Die kleine Landschule im Dorf Lüchow hat einen langjährigen Rechtsstreit gewonnen und eröffnet in diesem Sommer wieder.von Johannes Liess, erschienen in Ausgabe #48/2018
Die Landschule in Lüchow ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Nach den Sommerferien, am 20. August 2018, wird sie wieder ihre Türen öffnen, Schüler und Lehrerinnen empfangen und damit den Schulbetrieb wieder aufnehmen – fast auf den Tag genau zwölf Jahre nach der Gründung 2006. Dabei sah es lange so aus, als gäbe es die Schule überhaupt nicht mehr. Sieben lange Jahre war das Schulhaus verwaist, keine Schülerinnen, keine Lehrer waren zu sehen, das Lehrerzimmer verschlossen. Staub setzte sich in den Klassenzimmern ab, und nur einmal im Jahr wurden die Spinnweben abgefegt. Aber alles der Reihe nach: In dem kleinen Dorf Lüchow, am nördlichen Rand der Mecklenburger Schweiz, leben wir mit 73 Menschen, die sich dort in den letzten 15 Jahren angesiedelt haben. Nur Frau Wiese wohnt hier schon seit fast einem ganzen Jahrhundert. Was uns verbindet, ist der Versuch, eine Antwort zu finden auf die Frage, wie wir leben wollen. So entstand die Idee von einem starken Dorf, das die persönlichen und sozialen Grundbedürfnisse aller Generationen befriedigt – einem Dorf, in dem es für die Kinder eine Schule gibt, in dem die Erwachsenen Arbeit haben und die Alten integriert sind und nach Bedarf betreut werden. Das Gemüse für alle soll im Gemeinschaftsgarten wachsen, und die dorfeigene Kuh, die unseren Milchbedarf deckt, könnte Emma heißen. Hinter all dem steht der Wunsch nach einem Leben mit anderen Menschen und mit der Natur – nach einem lebensfördernden Leben. Wichtig ist uns dabei, ein gutes Gleichgewicht zwischen sozialer Einbindung und individueller Freiheit zu finden. Alle sind eingeladen, am gemeinsamen Mittagstisch Platz zu nehmen – es ist jedoch auch völlig in Ordnung, zu Hause zu bleiben und selber zu kochen. Begonnen hat das Projekt 2003 mit dem Zuzug einer Familie mit zwei kleinen Kindern in das fast verlassene Dorf. Über die Jahre kamen dann immer mehr Menschen hinzu, und so konnte sich vieles entsprechend unseren damaligen Bedürfnissen entwickeln. Das erste war die Gründung der Landschule Lüchow. Am Tag vor der Einschulung der ersten vier Schüler, am 18. August 2006, bekamen wir die Genehmigung für eine Grundschule in freier Trägerschaft mit den Klassen 1 bis 4. Im selben Jahr wurde in Mecklenburg-Vorpommern die schulartunabhängige Orientierungsstufe in den Klassen 5 und 6 eingeführt. Da die weiterführenden Schulen dadurch erst mit der 7. Klasse begannen, beantragten wir noch im ersten Schuljahr die Erweiterung bis Klasse 6. Diese wurde jedoch, auch nach mehreren Anläufen, nicht genehmigt. Die Schule entwickelte sich prächtig. Nach vier Schülern im ersten Jahr hatten wir zwölf im zweiten, 27 im dritten und 36 im vierten Schuljahr. Der Unterricht fand klassenübergreifend in zwei Gruppen statt. So hatten wir im vierten Jahr zwei Klassenlehrerinnen mit einer vollen Stelle und fünf Fachlehrer auf Stundenbasis sowie vier Erzieherinnen für Hort und Kindergarten, eine Köchin und einen Hausmeister. Das erste Klassenzimmer wurde schnell zu klein, und so schmiedeten wir Pläne für ein richtiges Schulhaus. Am Ende gab es drei Gebäude: ein Versammlungshaus, genannt Dorfhaus, Baujahr 2007, ein im Jahr 2008 von 50 Wandergesellen errichtetes Stall- und Werkstattgebäude und schließlich das 2009 fertiggestellte Schulhaus mit vier Klassenzimmern, einem Raum für Musik und Bewegung sowie einem Lehrerzimmer. Die ersten drei Jahre Schulbetrieb ohne staatliche Zuschüsse und den Bau der Schulgebäude konnten wir durch großzügige Spenden vieler Freunde und den unermüdlichen ehrenamtlichen Einsatz der Eltern, auch bei der Organisations- und Verwaltungsarbeit, finanziell meistern. Im Sommer 2010 begann unser fünftes Schuljahr. Das politische Klima bezüglich freier Schulen war in Mecklenburg-Vorpommern damals noch etwas rauher geworden. Das bekamen wir zu Schuljahresbeginn zu spüren, als wir einen mit staatlichem Abschluss qualifizierten Lehrer wegen angeblich unzureichender Qualifikation nicht einstellen durften. Ab September blieben ohne Ankündigung oder Begründung die staatlichen Zuschüsse aus. Im Wochentakt wurden, mit unterschiedlichsten Begründungen, Schulschließungsverfahren eingeleitet (Anhörungen). Dagegen konnten wir uns noch bis zu den Herbstferien wehren. Am 29. Oktober 2010 wurde uns dann ein Schließungsbescheid zugestellt. Eine Eilklage dagegen blieb erfolglos, so dass wir nach den Winterferien, im Februar 2011, den Schulbetrieb einstellen mussten. Eingebettet war die Schließung unserer Schule in eine Schließungswelle, die auch zehn weitere kleine Schulen auf dem Land betraf – mit dem erklärten Ziel der Landesregierung, der ungebremsten Vermehrung freier Schulen einen Riegel vorzuschieben. Das war für uns ein großer Schock. Alle Schülerinnen und Schüler mussten die Schule wechseln, und sämtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren von einem auf den anderen Tag arbeitslos. Zusätzlich riss die Abwicklung der Schule ein riesiges Loch in die Vereinskasse. Dank großzügiger Unterstützung konnten wir die Insolvenz des Vereins abwenden und bekamen dadurch die Möglichkeit, uns gegen die als willkürlich und ungerecht empfundene Schulschließung in einem regulären gerichtlichen Verfahren zu wehren. Wir hatten auch unseren Schülerinnen und Lehrern versprochen, dass wir alles, was in unseren Möglichkeiten stand, versuchen würden, um den Schulbetrieb wieder aufzunehmen. Das Gerichtsverfahren schleppte sich über sieben Jahre hin, von Instanz zu Instanz. Jeder Tag zehrte an unserem Durchhaltewillen – und da sowohl die Eilverfahren wie auch das Verwaltungsgericht Schwerin dem Ministerium recht gegeben hatten, sah es lange nicht danach aus, dass wir gewinnen würden. So sehr wir auch von der Rechtswidrigkeit des Schließungsbescheids überzeugt waren, so hat uns seine Aufhebung durch das Oberverwaltungsgericht Greifswald am 24. Januar dieses Jahres doch überrascht. Damit bestätigt das Urteil auch gleichzeitig die Qualifikation unserer Klassenlehrerinnen sowie eine ordentliche Schulführung. Um es kurz zu machen – nach sieben Jahren haben wir jetzt den Rechtsstreit gewonnen! Wir dürfen unsere Schule weiter betreiben, und – ja, wir werden in diesem Sommer, am 20. August, die Schultüren wieder öffnen! Für die Betreuung der Dorfkinder ist neben der Schule auch noch ein Kindergarten entstanden. Die Familiengruppe besuchen aktuell 15 Kinder im Alter von 0 bis 7 Jahren, die von zwei Erzieherinnen begleitet werden. Sozialer und kultureller Mittelpunkt des Dorfs ist unser Gemeinschaftshaus mit einem großen Versammlungsraum. Das Haus steht allen Dorfbewohnern zur Verfügung, auch für private Feiern und Feste. Regelmäßig gibt es dort den Mittagstisch; nicht ganz so regelmäßig wird der Pizzaofen angeheizt. In einem Raum befindet sich der Dorfladen, in dem im Dorf erzeugte oder beim Großhändler bezogene Lebensmittel angeboten werden. Etwas Besonderes sind die vom ganzen Dorf gemeinschaftlich organisierten Veranstaltungen wie das Kulturcafé, das jeden ersten Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr ein Konzert mit leckeren selbstgebackenen Kuchen und Torten kombiniert. Das jährliche Sommerfest im Juli dreht sich einen ganzen Tag um Freude und Spiel, Kunst und Kultur sowie viel Musik. Unser neuestes Projekt ist eine betreute Seniorenwohnung im neu errichteten Mehrgenerationenhaus. Dort wohnen bereits sechs ältere Menschen mit ganz unterschiedlichem Betreuungsbedarf zusammen. Hier in Lüchow ist in den letzten Jahren viel entstanden, das unserer Vorstellung von einem guten Leben entspricht; es gibt aber auch vieles, das noch auf Realisierung wartet. So träumen wir zum Beispiel immer noch von einem kleinen Bauernhof und von Emma, der Kuh. Erfreulich zahlreich sind die Anmeldungen von Schülern für das kommende Schuljahr, was aber vor allem noch fehlt, sind eine passende Lehrerin oder ein passender Lehrer sowie eine Erzieherin bzw. ein Erzieher. Den vielen Menschen, die uns in den letzten Jahren unterstützt haben, sind wir sehr dankbar. Wer uns besuchen möchte, ist herzlich zu unserer Schuleröffnungsfeier am 18. August auf dem Schulhof der Landschule Lüchow eingeladen.
Johannes Liess(48) lebt mit seiner Familie seit 15 Jahren in Lüchow und arbeitet dort theoretisch wie praktisch an der Entwicklung einer lebendigen und nachhaltigen Dorfgemeinschaft.