von Rubin Kerstin Eißrich, erschienen in Ausgabe #46/2017
Als meine älteste Tochter an der Schwelle zum Erwachsenwerden stand, erinnerte ich mich an meine eigene Jugendzeit und das damalige Gefühl, in ein Loch gefallen zu sein. Mir wurde bewusst, dass ich als Mutter meiner Tochter nicht die Geborgenheit, die ich ihr in dieser Zeit wünschte, allein geben konnte. Damals – es ist schon zehn Jahre her – schlug ich ihr vor, an einer Jugendvisionssuche teilzunehmen. Die Jugendlichen verbringen dabei drei Tage allein im Wald. Was sie dort erlebt haben, teilen sie anschließend im Kreis mit ihren Begleitern und Familienmitgliedern. Als ich damals in diesem Kreis saß, war ich zutiefst berührt von der großen Achtsamkeit, die das Anhören der Geschichten prägte. Ich erlebte ein starkes Gefühl von Nach-Hause-Kommen. Von den Geschichten der Jugendlichen vom Berg und vom Alleinsein ging so viel Lebendigkeit aus! Sie handelten nicht von großen Visionen oder Taten, sondern von einfachen, essenziellen Dingen, deren Bedeutung und Kraft sich oft erst beim »Spiegeln« der Geschichten erschloss. Die Begleitenden erzählten nämlich die Geschichte noch einmal nach. Ein junger Mann berichtete davon, dass der Platz, den er sich ausgesucht hatte, bis zum Mittag im Schatten gelegen hatte. Für den Vormittag hatte er sich am zweiten Tag einen sonnigen Platz in der Nähe ausgesucht und war im Lauf des Tags in aller Langsamkeit Schritt für Schritt mit der Sonne mitgewandert, bis sie auf seinen ursprünglich gewählten Ort schien. Er erzählte das sehr lapidar und musste über sich selbst lachen. Erst beim Spiegeln seiner Geschichte trat die Tiefsinnigkeit dieses Schattengangs hervor und berührte sein Herz. Im folgenden Jahr begab ich mich selbst auf Visionssuche. Meine Initiationsgeschichte handelte vom Loslassen und dem Ja zum Tod. An dreien der vier Tage im Wald regnete es. Ich war ärgerlich und fragte mich: Warum darf es jetzt regnen? Wieso wünschst du dir die Sonne? Meine Bewegungsfreiheit war durch die Nässe stark eingeschränkt. Ich fühlte mich wie die Raupe, deren ganzer Körper sich verflüssigt, bevor sie zum Schmetterling wird. Unter meiner Zeltplane lag ich wie eine Sterbende, die sich nicht mehr bewegen kann und doch mit allem verbunden ist, weil sie alles um sich hört. Ich ließ los, fiel nach innen und lauschte. Nach drei Tagen schloss ich Frieden mit dem Regen. In dieser Nacht riss die Wolkendecke auf, ich sah die Sterne und am folgenden Tag die Sonne. Als mir meine Geschichte im Kreis gespiegelt wurde, dachte ich: »Ja, genau, das ist passiert!« Die Zuhörenden vermittelten mir: Wir hören dich, sehen dich, ehren dich dafür, dass du dies erlebt hast und als Geschenk mitbringst! Noch während meiner eigenen Visionssuche hatte ich den Impuls, selbst junge Menschen auf diese Art beim Übergang zu begleiten, und ich begann 2009 die Ausbildung zur Visionssucheleiterin. Aus dieser Perspektive erlebte ich, dass gerade junge Männer oft enttäuscht sind, wenn sie keine große »Vision« empfangen. Erst im Erzählen und Hören der eigenen, vermeintlich trivialen Geschichte entsteht eine große Ergriffenheit. Als Begleiterin einer Visionssuche werde ich wie ein offenes Gefäß, in das die Geschichte pur und nackt hineinfallen darf, und ich versuche loszulassen, dass ich mir alle Details merken sollte. Gelingt das, lache, weine und staune ich. Dann steigt die Geschichte neu aus meinem Herzen auf, und das Gesicht des Anderen wird zum Spiegel für mich; ich lese darin die Resonanz meiner Worte. Wesentliches kristallisiert sich heraus, und während weitere Begleitende die Geschichte ergänzend neu erzählen, Aspekte in eigenen Worten wiederholen oder neue hinzufügen, wird dieser Verdichtungsprozess sehr reich. In meinem Leben verbindet sich diese Art des Geschichtenerzählens mit dem Selbstverständnis, ein natürliches Wesen dieser Erde zu sein und mich jederzeit an etwas Größeres anbinden zu können. Das nährt und stärkt mich.
Rubin Kerstin Eißrich, Mutter von vier Kindern, lebt als freie Künstlerin in Herzfelde bei Templin und bietet neben Visionssuchen beruflich Massagen an.