Impressionen von der Jugendschule am Schlänitzsee.von Maria König, erschienen in Ausgabe #47/2018
An einem kalten und nebligen Januarmorgen verlasse ich den Bus 612 an der Endhaltestelle im kleinen Dörfchen Grube bei Potsdam. Unsicher begebe ich mich auf einen alten Plattenweg, der mich aus dem Dorf hinaus zwischen weitläufige Ackerflächen führt. Bin ich hier wirklich richtig? In dieser abgelegenen und menschenarmen Gegend am Schlänitzsee soll die Jugendschule der staatlichen Montessori-Oberschule Potsdam sein? Der Weg zieht sich. Bis auf das weit entfernte Rauschen einer großen Straße ist es gespenstisch still – nur selten unterbrochen vom Krächzen einer Krähe oder anderen Vogellauten, die ich nicht zuzuordnen vermag. Hinter einem kleinen Wäldchen umrunde ich einen umgestürzten Baum, der den Weg versperrt. Endlich schält sich auf der rechten Seite ein weiträumiges Gelände mit einigen Häusern aus dem Nebel. Am Eingang blickt mir schweigend ein großer Schäferhund entgegen. Ein paar Jugendliche kümmern sich um ein Lagerfeuer, zwei frühstücken unter einem Pavillon aus Planen, und weitere sind neben dem Gewächshaus mit Spaten und Schaufeln beschäftigt. Eine größere Gruppe von Dreizehn- bis Vierzehnjährigen sitzt mit drei Erwachsenen um ein zweites Lagerfeuer. Ich geselle mich dazu und erfahre, dass hier gerade die Anlage eines Teichs geplant wird.
Erfahrungsschule des Lebens Zwei Jahre lang verbringen die Siebt- und Achtklässler der Montessori-Oberschule Potsdam jede zweite Woche mit praktischen Arbeiten auf dem Gelände am Schlänitzsee oder bei einem Tierpraktikum auf nahegelegenen Bauernhöfen. Das Konzept der Jugendschule ist vom sogenannten Erdkinderplan inspiriert, den Maria Montessori in den 1920er Jahren als Teil ihrer Pädagogik für Jugendliche entwickelte. Sie war überzeugt, dass Heranwachsende am besten praktisch lernen, weil sie Herausforderungen brauchen, an denen sie wachsen und sich ausprobieren können, um so ihre eigene Rolle in der Gesellschaft zu finden. So plädierte sie für eine »Entschulung des Lernens« in der Pubertät und entwarf mit dem Erdkinderplan einen Erfahrungsraum für Jugendliche, in dem sie aufgehoben sind, sich aber vor allem erproben und beweisen können. Im Jahr 1935 schrieb sie: »Während dieser schwierigen Reifezeit ist es wünschenswert, das Kind fern von seinem gewohnten Milieu, seiner Familie, auf dem Lande leben zu lassen, in einer ruhigen Umgebung, im Schoße der Natur«. So ist auch der Platz der Jugendschule bewusst weit abgelegen von der Stadt. Die Hinfahrt mit dem Fahrrad wird zur ersten morgendlichen Bewährungsprobe. Auf dem Hof bewirtschaften die Jugendlichen in Begleitung ihrer Lehrer und unter Anleitung von Experten wie dem Landwirt Mathias Peeters ein Feld, ein Gewächshaus und einige Hochbeete. Sie versorgen zwei Esel, zwei Ziegen, Bienenvölker sowie mehrere Hühner. Außerdem beteiligen sie sich am Aufbau und Erhalt der Infrastruktur sowie an der Gestaltung des Geländes. In den letzten Jahren sind so unter anderem ein Gehege für die Tiere, eine Komposttoilette, ein selbstgebauter Bauwagen und eine Natursteinmauer als Rückzugsort für Eidechsen entstanden. Ein weiterer integraler Bestandteil ist das tägliche Kochen für die ganze Gruppe in einem mobilen Küchenwagen. »Das Kochen«, erläutert Mathias beim Mittagessen, »ist eine der Grundlagen des Projekts. Es gilt: Selbermachen, statt sich bedienen zu lassen! Das wirkt sich auf die Beziehung der jungen Menschen untereinander und zum selbstgeernteten und -zubereiteten Essen aus. Hier essen fast alle alles.« Maria Montessori wünschte sich im Erdkinderplan, dass die Jugendlichen über die Dauer von zwei Jahren eigenverantwortlich einen Bauernhof, ein Geschäft und ein Gasthaus führten, wobei das Zusammenleben in Gemeinschaft und das Gestalten des täglichen Lebens, wie das Zubereiten der Mahlzeiten, zentral seien. »Alles, was die jungen Menschen in ihrem Studien- und Arbeitsplan, der das Leben auf dem Land begleitet, an theoretischen Inhalten lernen, hat nun einen praktischen Bezug. Die Lerninhalte werden durch Erfahrungen in Produktion, Verkauf und Verwaltung greifbar und sinnvoll, die Jugendlichen unabhängiger«, führte sie dazu aus. Am Schlänitzsee betreiben die Jugendlichen zwar kein Gasthaus, aber es gibt immerhin einen umfangreichen Gästebetrieb mit Essensversorgung und Führungen. Die jungen Menschen versorgten im letzten Jahr etwa 700 Lehrer, die das Projekt besuchten. Einmal pro Woche richten sie auch das Frühstücksbüfett für alle Schülerinnen und Schüler ihrer Schule aus. Honig, Obst, Gemüse sowie Taschen, Seifen, Kerzen, Marmeladen, Pesto und Brot werden freitags bei einem selbstorganisierten Markt auf dem Schulgelände verkauft. Sowohl die Einnahmen als auch das Essensgeld verwaltet eine eigenständige Finanzgruppe. »Perspektivisch sollen die Jugendlichen selbständig den gesamten Feldkreislauf – also von der Saat über Pflege und Ernte bis zum Verkauf – und die Budgetplanung verantworten«, erklärt Mathias. Was die Landwirtschaft betrifft, so betont er, dass es nicht vorrangig darum gehe, dass die Heranwachsenden das Bauernhandwerk erlernten oder sensibel für umweltpolitische Themen würden. »Das geschieht eher implizit, während die Feldarbeit in erster Linie dazu einlädt, sich unmittelbar mit den Umständen, der Erde und der Saison zu verbinden und Zusammenhänge zu erkennen.« Diese Verbundenheit mit der Erde und dem Projekt, von der Mathias spricht, wird spürbar auf meinem Spaziergang mit Lena und Lara, beide 13 Jahre alt, die sich gleich nach dem Redekreis freudestrahlend für eine Führung anbieten. Enthusiastisch erzählen sie mir, wo letzten Sommer und Herbst Zwiebeln, Erdbeeren, Mangold, Blumen, Rhabarber, Kartoffeln und Getreide wuchsen. Die beiden sind sichtlich geübt im Herumführen interessierter Menschen. Souverän schlendern sie mit mir vom Acker über das Gelände, vorbei an den verschiedenen Bauprojekten der letzten Jahre, wie dem aus Dauben gefertigten Wassertank, und berichten von den Überlegungen, die in die Projekte eingeflossen sind. Weil sie dabei immer wieder in die unmittelbaren Eindrücke und Erlebnisse eintauchen, kann ich mir den Schulalltag allmählich anschaulich vorstellen.
Lernen sie genug? Wenn interessierte Gäste kommen, fragen sie am häufigsten, was die Jugendlichen in dieser Zeit für Wissen erwerben. Besorgte Eltern fragen sich, ob sie überhaupt genug lernen. Als ich Lena und Lara um ihre Einschätzung bitte, ist auch ihnen ein gewisser Druck und Ungewissheit anzumerken. Sie genießen die Zeit am Schlänitzsee sehr und schätzen die Tätigkeiten, mit denen sie dort konfrontiert sind. Gleichzeitig sind sie sich bewusst, dass sie beim Schulstoff hinter ihre Altersgenossen an anderen Schulen zurückfallen; so stellen sie sich darauf ein, dass sie diesen in der neunten Klasse aufholen müssen. Mathias bedauert die in unserer Gesellschaft übliche enge Verzahnung von Benotung und Lernen, die Schülerinnen und Schüler, Eltern und die Lehrerschaft gleichermaßen unter Druck setzt. Auch die Verknüpfung der Lehrplaninhalte mit den praktischen Tätigkeiten auf dem Hof bedeutet für die Fachlehrer einen immer wiederkehrenden Spagat. So wird am Schlänitzsee beständig experimentiert und ausprobiert. Das Fach Deutsch beispielsweise wird gegenwärtig in der Schule ausgesetzt, während der bewusste Umgang mit Sprache und die gelegentliche Reflexion sprachlicher Besonderheiten auf dem Gelände deutlicher im Fokus stehen. Für die Dokumentation und Nachbereitung behandelter Themen haben sich die »Kladden« – große Ringbücher mit unlinierten Seiten – bewährt. Am Tag meines Besuchs füllen sich die Seiten mit theoretischen Überlegungen zum Teichprojekt, wie etwa zur geplanten Bepflanzung. Die Verschriftlichung ermöglicht es den Lehrerinnen und Lehrern, später im Unterricht an die Themen anzuknüpfen; sie dient der Orientierung späterer Jahrgänge, wenn sie Projekte auf dem Gelände weiterführen, und verdeutlicht nicht zuletzt den Jugendlichen den »Lernstoff« in ihrem praktischen Tun. Daneben entstehen auf dem Gelände zunehmend Formen von »Unterricht, der fließt«, wie ihn Ulrike Kegler, Schuldirektorin der Montessori-Oberschule, in dem Buch »Wo sie wirklich lernen wollen. 7 Jahre Jugendschule Schlänitzsee« beschreibt. Dieses Fließen beginnt, wenn etwa beim Beseitigen eines Steinhaufens Nebengespräche über die Funktion von Lochziegeln, das Alter der Steine und den Beginn des Ziegelbrennens entstehen. Später können diese freien Assoziationen zu einem Unterrichtsfaden versponnen werden oder sie bleiben im Vertrauen, dass »dieses laute Denken schon seine Spuren hinterlässt« – wie es im Buch heißt –, unkommentiert. Ulrike Kegler stellt heraus, dass die Schülerinnen und Schüler bei den zentralen Abschlussprüfungen im Land Brandenburg regelmäßig überdurchschnittlich gut abschneiden – und dies, das haben sie die Erfahrungen der letzten Jahre gelehrt, nicht obwohl, sondern weil sie weniger herkömmlichen Unterricht haben.
Echte Aufgaben In eine solche Form des Lernens mussten alle Beteiligten über einen längeren Zeitraum erst hineinwachsen. Damit Vertrauen und Sicherheit entstehen konnten und sich immer wieder einstellen, ist es unerlässlich, dass sich die Erwachsenen, die die Jugendlichen begleiten, voll und ganz auf die anfallenden Aufgaben auf dem Gelände einlassen. So bleiben die Arbeiten im Bewusstsein der jungen Menschen kein oberflächliches Freizeitvergnügen, sondern werden als zutiefst sinnhaft erlebt und mit Ernsthaftigkeit vollzogen. War es anfangs nicht leicht für die Schülerinnen und Schüler, sich wirklich auf ihre Aufgaben vor Ort einzulassen, beginnen die neuen Siebtklässler ihre Zeit am Schlänitzsee inzwischen mit Selbstverständlichkeit. Wenn an die Stelle von Schulstunden in Unterrichtsräumen konkrete, echte und ernsthafte Aufgaben rücken, sind die Jugendlichen herausgefordert. Die Tiere etwa müssen jeden Tag versorgt werden, sonst verhungern sie. Die Aufgaben sollen machbar und gleichzeitig »ein bisschen größer, als die Jugendlichen es sich vorstellen können, sein«, erzählt Anja Lene Waschke, eine Lehrerin, die das Projekt vor Ort zusammen mit Mathias und dem Bootsbauer André Riessler leitet. So macht beispielsweise die Größe des Felds mehrtägige Arbeitseinsätze erforderlich, was den jungen Leuten ein gewisses Maß an Überwindung abverlangt. Herausforderungen und die Konfrontation mit Grenzen werden spürbar. Darüber hinaus ergeben sich Fragen nach dem richtigen Maß an Autonomie der Schülerinnen und Schüler: Wo ist der Raum, Dinge selbst zu gestalten? Wie viel Vorstrukturierung ist nötig? Wie können die Aufgaben gestaltet werden, so dass Jugendliche sie alleine meistern und die Aufgaben selbst zum Korrektiv werden? Wie kann dabei die wertschätzende Einbindung in die Gruppe hergestellt werden? Wie entsteht eine haltgebende und sinnstiftende Begleitung durch die Lehrkräfte, die nicht mehr im eigentlichen Sinn unterrichten?
Die Entdeckung der Langsamkeit Die guten Abschlussprüfungen der Schülerinnen und Schüler der Jugendschule zeigen, dass das mutige Projekt auch in den gegenwärtigen Strukturen des Bildungssystems »funktioniert«. Was aber, wenn sie keine besseren Noten hätten oder sogar schlechtere? Hätte dieses Projekt auch dann seine Berechtigung? Diese Frage möchte ich nach den Eindrücken, die ich bei meinem Besuch gewonnen habe, bejahen. Durch das Engagement der Erwachsenen, die den Platz am Schlänitzsee hüten, ist ein unschätzbarer Freiraum entstanden, in dem die Jugendlichen sich selbst und die Welt in Ruhe und Verbindung entdecken können. Mathias betont: »Wir haben einfach angefangen und uns anhand der Probleme Schritt für Schritt weiterentwickelt. Dabei ging es nie darum, schnell fertigzuwerden. Im Vordergrund stehen die Prozesse selbst, die Möglichkeiten des Geländes.« Diese Haltung prägte das Projekt bereits, als 2007 die Rekultivierung des ehemaligen Stasi-Ferienlagers begann. Ulrike Kegler schreibt dazu in ihrem Buch: »Verlangsamung als Gegenkonzept zur allgemeinen Beschleunigung der Gesellschaft war und blieb ein wichtiger Grundgedanke in diesem Projekt. Dem üppigen Wuchs der Natur auf dem Gelände wollten wir keine schnellen Kettensägen entgegensetzen. Die Jugendlichen sollten in einer respektvollen Annäherung an einen geschichtsträchtigen Ort die eigene Verantwortung im Umgang mit Natur und Kultur entdecken und sinnvolle Handlungsstrategien entwickeln.« Die Beschäftigung mit sich selbst, der äußeren Welt und mit anderen erfordert viel Aufmerksamkeit. Oft entsteht dabei spielerisch eine Verbindung, die auch dazu führt, dass Verantwortung übernommen wird. Ulrike Kegler fasst dies so zusammen: »Wir [die begleitenden Erwachsenen] hätten auch nicht gedacht, dass Spiel und Spieltrieb sich in der freien Natur und in diesem Alter noch einmal so deutlich Bahn brechen würden. Immer wird geworfen, gerannt, gesprungen, sich versteckt, geklettert, geschaukelt, gerangelt, balanciert und gehangelt. Am Schlänitzsee fühlen […] alle ständig ihren Körper. Kälte, Wärme, Hitze, Regen, Schnee, Wind, Insekten, Müdigkeit, Anstrengung oder einfach nur ›abhängen‹ wirken sich auf den Körper unmittelbar aus.«
Die Weite des Horizonts Nach vier bereichernden Stunden auf dem Gelände der Jugendschule habe ich klamme Füße und genieße die warmen Sonnenstrahlen, denen der Nebel nun endlich Platz gemacht hat. Zusammen mit Anja Lene stehe ich neben dem winterlichen Feld und betrachte mit ihr drei Schüler, die sich nach einem anstrengenden Tag der Eselfürsorge entspannt und ruhig auf den Heimweg vorbereiten. Anja Lene schätzt die ungewohnte Wachheit, die sich hier draußen bei den jungen Menschen einstellt. Menschen, die sich zutiefst mit ihrem Tun identifizieren – wie der das Projekt begleitende Schäfer –, Herausforderungen, das Arbeiten unter freiem Himmel und die Weite des Horizonts sind für sie die Hauptzutaten, die den Jugendlichen diese klare Präsenz ermöglichen. Mit einem wohligen Gefühl im Bauch und beschenkt mit Kartoffeln und Möhren begebe ich mich wieder auf den langen Heimweg. Unterwegs begegnet mir noch einmal Mathias, der zusammen mit einigen Jugendlichen begonnen hat, den umgestürzten Baum vom Feldweg zu räumen.
Weiterlesen Ulrike Keglers Buch »Wo sie wirklich lernen wollen. 7 Jahre Jugendschule Schlänitzsee«, Beltz, 2014, ist nur antiquarisch erhältlich.