Titelthema

Verbundenes Tätigsein

Was ist das Commonische, und wie kommt es in die Welt?von Oya – Redaktion, erschienen in Ausgabe #48/2018
Photo
© Gregor von Glinski

Die industriemoderne Existenz ist von entfremdenden, fragmentierten, trennenden Strukturen geprägt. Die Lebensläufe westlichen Zuschnitts werden »von der Wiege bis zur Bahre« durch eine Reihe von Anstalten – mal mehr, mal weniger gewaltsam – strukturiert: Kreißsaal, Kindergarten, Schule, Hort, abhängige oder selbständige Erwerbsarbeit in Unternehmen, Organisationen und anderen Institutionen, Sozial- und Rentenversicherungsanstalten, Senioren- und Pflegeheime etc. Am Anfang und Ende dieses »ver-anstalteten« Lebens stehen in der Regel Krankenhäuser als Orte institutionalisierten Gebärens und Sterbens – als ob Geburt und Tod Krankheiten wären! Der Mittelteil ist meist von fremdbestimmter Erwerbsarbeit – oder deren Abwesenheit – geprägt. Gewiss, manche dieser Einrichtungen mögen das menschliche Gemeinwohl befördern. Doch jeder »Fortschritt« hat seinen Preis: Die umfassende Entfremdung des Menschen, die Einhegung des Gemeinen und der »500-jährige Krieg gegen die Subsistenz« (Ivan Illich), die sich in diesem institutionalisierten Leben widerspiegeln, haben weitreichende Konsequenzen.
Das Anstaltswesen basiert auf eindeutigen Kategorisierungen, Normen, Benennungen, die jeweils bestimmte gedankliche Schubladen öffnen und andere verschließen. Ein Mensch ist aber keine Ansammlung von Kategorien, sondern ein komplexer, leben­diger Organismus. Ganz gleich, wie differenziert ein Kategorisierungssystem auch sein mag, der Mensch kommt dar­in niemals als ein Ganzes vor, sondern wird auf eine Rolle oder Funktion reduziert: Bist du Kundin oder Patient? Insasse oder ­Bedarfsgemeinschaft? Fall oder Fallmanager? ­Leistungsträgerin oder Leistungsbezieherin? Mündel oder Vormund? Minderjähriger oder Volljähriger? Auf Probezeit oder auf Bewährung? Scheinfrei oder promoviert? Arbeitssuchend oder abhängig erwerbstätig? – Wie Zygmunt Bauman erkannt hat, bedarf es immer eines gewissen Maßes an Zwang, um Menschen die binäre Logik von Kategorisierungen überzustülpen.

Wege aus der Anstaltslogik
Die »menschenfreundliche« Art, wie sich dieses System heute an der Oberfläche zeigt, führt dazu, dass in Deutschland 89 Prozent aller Erwerbstätigen mit ihrer Arbeit zufrieden sind; selbst unter den Hilfsarbeitern liegt die Zufriedensheitsquote mit 83 Prozent erstaunlich hoch. Das ergab eine Analyse der Arbeitskräfteerhebung des Statistischen Bundesamts aus dem vergangenen Jahr, in der Erwerbstätige im Alter von 15 bis 74 Jahren befragt wurden. Aber was würden die Menschen antworten, wenn sie stattdessen gefragt würden, was sie »wirklich, wirklich tun wollen«, wie es der Philosoph Frithjof Bergmann ausdrückt? Er meint, viele sind so sehr an die wenig erfüllende Erwerbsarbeit gewöhnt, dass sie diese »wie eine milde Krankheit« ertragen.
Die unter dieser Oberfläche schwärende Entfremdung nehmen jedoch nicht nur Philosophen wahr. Sie drückt sich in der Verszeile »Ich bin der Welt abhanden gekommen« aus, die Friedrich Rückert 1821 bereits zu Beginn der Industrialisierung dichtete und Gustav Mahler 1901 an einem frühen Höhepunkt der Industriemoderne vertonte. Zwar sind in den heutigen Arbeitsstätten hierzulande kaum noch die »dark Satanic Mills« zu erkennen, die der Dichter William Blake in den Fabrikanstalten der einsetzenden Industrialisierung sah. Dennoch tragen sie dazu bei, die unmittelbaren Beziehungen zu Menschen und zur mehr-als-menschlichen Welt zu professionalisieren und in die Sphäre des Expertentums auszulagern. Sie alle basieren auf der Logik von Tausch, Anreiz, Knappheit, Vereinzelung und Fremdversorgung.
Arbeitsteilung und Spezialisierung bringen freilich auch Vorteile mit sich, und ein Zurück in Gesellschaftsordnungen der Vergangenheit ist weder möglich noch wünschenswert – zumal auch viele traditionelle Ordnungen durch Zwang und Herrschaft gekennzeichnet waren und sind. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob dies das immense Leid, das die gewaltdurchtränkten Strukturen unserer heutigen Gesell­schaftsysteme verursacht, rechtfertigt: Die mit dem Hochmittelalter einsetzende Einhegung der historischen Allmende ging einher mit Heerscharen von Entwurzelten, Bettlerinnen, Tagelöhnern, abhängigen Konsumenten etc., die darauffolgende Industrialisierung mit einer systematischen Plünderung und Zerstörung von Lebensgrundlagen sowie menschenfeindlichen Arbeitsbedingungen. Auch hier und heute – in diesem wohlhabenden, übersatt scheinenden Teil der Welt – sind die modernen Ausprägungen solchen Elends überall sichtbar: die Verzweiflung darüber, dass das Geld am Monatsende wieder nicht reicht; die mehr als 4 Millionen Menschen, die Hartz-IV erhalten und amtlich verordnete Demütigungen über sich ergehen lassen müssen; die alleinerziehende Mutter, die ab Monatsmitte im Supermarkt Essen klaut, um ihre Kinder satt zu bekommen; der syrische Arzt, der als Hausmeister arbeitet, weil er mit seinem ausländischen Abschluss keine Approbation erhält; die Lehrerin, die zwar ein gutes Gehalt bekommt, aber durch ihre Arbeit in den Burnout getrieben wird; die unzähligen Pflanzen- und Tierarten, die jedes Jahr industrialisierter Landwirtschaft, Konsumismus und Verwertungsdenken zum Opfer fallen; die Lebensgrundlagen künftiger Generationen, die wir dadurch aufs Spiel setzen. – Wie also finden wir heraus aus dem Klammergriff entfremdender Anstaltslogik?

Wie bin ich gemeint?
In dieser Ausgabe wenden wir uns solchen Klammergriffen zu. Der eine kommt schon im Kindergartenalter mit der freundlich gemeinten Onkelfrage in die Welt: »Was willst du denn mal werden, wenn du groß bist?« Schon ganz jungen Menschen wird vermittelt, dass sie noch nichts Richtiges »sind«, sondern erst etwas »werden« müssen, und das bedeutet: einen Beruf zu erlernen, sich mit diesem zu identifizieren und Geld zu verdienen. Alle anderen Seinszustände sind dem untergeordnet – es verläuft eine klare Grenze zwischen der Institution der Erwerbsarbeit und dem sonstigen Leben.
Die andere Klammer, die unsere Existenz einengt, ist der Zwang zum wirtschaftlichen Erfolg. Er wirkt schon im Privaten, wenn mit der eigenen Erwerbsarbeit nicht genügend Geld verdient werden kann, aber noch stärker bei gemeinschaftlichen Unternehmungen. Die Organisation, die eine Unternehmung trägt, muss erfolgreich sein. Wenn sie keine Gewinne erwirtschaftet, ist sie zum Scheitern verurteilt. Es gibt anscheinend keine Alternative: Entweder bist du Gewinner oder Verlierer.
Wir stellen beides in Frage. Es geht uns nicht um die Diskussion darüber, wie mensch besser im Berufs- und Wirtschaftsleben zurechtkommen oder wie dieses sozialer und ökologischer gestaltet werden könnte, sondern ganz grundsätzlich um die Wurzeln der Entfremdung, die das eigene Tätig­sein prägen. Angenommen, es gäbe die Normen, die Arbeit und Wirtschaft regulieren, nicht, und jede und jeder Einzelne hätte jenseits von festen Rollenbildern und Erfolgsdruck die Freiheit, sich zu fragen: »Was möchte ich wirklich, wirklich tun? Wie drücke ich mich aus? Wie entfalte ich meine Fähigkeiten und setze sie ein, wie sorge ich für meine Mitmenschen und für mich?« – Würde dann nicht eine ganz andere Wirklichkeit als die, die wir kennen, entstehen?
Verschiedene sozialanthropologische Theorien sahen und sehen den Menschen als Erschaffer (Faber mundi) und Gestalter der Welt (Homo faber), als Arbeitstier (Animal laborans), als berechnendes Wirtschaftssubjekt (Homo oeconomicus), als schenkendes Wesen (Homo donans) etc. Hinter jedem dieser Menschenbilder stehen unterschiedliche – teils komplementäre, teils einander ausschließende – Annahmen und Weltbilder. Die Frage, wie »der Mensch als solcher« angelegt sei, löst Kontroversen aus und lässt sich nicht abschließend beantworten, weshalb wir unsere Suche nach einer Wirklichkeit jenseits von Entfremdung nicht auf dieser Ebene beginnen wollen, sondern bei einer persönlichen Frage, die sich die Menschen, die auf den folgenden Seiten von ­ihrem Umgang mit Arbeit, Geld und Erfolgsdruck erzählen, stellen: »Wie bin ich gemeint?«
Das »Gemeinte« – ein Begriff, den der Philosoph Jochen Kirchhoff in seinem Buch »Die Anderswelt« vorschlägt – ist dabei nichts Äußeres und schon gar nichts Definierbares, sondern das unkorrumpierbare Gefühl für das »Eigene«, das immer von seiner Verbundenheit mit dem »Anderen« weiß. Es zeigt sich erst in Reso­nanz mit dem Gegenüber und verlangt doch nach einem untrüglich »eigenen« Ausdruck. Dieses paradoxe Phänomen lässt sich weder erklären noch beweisen, doch es lässt sich beobachten: Wir können uns gegenseitig erzählen, was wir als Eigenes wahrnehmen, wie es in lebendigen Beziehungen immer wieder neu entsteht und sich – als Phänomen von Zwischenräumen – dem Anstaltsdenken entzieht. Diesen Ausgangspunkt suchen wir also, um zu fragen, wie Menschen in der Welt tätig sein können, so dass es ein »gutes«, ein »eigenes«, ein »verbundenes« Tätigsein werden kann – bezogen auf eine einzelne Biografie oder auf einen komplexeren Zusammenhang wie eine Landwirtschaft, einen Handwerksbetrieb oder ein Handelsunternehmen.
Die Ansätze, die dabei deutlich werden, sind zarte, zerbrech­liche Pflänzchen in einer von der Anstaltslogik dominierten Welt. Doch sie sind Lichtblicke, denn sie erzählen von den in der vielfältigen, lebendigen Wirklichkeit beobachtbaren Prinzipien: ­Austausch, Beitrag, Resonanz, Fülle, Kooperation und Symbiose.

Wege ins Gemeinschaffen
Die weitgehende Entfremdung zeitgenössischer Menschen hat wesentlich mit dem Eigentumsbegriff zu tun. Zwar lautet Satz 2 des Artikels 14 in unserem Grundgesetz: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Doch wird dieser Aspekt meist übersehen, und der in Satz 1 des nämlichen Artikels garantierte Besitz von Eigentum führt dazu, dass das allgemeine Streben vom Privatmenschen bis zum Weltkonzern zur Hauptsache dahin geht, sich solches anzueignen. Die Welt als Ansammlung sich anzueignender Objekte zu betrachten, macht sie, wie die Gegenwart zeigt, zu einem lebensfeindlichen Ort – sie als Organismus lebendiger Subjekte anzuerkennen, bedarf einer Umkehrung des Richtungspfeils: Aus Aneignung wird Zueignung! Nicht ich eigne mir etwa an, sondern ich eigne mich zu. Sich Menschen, Tätigkeiten, Orten, der Welt als Gesamtheit zuzueignen anstatt ihr abhanden zu kommen – das schafft Verbindung und eröffnet Wege aus der abgetrennten, vereinzelten Existenz ins verbundene Sein und Tätigsein. In dieser Ausgabe dokumentieren wir vor allem Prozesse der Zueignung, in denen Menschen es wagen, sowohl sich selbst als auch ihrer Verbundenheit mit dem größeren Ganzen treu zu bleiben und so die Trennung von »Arbeit« und »Leben« oder von Kategorien wie »Produzent« und »Kundin« überwinden.
Die Geste der Zueignung schafft die Voraussetzung für eine Qualität, die wir in Oya zunehmend erforschen werden: das »Commonische«. Das Eigenschaftswort »commonisch« kommt von »Commonie« und bezeichnet die Art und Weise des Zusammenwirkens eines gemeinschaffenden, selbstorganisierten, gleichwürdigen Zusammenhangs (siehe auch Seite 6 und 98). Commonisches Tätigsein, Zusammenwirken und Wirtschaften schafft eine andere Wirklichkeit als die des uns bekannten Anstaltswesens. Dafür Freiräume zu schaffen, scheint eine Herkules-Aufgabe, aber es ist jederzeit möglich.
Tatsächlich ereignen sich commonische Prozesse überall. Die großformatigen Fotografien zwischen den Textbeiträgen dieses Themenschwerpunkts bilden beispielhaft ihre Spuren ab. Sie zeigen Menschen und Kulturlandschaften ebenso wie Phänomene der mehr-als-menschlichen Welt. Aber ist es legitim, Nicht-Menschliches als Beispiel für ein von Menschen erdachtes Konzept wie das »Gemeinschaffen« heranzuziehen? Diese Frage bleibt offen; es ist jedoch naheliegend, uns als symbiontische Wesen auf einer symbiontischen Planetin zu fragen, welche Gemeinsamkeiten es zwischen Organisationsprinzipien der menschlichen und der mehr-als-menschlichen Welt geben mag. Immerhin sind Archaeen, Flechten, Regenwürmer, Sandkugelkrebse etc. in einem stofflich-evolutionären Sinn mit uns verwandt, »sind unsere Vettern, unsere Ahnen, und ein Teil unserer selbst«, wie es die Biologin Lynn Margulis ausdrückte.
Die einst weitverbreitete und gegenwärtig hie und da wieder auflebende Praxis der Waldhute ist ein Beispiel für das Zusammenwirken von menschlicher und mehr-als-menschlicher Welt, dessen Spuren noch Jahrhunderte später sichtbar sind. Solches zueignende Gemeinschaffen überwindet Kategorisierungen in »Kultur« oder »Natur«: »Mit der Natur in einer Allmende verbunden zu sein […] heißt, eine lebende Landschaft zu sein«, schreibt der Philosoph und Biologe Andreas Weber in seinem Buch »Sein und Teilen«. Dieses verbundene Sein schlägt eine ­Brücke zum verbundenen Tätigsein.
Was aber tun? Ein Mensch, der sich mit dem ihm Eigenen einem konkreten Ort der Erde – einem Erd-Teil – zueignet, würde vielleicht auf die Titelfrage dieser Ausgabe antworten: »Das Naheliegende, das Notwendige!« Was genau das jeweils Naheliegende und Notwendige ist, ergibt sich durch die genaue Beobachtung des jeweiligen Orts und durch den lebendigen Austausch mit seinen Bewohnerinnen und Bewohnern. Menschen, die in diesem Sinn gemeinschaffend in der Welt tätig sind, kommen auch nicht umhin, sich empathisch dem Leid und Elend ihrer Mitmenschen und ihrer mehr-als-menschlichen Mitgeschöpfe zuzuwenden. Im verbundenen Tätigsein lösen sich die scheinbaren Gegensätze zwischen dem Eigenen und dem Gemeinsamen, zwischen Freiheit und Verbundenheit auf.

weitere Artikel aus Ausgabe #48

Photo
von Jacques Paysan

Gemeinschaffen im Paradies

Denke ich an Portugal, ergreift mich seit langem eine melancholische Sehnsucht, die ich nicht genau begründen kann. Die Portugiesen nennen dieses Gefühl »Saudade«. Es steckt an.Im Sommer 1979 erreichten wir dieses sympathische Land zum ersten Mal an Bord eines klapprigen R4,

Photo
von Lara Mallien

Wie bin ich gemeint?

Montagmorgen, das Quietschen des Gara­gentors, Gedanken an Terminkoordination. Die Frage, was jetzt das »Richtige« zu tun wäre – vielleicht, sich um die kranke Nachbarin zu kümmern oder nachdenklich spazierenzugehen –, darf gar nicht erst aufkommen.

Photo
von Matthias Fersterer

eigen, hiesig und gemein

Ich feiere mich und singe mich selbst, Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen,Denn jedes Atom, das zu mir gehört, gehört ebensogut zu dir.Die ersten Verszeilen aus Walt Whitmans »Gesang meiner Selbst« kann man als lyrische Überhöhung auffassen, man

Ausgabe #48
Was tun?

Cover OYA-Ausgabe 48
Neuigkeiten aus der Redaktion