von Bertrand Stern, erschienen in Ausgabe #47/2018
Als ich – kurz nach dem Zweiten Weltkrieg – geboren wurde, gehörte das Ideal des zivilisatorischen Fortschritts zu den Vorzeichen einer arg gebeutelten Welt, die ihre Hoffnung in einer glorreichen Zukunft sah. Begriffe wie »Ökologie«, »Umweltschutz« oder »Nachhaltigkeit« waren praktisch unbekannt. Erst als sich nach und nach die verheerenden Folgen eben dieser Fortschrittsideologie abzeichneten, wurde die Ausplünderung von Leben, Welt, Mensch und Natur hinterfragt. Allerdings: Da die tabuierten Merkmale des Fortschrittsglaubens kaum entlarvt werden durften, wurden die auftauchenden Krisen »Herausforderungen« genannt, derer es technisch Herr zu werden gelte. Führte also der eine Weg nicht zum angestrebten Ziel, sei nicht das Ziel verkehrt, sondern lediglich der Weg! Verkehrsstau? Neue Techniken und Autobahnen sollen abhelfen! Krankheiten? Mehr Geld für Medizin und Pharmaforschung! Unterernährung? Kunstdünger zur Steigerung der Agroproduktivität! Abfall? Wenn hierzulande keine »thermische Verwertung« möglich, wird der zu »Rohmaterial« umdeklarierte Abfall eben exportiert. Erst mit der »Enkeltauglichkeit« setzte jenes kritische Reflektieren ein, das viele tabuierte Vorzeichen dieser Zivilisation radikal in Frage stellte. Obschon ich dies begrüße, vermisse ich einen mir so naheliegend erscheinenden Ansatz. Die Nöte, vor denen wir stehen, sind keine bloßen Herausforderungen. Eine »gesundheitliche Krise« (ich meide bewusst den Begriff »Krankheit«!) ist keine medizinische oder pharmazeutische Herausforderung: Nicht die Definition der Erkrankung und die Bestimmung des Medikaments sorgen für Genesung, sondern das Ausbrechen aus einer pathogenen Situation des Menschen oder seiner Lebensbedingungen. Daher ist die zu fällende Wahl nicht die zwischen zwei oder mehr Therapieansätzen, sondern die zwischen dem inneren Drang nach Rückbesinnung auf sich und dem Sinn des eigenen Daseins. Boshafter formuliert: die Wahl zwischen Integrität, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und »zivilisatorischer Wohlerzogenheit«. Beruht nun unsere ganze Zivilisation nicht auf einer Sucht nach quantitativen Gütern: immer mehr, immer öfter, immer größer, immer weiter, immer schneller … – und der Erwartung, diese Selbstverständlichkeit müsse – notfalls durch Gewalt – eintreffen? Angesichts der immer größeren persönlichen und soziokulturellen Opfer dieser Sucht reichen bloße Versprechungen auf ein Morgen (Verdrängung und Sublimierung) nicht mehr, um die Opfer zu rechtfertigen; dies verlangt nach einer sofortigen Entschädigung, was sich etwa an den Statistiken des Konsums ablesen lässt: Statt einer Befriedigung von eigentlichen Bedürfnissen handelt es sich lediglich um die Befriedung gemachter Bedürftigkeit. Dramatisch ist hierbei, dass jede Maßnahme das Unwohlsein nur verschlimmert. Ähnlich kann das Umpolen eines bisher auf fossilen Energieträgern beruhenden Straßenverkehrs auf Elektromobilität das wirkliche Problem nicht lösen, sondern im Gegenteil die Lähmung der eigenen Mobilität nur steigern. Was dem Menschen eingebleut wird: durch technischen Fortschritt könnten immer größere Entfernungen dank »höherer« Geschwindigkeit in immer kürzerer Zeit bewältigt werden, dient nicht der Mobilität und Freiheit des Menschen. Die reale Kehrseite dieser subtilen Enteignung ist der Stau – mit entsprechendem Affektstau … Enkeltauglich? Beginnt es nicht mit der Erkenntnis, die sakrosankte »Arbeit« sei ein Produkt eines historischen soziokulturellen Irrtums? Mit »Arbeit« sind nicht Aktivität, Tätigsein, Engagement gemeint; sondern »weisungsgebundene Erwerbsarbeit«. Diese nennen die meisten Menschen »Job«. Artikuliert diese Vokabel nicht, dass der Beruf heute kaum mehr einer Berufung entspringt? Nun erweist sich die partout nicht in Frage zu stellende Arbeit als per se kontraproduktiv: Sie zu erhalten, erfordert, mehr in sie zu investieren als das, was sie eigentlich erbringt – davon abgesehen, dass das Verdiente dem Konsum dient! Ist dieser wahrlich teure Irrtum der Menschheitsgeschichte schicksalhaft? Nein, wenn der Mensch sich darauf zurückbezieht, was ihn kennzeichnet und worin er sich von anderen Gattungen unterscheidet: auf seine Fähigkeit zur Muße (nicht Müßiggang!). Der Muße als Fundament allen menschlichen Daseins entspringen das Kreative, das Aktive, das Kontemplative. Erst die Muße ermöglicht das Erkennen, wer wir wirklich, wirklich sind und folglich, was der Sinn unseres Seins, unseres Daseins, unseres Soseins ist. Erst die Muße schenkt uns die Distanz auf das Geschehen um uns, auf dass wir dessen Verrücktheit entdecken und uns davor schützen können … Und erst die Muße erlaubt es uns, dass wir wirkliche »Konsumverweigerer« werden – nicht als heroische Tat, sondern einfach, weil es uns gutgeht: der feine Unterschied zwischen »Verzicht« und »Nicht-Bedürfen«. Enkeltauglich? Dies impliziert auch eine zwischengenerationelle Komponente: Das Leben unserer Enkelinnen und Enkel wird erst dann ein gutes sein können, wenn bereits unsere Töchter und Söhne vor dem latenten Wahn der zivilisatorischen Süchte »gerettet« worden sind. Der zivilisatorischen Wohlerzogenheit zu widerstehen, bedingt deshalb, der zu entlarvenden Ideologie der Arbeit und dem Mythos der Beschulung sich bewusst zu verweigern. In einer Welt, welche die Menschen süchtig macht, werden parlamentarische Parteien von Reformen schwafeln und ganz systemkonform das zivilisatorische Modell erneuern und verfestigen. Ob Windenergie oder Elektromobilität, Gleichberechtigung oder Schulreform: Dort, wo die »Normen der Normalität« gewiss nicht in Frage gestellt werden dürfen, muss versucht werden, ein aufgetretenes Loch zu füllen, indem rund herum weitere Löcher gebuddelt und durch das Ausheben immer neuer Löcher gefüllt werden müssen – eine systemische Verrücktheit! Aus der Erkenntnis, wonach das Gesunde, Lebendige, Natürliche, Menschliche sich nicht entfalten können, wenn die üblichen Ideologien einer obsoleten Zivilisation subtil vergiftend wirken, ergeben sich insbesondere die kritischen Fragen: Was heißt »enkeltauglich«? Und was wollen wir eigentlich (nicht)?
Bertrand Stern nimmt in »Nein sagen ist nicht verzichten« in der Ausgabe 15 zum Thema »Spielen« und in seinem Buch »Saat der Freiheit« die konkrete Utopie einer entschulten Gesellschaft vorweg.