorfeld als »sexistisch« kritisiert, die wiederholte Bezeichnung von Frauen als »Weib« fand auf dem Festival jedoch stillschweigende Zustimmung.
Stattdessen erlebte ich, wie einer Frau, die in einem Workshop Kritik an Aussagen des Referenten und der Teilnehmenden äußerte, massiv und aggressiv entgegnet wurde. Auf kritische Äußerungen zu den Büchern der Anastasia-Reihe erhielt ich eine sich wiederholende Antwort aus verschiedenen Mündern: »Du musst die Bücher ja nicht eins zu eins umsetzen. Es geht um die grundsätzliche Idee.« Aspekte und Teile aus den Büchern auszublenden – oder sie gar nicht zu kennen – scheint gerade unter neueren Anhängerinnen und Anhängern verbreitet zu sein. (AH)

Abgrenzung? Dialog?
Unter anderem angestoßen durch die Internetseiten mit völkischen Inhalten aus der Szene entspann sich in der Windberg-Gemeinschaft eine intensive Diskussion darüber, ob es alle würden mittragen können, an ihrem Ort ein Anastasia-Festival stattfinden zu lassen. Die Gemeinschaft kam mit den Veranstaltern überein, alle Vortragenden und Workshop-Leitenden auf die Windberg-Hausordnung zu verpflichten, dernach an diesem Ort keine rassistischen, homophoben, sexistischen, verfassungsfeindlichen oder demokratiefeindlichen Inhalte geäußert werden dürfen.
Julius Kubisch und Dorothea Baumert aus dem Veranstaltungs-Team, mit denen ich vor dem Festival telefonierte, sehen die Anastasia-Szene als im Wesentlichen unpolitisch und ärgern sich über den »Unsinn«, der an einigen Orten im Netz zu lesen ist. »Die sind laut und werden gesehen – und eben nicht die ganz normalen Familien, die nur einen Landsitz gründen wollen«, beklagt sich Dorothea. Julius erklärt: »Bei denen, die als bedenklich wahrgenommen werden, vertreten wohl einige tatsächlich nationalsozialistische Ansichten. Die übrigen werden meiner Meinung nach vorschnell rechts eingeordnet, weil sie sich mit den alten Kulturen und Bräuchen beschäftigen. Diejenigen, die rechte Parolen von sich geben, haben wir ausgeladen. Es gab auch Teilnehmer, von denen wir uns distanzieren mussten.«
Dorothea ergänzt: »Man kann jeden Menschen verurteilen und nicht mehr mit ihm reden, aber das bringt gar nichts. In der Bewegung ist es sehr kontrovers, da gibt es viele Menschen, die sprechen Dinge aus, wo ich sage, das ist nicht mein Weltbild – aber gerade da möchte ich tolerant sein. Meine Überzeugung ist die, dass die höchste Toleranz diejenige gegenüber Intoleranz ist.«
Einerseits ist es erfreulich, dass Abgrenzung für die Gemeinschaft Windberg ebenso wie für die Veranstalter zumindest ein Thema war. Aber wenn Toleranz gegenüber den Intoleranten gefordert wird, gerät man in einen Graubereich. Wo sollen dann noch Grenzen gezogen werden?
Frank Willy Ludwig, der sein Projekt »Urahnenerbe Germania« nennt, wurde trotz zahlreicher Gespräche mit dem Veranstaltungsteam im Vorfeld nicht ausgeladen, sondern hat auf dem Anastasia-Festival eine Reihe von Workshops gegeben. Er betreibt nicht nur die Seite www.familienlandsitz.com sondern auch ­
www.slawischarischeweden.de sowie www.urahnenerbe.de. Auf letzterer beschreibt er seinen »Auftrag« wie folgt: »Arisches Wissen in den Stämmen erwecken, Reinigung von Mensch und Raum.« Als slawische Quellen seines Projekts gibt er unter anderen Anastasia an. Seine einzige Abgrenzung gegenüber dem Nationalsozialismus lautet »Hier sollte es keine Verwechslungen mit uns geben, weil wir eher wissenschaftlich als politisch wirken wollen«, nachdem er als Vorläufer die vom Reichsführer SS Heinrich Himmler 1935 gegründete »Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e. V.« nennt.
Anja Humburg, als Oya-Redaktionsmitglied auf dem Festival unterwegs, besuchte seinen Workshop über »Heil und Gesundheit von Körper, Geist und Seele« und war ob der kruden ­Inhalte sprachlos. Julius Kubisch, der den Vortrag selbst nicht hören konnte, bedauerte anschließend, dass sie ihn nicht angesprochen hatte; es sei doch wichtig, in persönlichen Kontakt zu gehen, wenn man sich ein Bild machen wolle. Für ihn sei Frank Willy Ludwig ein »schwierig einzuordnender Fall«. Julius schreibt: »Ich nehme in seiner Meinung Urteile und Überzeugungen wahr, die ich nicht teile. Einige unkonkrete Aussagen (wie: er wolle die Welt aufräumen) lassen bei mir Warnlampen angehen, aber für mich reicht es nicht aus, einen Menschen aufgrund meiner Warnlampen zu verurteilen. Einen gefährlich rassistischen oder feindseligen Hintergrund kann ich bisher bei Frank Willy nicht erkennen. Ich werde ihn aber nochmal auf einige Aussagen hin ansprechen.«
Die Haltung »nicht verurteilen, erst einmal in Dialog gehen« überwog auch bei der Windberg-Gemeinschaft: »Wir wollen keine Menschen verurteilen, nur weil irgendjemand dieses und jenes gesagt hat«, meint eine Mitbegründerin des Windbergs. »Einige Veranstaltungen auf dem Festival machen mir Bauchschmerzen. Gleichzeitig merke ich, dass ich voller Vorurteile bin. Ich merke, wie schwer es ist, nicht eine ganze Szene zu verurteilen und trotzdem gegenüber Positionen einzelner Vertreter differenziert und kritisch zu sein. Es ist herausfordernd und ein Lernprozess, offen zu sein und gleichzeitig den Ruf des Windbergs zu schützen.«
Peter Ryser – im Vorstand des Vereins »Am Windberg« – meinte während des Festivals: »Die meisten der Besucher hier haben gute Absichten und wünschen sich ein schönes, naturverbundenes Leben. Daran ist zunächst nichts auszusetzten. Leider scheinen in einem Teil der Szene Ideen und Ansichten zu kreisen, die ich für bedenklich und einigen Punkten sogar für gefährlich halte.«
Es ist fatal, wenn vor lauter Verstehenwollen kein Raum für kritische Auseinandersetzungen entsteht, zumal wenn schon bei einigen Gemeinschaftsmitgliedern massive Bedenken vorhanden waren. Wer eine Veranstaltung organisiert oder ihr das Gelände zur Verfügung stellt, bezieht damit auch öffentlich Position.
Im Nachhinein bezeichnete es Peter Ryser als schweren Fehler, Frank Willy Ludwig eine Bühne gegeben zu haben. Er schreibt: »Wir haben einiges über den Umgang mit politisch heiklen Situationen als Seminarplatz gelernt und werden in Zukunft Referenten wie Fank Willy Ludwig auf keinen Fall mehr tolerieren. Wir möchten nicht, dass solche Ansichten hier auf dem Windberg verbreitet werden.« (LM)

Rechtes Gedankengut, beiläufig eingestreut
Ich sitze in einem Workshop auf dem Anastasia-Festival, in dem ein Landsitz-Mitbegründer einen neuen Text für die Deutsche Natio­nalhymne vorstellt. »Deutschland, Deutschland meine Heimat, meine Heimat in der Welt«, so fängt es an. In der zweiten Strophe heißt es: »Einst geblendet, tief gespalten und besetzt von fremder Macht, auferstanden Dank des Alten, aufgebaut und aufgewacht.« Die meisten Teilnehmenden singen mit dem Verfasser dieses Lied, stehen auf, einige beginnen zu weinen. Offenbar niemandem außer mir und einer anderen Teilnehmerin stößt der darin versteckte Geschichtsrevisionismus bitter auf. Mein E-Mail-Austausch mit dem Referenten des Hymnen-Workshops im Nachgang verdeutlicht, dass es ihm darum geht, »die« deutsche Kultur vor dem Verschwinden zu bewahren.
Viele weitere Festival-Fragmente lassen mich immer mehr entsetzt verstummen: Ein Mann unter den Teilnehmenden des Hymnen-Workshops trägt ein rundes Hakenkreuz als Amulett um den Hals. Ein anderer sagt beiläufig: »Wir haben den Krieg nicht angefangen«, und bezieht sich offensichtlich auf den Zweiten Weltkrieg. In einem weiteren Workshop vergleicht ein Referent die Kulturen der Welt mit einem Tuschkasten, der voll leuchtender Farben sei, solange man nicht alle miteinander vermische – schwerwiegende Botschaften, eingewoben in Ansätze, ein einfaches und glückliches Leben auf dem Lande zu leben. Es scheint offensichtlich, dass der Rückbezug auf vermeintliche kulturelle Wurzeln wie die »wedischen Ahnen« zu einem engen, völkischen Denken führt.
Wie damit umgehen? Die Polizei rufen? Den Verfassungsschutz aufmerksam machen? Ins Gespräch miteinander gehen? Nicht darüber schreiben? Auch wenn sich jemand noch nicht mit Anti-Rassismus-Arbeit beschäftigt hat, vermitteln diese Situationen eindeutig, dass hier etwas nicht stimmt.
Wenn jemand die »Reinheit« von Kulturen im Sinn von Abgrenzung einfordert, Frieden als »Einfriedung« versteht, müssen doch Alarmlampen aufleuchten und Diskussionen beginnen – aber das ist nicht der Fall. Ich fühle mich außerstande, selbst solche zu initiieren. Einer Teilnehmerin, die am Schluss eines Workshops ihr Unwohlsein äußert, entgegnen andere Teilnehmende sofort lautstark. Dann endet der Workshop, alles bleibt so stehen. Mir scheint, dass auf dem Festival sowohl das historische Bewusstsein als auch die Werkzeuge für eine selbstkritische Auseinandersetzung völlig fehlen. Auf anderen Festivals gibt es Teams, die jeden Tag Runden im Plenum einberufen, um auf Konflikte, die alle betreffen, vor und mit allen öffentlich einzugehen. All das fehlt hier. (AH)

Landsitze
Der Kern der Anastasia-Bewegung sei die Idee der Landsitze, wurde uns von vielen Fans der Megre-Romane gesagt. Dies sei doch auf jeden Fall etwas Gutes – warum hätten wir darüber nicht längst in Oya ausführlich berichtet?
Zum einen ist es uns unmöglich, das Landsitz-Konzept ohne den Megre’schen Fantasy-Kontext vorzustellen, zum anderen erschien uns die Vorstellung, Siedlungen als Aneinanderreihung von ­jeweils einen Hektar großen Gärten mit Familien-Eigenheim und Hecke drumherum zu gestalten, arg schematisch und sogar kon­trär zu den Haltungen zu sein, die wir in den vergangenen Jahren in Oya als enkeltauglich beschrieben haben. In den Büchern wird Wert darauf gelegt, dass den Familien das Land gehören soll. Die indische Gemeinschafts-Stadt Auroville wird als Negativbeispiel herangezogen – dort würde das Zusammenleben nicht funktionieren, weil die Menschen eben kein Eigentum hätten.
Felix Krauß vom Landsitz »Weda Elysia« im Harz erklärt, wie eng die Land-Familien-Beziehung tatsächlich gedacht wird: »Für mich gehört die Erde Gott bzw. sich selbst. Erst, wenn ein Mensch einen starken Bezug zu einem kleinen Stück davon hat, beginnt dieses Stückchen, also vor allem die Tiere und Pflanzen, die darauf leben, auf diesen Menschen zu reagieren. Sie ›hören‹ auf ihn. Auch bei den Weden war die Bindung zwischen einer Sippe und ihrem Landstück so stark, dass Fremde, welche die Früchte stehlen wollten, diese nicht genießen konnten. Dieses Stück Land konnte nicht einfach jemand anderes nutzen. Freunden gegenüber war der Landsitz aber wohlgesonnen, und gerne wurden die Früchte geschenkt oder mit den Nachbarn getauscht.
Es ist wichtig, dass Land weitervererbt wird. Wir wollen dennoch, dass strukturell deutlich wird, dass kein Land auf ewig einem Menschen oder seiner Familie gehören kann, sondern es letztlich allen Menschen dient. Das Land kann daher z. B. einer Stiftung gehören, die es dann für Siedler bereitstellt, zumindest so lange, bis die Notwendigkeit von ›Eigentum‹ in unserem Staat nicht mehr besteht. Wir wollen das Land freikaufen! Jeder Siedler erhält dann das ›notariell beglaubigte Gestaltungsrecht‹. Das ist besser als Privateigentum, denn damit kann man heute faktisch alles tun, was man will: Gift einleiten, Tiere töten oder Maschendrahtzaun ziehen. Deswegen gibt es auch die Vorgaben, dass ein bis zwei Drittel Wald angepflanzt und Wasserretentionsflächen angelegt werden sollen, damit Überflutung und Dürre, langfristig sogar extrem kalte Winter und heiße Sommer vermieden werden. Jeder Landsitz soll zum Großteil mit Bäumen bepflanzt werden, die teilweise auch uralt werden dürfen. Wenn das nicht nachhaltig, solidarisch und weitsichtig ist, weiß ich auch nicht. Jeder Mensch sollte ein Recht auf ein Stück Erde haben, denn er braucht es zum Überleben.«
Auch in Oya wird die herrschende Eigentumslogik kritisch hinterfragt. Dies ist aber kein Resultat religiöser oder hierarchischer Weltbilder. Vielmehr steht hinter dieser Haltung die Erkenntnis, dass alle Lebewesen – so verschiedenartig sie auch sein mögen – durch Gleichwürdigkeit verbunden sind. Diese Erkenntnis, die etwa in Albert Schweitzers Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben« anklingt, kommt in der Praxis des »Commoning« oder »Gemeinschaffens«, des Hütens und Pflegnutzens von Allmenden, zum Ausdruck.
Allmenden prägen je nach Kontext eine eigene Gestalt aus, sie entwickeln sich organisch in einem Wechselspiel zwischen den Menschen und den Gegebenheiten der Orte. Patentrezepte wie »ein Hektar, eine Familie« und Vorgaben, wie dieser zu bepflanzen sei, widersprechen diesem Prinzip. In der Wirklichkeit traditioneller Kulturen finden sich vielfältigste Strukturen, Gesellschaft zu organisieren und Land individuell sowie gemeinschaftlich zu nutzen. Doch der Horizont des Anastasia-Autors scheint nicht über eine Kleingartenidylle hinauszugehen. (LM)

Frauen, Männer und Anastasia
Auf der Internetseite der Familienlandsitzsiedlung »Weda Elysia« steht unter »Familie«: »Eine Familie besteht für uns aus Vater (Mann), Mutter (Frau) und Kind/ern«. Darüber ein Zitat von Jean-Jacques Rousseau: »Die Familie ist die älteste aller Gemeinschaften und die einzige natürliche.« Das macht unmissverständlich deutlich, was Anastasia von Lebensformen jenseits der Kleinfamilie (eventuell erweitert durch Großeltern und Urgroßeltern) hält: nichts. Da Familienlandsitze nach Anastasia die einzige Lösung der globalen Probleme sind, hätten in der Konsequenz Folgende keine Daseinsberechtigung mehr: Gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Alleinlebende, Kommunen, letztlich jegliche Beziehungsnetze jenseits von Geschlechterrollen und Blutsverwandschaft. Damit wird eine Monokultur an möglichen Lebensformen vertreten, die sowohl die in vielen Kämpfen erstrittene moderne Vielfalt an Lebensformen als auch die traditionelle europäische Familienform des »ganzen Hauses« ablehnt. In diesem ganzen Haus waren in Mittelalter, Neuzeit und teilweise bis ins 20. Jahrhundert hinein Großfamilien samt den dort arbeitenden Menschen organisiert – verheiratete und unverheiratete Personen ebenso wie Kinder und alte Menschen. Das starre Geschlechterbild bei Anastasia wurde durch »traditionelle« Kleidung – wie lange Röcke für Frauen – auch beim Festival deutlich. Bei einem Gespräch im Vorfeld mit Menschen, die Anastasia nahestehen, fielen Bemerkungen wie die, dass man ein Problem mit »krassen Emanzen« habe; man müsse doch hinterfragen, wie viel Emanzipation nötig sei. Ich finde es erschreckend, dass die Anastasia-Bücher vor diesem Hintergrund überhaupt attraktiv für junge Menschen sind. (AV)

Muss man mit jedem sprechen?
Wenn ich einen Menschen im Zugabteil treffe und er mich freundlich anspricht, dann werde ich mich möglicherweise aus Höflichkeit mit ihm unterhalten, selbst wenn er verfassungsfeindliche Symbole auf dem Unterarm tätowiert hat. Doch als Journalistin muss ich nicht mit einer Person die persönliche Auseinandersetzung suchen, wenn mich deren Workshop stark befremdet hat. Wenn ich fünf Internet-Videos aus dem vergangenen Jahr und ­einen Live-Vortrag gehört habe, in denen in allen Fällen offen rassistisches Gedankengut geäußert wurde, finde ich es nicht zwingend nötig, mit dieser Person ein Vieraugengespräch zu führen. Denn selbst wenn sie dann bestritte, dass diese Äußerungen rassis­tisch gemeint seien, änderte das nichts an der Sache: Es ist sehr einfach, rassistisch zu sein, ohne es so gemeint zu haben – und höchstwahrscheinlich ist das auch den meisten weißen Deutschen schon passiert. Selbst in Oya wurden wir auf einzelne Textpassagen hingewiesen, die als rassistisch gedeutet werden können – was uns bewusstgemacht hat, wie sorgfältig und genau wir uns selbst immer wieder hinterfragen müssen. Daher sind an einer solchen Stelle Selbstkritik und Achtsamkeit wichtig. Ob die Person, die sich rassistisch geäußert hat, dabei im persönlichen Gespräch sympathisch, unsympathisch oder völlig farblos daherkommt, ist für den Sachverhalt bedeutungslos.
Die Philosophin Hannah Arendt fand dazu eine treffende Formulierung, als sie über die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg berichtete: die »Banalität des Bösen«. Die Aufseherin eines Konzentrationslagers konnte durchaus eine fürsorgliche Partnerin und Mutter sein. Gerade diese menschliche Möglichkeit zur Abspaltung – für die »Eigenen« liebevoll, gegenüber den »Fremden« grausam – macht Ideologien, die mit Feindbildern arbeiten, so brandgefährlich. (AV)

Ahnen
»Es tut mir gut, wieder eine Verbindung zu meinen Ahnen zu spüren«, sagen Anastasia-Leserinnen. Auf dem Festival wurden die »Weden« – Wladimir Megres fantasiertes Ur-Volk – so besungen:
Erwachende Weden, erschaffen das Eden,
auf Erden im Hier und im Jetzt.
Der göttliche Mensch endlich wiedergeboren,
erbaut neu, was er einst verlor.
Die wedischen Menschen im Bunde der Herzen,
Gewissen ist wieder erwacht.
Es trugen die Hüter der Schöpfung das Wissen
Äonen durch dunkelste Nacht.

Im Namen behaupteter germanischer Urahnen ist zuviel Schreckliches passiert, als dass man einen solchen Liedtext unbeschwert lesen könnte. Die Parallelen zwischen der Geschichte über die Weden in den Anastasia-Büchern und dem gegen Ende des 19. Jahrhunderts frei erfundenen Mythos eines germanischen Urvolks (siehe Seite 18) liegen auf der Hand: Beide werden in den Ursprung aller Zeiten verlegt, erzählen von einem vollkommenen, blonden und blauäugigen Menschen, dessen Kultur den Mächten der Finsternis zum Opfer gefallen sei, aber nun wieder »erwache«. Diese Erzählung »funktioniert« damals wie heute.
Das Motiv der Ahnen ist äußerst sensibel zu handhaben. Es berührt ein tiefes Bedürfnis nach Beheimatung. In vielen indigenen Kulturen geben Geschichten über die Ahnen Antwort auf die Frage, woher das Leben kommt und wohin es geht. Die moderne Welt erzählt jungen Menschen keine Geschichte über den Sinn des Lebens; sie ist – abgesehen von einem dünnen intellektuellen Diskurs – geschichtsvergessen und animiert in erster Linie zum Konsum. Dadurch entsteht offenbar ein seelisches Vakuum, das Bilder einer paradiesischen »Weden«-Kultur ansaugt.
Auch in Oya fragen wir nach Wurzeln: In welcher Denk­tradition stehen wir? Auf welchem Sediment entwickeln wir unsere Gedanken? Es ist uns wichtig, die Vorläufer der egalitären Bewegungen weltweit zu kennen. Ich möchte den Begriff der Ahnen im Sinn indigener Kulturen verwenden dürfen, ohne dabei in die Nähe rechter Esoterik gerückt zu werden. Diesem Anliegen laufen Bewegungen wie Anastasia diametral entgegen. (LM)

Dekolonisierung und die Megamaschine
Worin liegt der Unterschied, wenn wir in der Oya in Anlehnung an Lewis Mumford und Fabian Scheidler von der »Megamaschine« schreiben, zu Anastasia, die die Moderne rundherum ablehnt? Die Megamaschine bilden zum einen gesellschaftliche Institutionen und Infrastrukturen, die den Fortbestand des kapitalistischen Weltsystems sichern: von der Aktiengesellschaft und der Börse über Finanzämter und den Internationalen Währungsfonds bis hin zu Kohlekraftwerken und Containerhäfen. Ihre Funktionsweise ist komplex, aber nicht geheim: Viele Denkerinnen und Wissenschaftler wie Immanuel Wallerstein, Fernand Braudel, Silvia Federici und Karl Marx haben in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten einzelne Mechanismen daraus erklärt und verständlich gemacht. Sie haben aufgezeigt, dass von diesen Institutionen bestimmte Gruppen mehr profitieren als andere. Die Megamaschine wird aber deswegen nicht von geheimen Strippenziehern gelenkt, sondern ihre Institutionen werden und wurden von unzähligen verschiedenen Menschen erschaffen, aufrechterhalten und auch verändert – meistens dann, wenn über Revolutionen oder soziale Bewegungen deutlich wurde, dass das System Zugeständnisse an die Ärmeren machen muss.
Die Megamaschine sind auch wir selbst, indem wir in der heutigen Welt leben, mit dem Auto fahren, telefonieren, aufs Amt gehen, hinter doppeltverglasten Fenstern sitzen usw. Selbst wenn wir in einer Jurte ohne Geld wohnen, ist die Megamaschine doch tief in uns selbst verankert: durch unsere Gewohnheiten und Sehnsüchte, unser Wissen und Wollen. »Dekolonisierung der Vorstellungskraft« ist daher ein Schlagwort der internationalen Degrowth-Bewegung: Wie können wir unser Wollen vom Immer-mehr-haben-Wollen befreien? Da die Vorformen der Megamaschine aber mindestens 5000 Jahre alt sind, ist das ein gewaltiger Anspruch, bei dem es letztlich um die näherungsweise Befreiung davon geht, Herrschaft von Menschen über Menschen als normal zu empfinden.
Je länger wir uns mit der Anastasia-Bewegung beschäftigten, desto deutlicher wurde uns, wie leicht Aussagen, wie sie hier gerade zum Thema »Dekolonisierung« gemacht worden sind, als Anastasia-Botschaft missverstanden werden können: Die Bücher beschreiben plakativ, wie tief die »Antivernunft« der großtechnischen Zivilisation allen Menschen in den Knochen steckt, und sie rufen dazu auf, sich durch das Leben auf Familienlandsitzen wieder davon zu befreien – aber ermutigen an dieser Stelle eben nicht zu einem offenen Forschungsprozess, sondern proklamieren das Streben nach Idealen: nach dem urzeitlichen Paradies des fiktiven Weden-Volks (Retrotopie) beziehungsweise dem künftigen Paradies immer vollkommener werdender Menschen (Fortschrittsideologie).
Die in Oya geäußerte Kritik an der Megamaschine ist keine pauschale Verteufelung der Moderne. Allen Schattenseiten zum Trotz konnte in ihr das Prinzip der freien Entfaltung der Persönlichkeit durchgesetzt werden; dabei wurden staatliche Ordnungen etabliert, die diese schützen sollen. So verständlich es auch ist, dass Menschen in ihrem Entsetzen über die Auswirkungen und ihr Gefangensein in der Megamaschine die Moderne am ­liebsten rundherum ablehnen und in ihrem Entwurf für eine »andere Welt« noch einmal neu bei einem »Ahnenvolk« anfangen möchten, so problematisch sind Retrotopien aller Couleur. Wir sollten die Megamaschinen-Kritik in Oya stets hinterfragen: Baut sie Feindbilder auf? Stellen wir der Megamaschine eine »heile Welt« als Ideal gegenüber? Wir bitten alle Leserinnen und Leser, uns darauf hinzuweisen, sollte das – und sei es auch nur als Unterton – in unseren Artikeln anklingen. (AV/LM)
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