Die Samin-Gemeinschaft auf Java verteidigt standhaft ihre Landbasis.von Christina Schott, erschienen in Ausgabe #49/2018
Jochen Schilk hat den Artikel für Oya 49 ausgewählt. Er schreibt: Christina Schotts Reportage über die aus dem antikolonialen Kampf hervorgegangene indigen-humanistische Gemeinschaft der »Samin« auf der indonesischen Insel Java erschien erstmals im Buch »Völlig utopisch – 15 Beispiele einer besseren Welt« (herausgegeben von Marc Engelhardt, Pantheon, 2014). Die Geschichte bewegte mich nicht nur wegen des mutigen Einsatzes dieser Menschen für den Erhalt ihrer Landbasis, die von industriellem Extraktivismus bedroht ist (ihr Engagement hat schließlich auch andere Bevölkerungsteile angesteckt). Ganz besonders faszinierend finde ich auch die Entstehungsgeschichte der Samin sowie die ihrer Lebensweise zugrundeliegenden egalitären Werte, die an die anarchistischen Philosophien des Westens und zugleich an matriarchale Völker denken lassen. Ich bin froh, dass wir Christina Schotts Einverständnis bekommen haben, ihre Reportage – in der gleich mehrere Oya-Themen aufscheinen – nachzudrucken. Ich habe dem Text am Schluss einige Aktualisierungen hinzugefügt.
Die Straße, die durch den Bezirk Gerobogan im zentraljavanischen Landkreis Pati führt, ist ein einziges Schlagloch. Links und rechts erstrecken sich saftig grüne Reisfelder und Cassavapflanzungen, dazwischen immer wieder der Blick auf einen türkis schimmernden Fluss, der sich durch üppige Bambus- und Kokospalmenhaine schlängelt. Gelegentlich holpert der Weg durch kleine, gepflegte Dörfer mit traditionellen Holzhäusern, deren hohe Giebeldächer bis über die Fenster herab reichen. Überall blühen Bougainville und Hibiskus. Mitten in dieser Idylle prangen plötzlich riesige Protestbanner mit der Aufschrift »Lasst uns das Kendeng-Gebirge retten, wehrt euch gegen den Bau der Zementfabrik!«. Wie zur Mahnung erheben sich dahinter die kahl gerodeten Ausläufer des Kalksteingebirges Gunung Kendeng. Wer genauer hinsieht, entdeckt überall am Straßenrand angespitzte Bambusstangen, rotweiß angemalt in den indonesischen Nationalfarben. Unter einem der Banner wartet mit verschränkten Armen ein Mann in einem groben Baumwollhemd, schwarzen Dreiviertelhosen und Sandalen, dazu trägt er den traditionellen Bambusspitzhut der Bauern. Gunretno ist der Initiator des Protests. Wie viele Indonesier hat er nur einen Namen. »Dies ist die Kampfansage der Dörfler hier gegen die Politiker und Investoren, die unsere Heimat zerstören wollen«, erklärt der 45-jährige Familienvater. »Knapp 4000 Hektar Land würde die geplante Fabrik benötigen, außerdem würde sie all unsere Quellen und Grundwasservorräte ausschöpfen, die Flüsse würden austrocknen und mit ihnen die Reisfelder. Wovon sollen wir dann leben?« Sein intensiver Blick strahlt eine große Autorität aus – ein Mann, der gewohnt ist, sich durchzusetzen.
Die Saministen ecken mit fundamental anderen Werten an Gunretno ist selbst Bauer. Er lebt von dem, was die Erde hergibt. Und entscheidender noch: Er gehört zur Samin-Gemeinschaft, deren Mitglieder sich selbst lieber »Sedulur Sikep« nennen, was etwa so viel heißt wie »Geschwister, die sich umarmen«. Während sie wegen ihrer einfachen Lebensweise und altmodischen Kleidung auch schon mal als »Amische Indonesiens« bezeichnet werden, zeigen sich die Saministen in vielen ihrer Denkweisen moderner als ihre Mitbürger. Ganz anders als die größtenteils sehr obrigkeitshörigen Javaner halten sich die Sedulur Sikep nicht an von oben verordnete Regeln, wenn diese in ihren Augen keinen Sinn ergeben. So weigern sie sich seit mehr als hundert Jahren, Steuern an einen korrupten Staatsapparat zu zahlen, ignorieren den gesetzlichen Religions- und Schulzwang und wehren sich gegen die staatlich geförderte Zerstörung ihrer Region durch Großindustrien. In ihrer Heimat gelten Gunretno und seine drei Jahre jüngere Schwester Gunarti als »tokoh«, als wichtige Figuren des öffentlichen Lebens, die die Interessen der Anwohner vertreten. Vertreter aus Politik und Wirtschaft bezeichnen sie dagegen gern als Aufwiegler und Unruhestifter. Ohne die Sturköpfigkeit der Sedulur Sikep – wie es die Behörden nennen – wäre der seit Jahren anhaltende Protest gegen den Gesteinsabbau und andere Umweltzerstörungen am Gunung Kendeng undenkbar. In der javanischen Kultur geht nichts über die Bewahrung des harmonischen Zusammenlebens. Dazu gehört, immer sein Gesicht zu wahren und zivilen Gehorsam zu zeigen, selbst wenn daraus Nachteile für sich selbst oder andere entstehen. Das Grundprinzip der Saministen dagegen ist schonungslose Ehrlichkeit. Niemand darf außerdem etwas besitzen, das auch anderen zusteht – wie die Erde, die für alle da ist. Mit Hilfe dieser Richtlinien wehrten sich die Bauern der Region bereits erfolgreich gegen ein Großprojekt, das ihre Lebensgrundlage zerstört hätte: Trotz jahrelanger, teils gewaltsamer Bedrohungen gewannen sie 2009 das Verfahren gegen das Staatsunternehmen Semen Gresik auf allen Ebenen. Nun – 2013 – drängen bereits fünf neue Großprojekte in die Region, die sich mit ihren Kalkstein- und Tonerdevorräten ideal für die Zementherstellung eignet, darunter die Firma Indosemen, deren Hauptinvestor die deutsche HeidelbergCement-Gruppe ist. Auch auf diese Projekte wartet der Widerstand der angeblichen Hinterwäldler. Gunretno, der Initiator der Protestbewegung, sitzt unbeeindruckt von seinen Gegnern in seinem traditionellen Limasan, einem schlichten Holzbau mit Lehmboden. Dahinter schließt sich ein modernes Backsteinhaus an, das er seiner Familie vor einigen Jahren von den Erträgen seiner organischen Landwirtschaft bauen konnte. An zwei langgestreckten Tischen, umringt von einem Sammelsurium aus Bänken und Stühlen, empfängt Gunretno mit seiner Frau Hartati und ihren vier Kindern den Besucherstrom, der ständig zum inoffiziellen Kopf des Dörfchens Bombong drängt. Jeder wird eingeladen, keiner verlässt den Raum, ohne vorher von der Familie mit Reis und Gemüse oder zumindest mit einer Tasse Tee und gebratenen Bananen bewirtet worden zu sein. Über dem charismatischen Hausherrn hängt ein großes Porträt von Surosentiko Samin, dem Gründer der Sedulur-Sikep-Gemeinschaft.
Adeliger Analaphabet erfand den Anarchismus neu Der auf dem Bild grimmig dreinguckende Vordenker wurde 1859 in einem zentraljavanischen Dörfchen nahe der Stadt Blora unter dem Namen Raden Kohar geboren. Der Sohn des verarmten Zweigs einer adligen Familie wuchs als Analphabet in bäuerlicher Umgebung auf. 1890 begann er, den holländischen Kolonialherren passiven Widerstand zu leisten, indem er keine Steuern zahlte und trotz eines Verbots der Obrigkeit weiterhin den gemeinschaftlichen Teakwald für den alltäglichen Bedarf der Bauerngemeinde nutzte. Ohne je mit liberalen oder anarchistischen oder kommunistischen Lehren aus Europa in Berührung gekommen zu sein, predigte Samin seinen Anhängern die Grundsätze von Freiheit und Gleichheit: Niemand sollte aufgrund seines Geschlechts, seines Alters oder seiner gesellschaftlichen Stellung benachteiligt werden, gleich ob es sich dabei um die Nutzung natürlicher Erträge oder Entscheidungen im Zusammenleben handelte. Die Grundlagen der Lehre Samins sind Wohltätigkeit und absolute Ehrlichkeit; Neid und Tratsch gelten als schlimme Vergehen. Niemand darf auf Kosten anderer Gewinn erhandeln, alle müssen von dem leben, was die Erde hergibt. Von oben auferlegte Gesetze, sei es durch eine ferne Landesregierung oder religiöse Führer, haben keine Bedeutung. Anfangs folgten ihm nur die Nachbarn aus seinem damaligen Wohnort Klopoduwur, doch Samins Lehren breiteten sich schnell über die Nachbardörfer bis hin zum rund hundert Kilometer entfernten Kendeng-Gebirge aus. 1903 noch taten die Holländer die etwa 700 Anhänger zählende Bewegung als unbedeutende Sektierer ab. Vier Jahre später jedoch folgten Samin bereits 5000 Menschen: Die Kolonialherren wurden nervös und fingen an, die Köpfe der Gemeinschaft zu verhaften. Surosentiko Samin und acht weitere Mitstreiter wurden nach Westsumatra verbannt, wo der Gewalt ablehnende Revolutionär 1914 starb. Nicht so jedoch seine Bewegung. Als die Holländer nach Samins Tod die Steuern weiter erhöhten, widersetzten sich viele Bauern in den Regionen Gerobogan und Purwodadi sowohl den Dorfoberen als auch der Polizei. Angesichts des landesweiten Unabhängigkeitskampfs der Indonesier gerieten die Sedulur Sikep in Vergessenheit, doch lebten sie im Stillen die Lehren ihres Gründers weiter. Die Regierung der neugegründeten Republik Indonesien war daher genauso überrascht wie zuvor die Holländer, als sie sich nach der Unabhängigkeit erneut dem Widerstand der Samin-Bauern gegenüber sahen, die nach wie vor keine Steuern zahlen wollten. Außerdem verweigerten sie den staatlichen Zwang, sich zu einer Religion zu bekennen, genauso wie der neu eingeführten Nationalsprache. Bis heute sprechen sie nur Javanisch, und zwar die unterste der fünf verschiedenen Höflichkeitsstufen der Sprache, bei der weder auf Alter noch soziale Stellung des Gesprächspartners Rücksicht genommen werden muss. Weil sie auch seither nie vom Staat erfasst wurden, weiß niemand genau, wie viele Samin-Gemeinschaften aktuell über den Norden der Provinz Zentraljava verteilt leben. Gunretno schätzt die Zahl in seinem Landkreis auf rund 500 Familien, von denen knapp die Hälfte in seinem Heimatdorf Bombong leben.
Starke Charaktere Bis heute ist es vor allem die Ablehnung des Religionszwangs sowie der Schulpflicht, die die modernen Saministen in Konflikt mit der Regierung bringt. Doch sie haben auch diesen lang andauernden Kampf vorerst für sich entschieden: Obwohl jeder Indonesier eine staatlich anerkannte Religion angeben muss, um einen Personalausweis zu erhalten, dürfen die Sedulur Sikep die Angabe der Glaubensrichtung auslassen. Auch dieser Erfolg wäre nicht denkbar ohne die hartnäckige Ausdauer von Gunretno und seiner Familie. Immer wieder haben sie Gesetzestexte gewälzt, um den offiziellen Instanzen bis in die Hauptstadt Jakarta zu beweisen, dass sie im Recht seien. Selbst die neueste Version des elektronischen Ausweises, bei der es die Option »Sonstige« für religiöse Minderheiten gibt, wollten sie nicht akzeptieren. »Wir glauben an das, was der Mensch geschaffen hat, was wir mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören – nicht an Vorstellungen, die wir nicht beweisen können«, erklärt Gunretnos Schwester Gunarti. Wie ihr Bruder strahlt die 38-Jährige, der man die auf Reisfeldern und in Kuhstall und Garten schuftende Bauersfrau nicht ansieht, große Würde aus. Trotz ihrer einfachen Baumwollkleidung wirkt sie mit ihrem straffem Dutt und dezentem Goldschmuck sehr elegant. Ihr Gegenüber mustert sie mit intensivem Blick durch eine schmalrandige Brille. »Unser wichtigstes persönliches Ziel ist ein starker Charakter – nur so können wir unsere Grundsätze im Leben behaupten«, sagt die Mutter von drei Kindern. Zwar lehnen die Saministen eine formale Schulausbildung ab, da sie ihre Kinder nicht in irgendein vom Staat oder einer Religion vorgegebenes Schema pressen wollen. Ihre Nachkommen sollen nichts anderes als Bauern werden und allein durch Lebenserfahrung lernen. Doch ist Gunarti der Meinung, dass jedes Kind, das etwas lernen möchte, auch ein Recht darauf hat. So begann sie vor einigen Jahren, ihre Kinder, Nichten und Neffen zu Hause in Lesen, Schreiben und Rechnen zu unterrichten – zunächst gegen den Willen eines Teils der Gemeinschaft. Doch da die Lehren Samins nicht gegen eine informelle, freiwillige Bildung sprechen und der Unterricht nach verrichteter Arbeit bei Einbruch der Dunkelheit stattfindet, haben mittlerweile alle diese Regelung akzeptiert. »Es geht nicht darum, dass unsere Kinder klüger als andere werden«, erklärt Gunarti. »Vielmehr wäre es eine Gefahr für ihre Charakterbildung, wenn sie von anderen als ungebildet verspottet würden.« Dass der Nachwuchs durchaus an der Entwicklung im Rest der Welt teilnimmt, zeigen die Organisation neuer Bauernproteste über Facebook und Twitter sowie am Computer selbstproduzierte Videos. Im Grunde haben erst die erfolgreichen Proteste gegen die Zementfabriken sowie die Medienberichte darüber die Saministen wieder ins Bewusstsein der indonesischen Öffentlichkeit gebracht. »Es gab Zeiten, in denen Recherchen und Veröffentlichungen über die Sedulur Sikep verboten waren«, erzählt Parwadi, der vor seiner Pensionierung bei der Planungs- und Entwicklungsbehörde in der Kreishauptstadt Blora gearbeitet hat. Der 66-Jährige wuchs in der Nachbarschaft einer Samin-Gemeinde auf. Seit den 1980er Jahren hat er inoffiziell Forscher mit Kontakten unterstützt, die sich ernsthaft mit den Hintergründen der Samin-Bewegung beschäftigen wollten. »Es kursieren bis heute zu viele falsche Informationen über diese Menschen – manche reden über sie sogar wie von einem Stamm von Ureinwohnern«, erklärt der Ex-Beamte. Parwadi bewundert die Bauern für ihren Mut zur Eigeninitiative: »Bis zum Sturz des Suharto-Regimes 1998 war in Indonesien keine Diskussionskultur möglich. Die Menschen müssen erst wieder lernen, eigene Entscheidungen zu treffen.«
Freiheit in Gemeinschaft Heute ist Parwadi allerdings nicht wegen einer Protestaktion nach Bombong gekommen, sondern um einer Hochzeit beizuwohnen: Ein Neffe Gunretnos heiratet ein Samin-Mädchen aus dem Dorf. Die nur teils befestigte Straße ist rappelvoll mit Menschen. Die meisten tragen das traditionelle Schwarz der Sedulur Sikep, doch auch viele andere Gäste wollen den Brautfamilien ihre Glückwünsche überbringen. In der Dämmerung drängen sich Mopeds und schwer beladene Pickups durch die Menge, um immer noch mehr Hochzeitsgäste abzuladen. Alle drängen zum schlichten Bauernhaus der Brauteltern, das aus allen Nähten zu platzen scheint. Im Inneren kauern Dutzende Frauen in dunklen Spitzenblusen und Batikröcken auf Bastmatten am Boden, die Haare tragen sie streng zurückgekämmt. Dazwischen sitzen auch einige muslimische Nachbarinnen mit Kopftüchern. Vor ihnen stehen die Männer in kragenlosen, schwarzen Hemden, Dreiviertelhosen und traditionellem Batikkopfschmuck um eine abgewetzte Sitzgruppe. Dort hält der 22-jährige Karfulnoto gerade offiziell um die Hand seiner 19-jährigen Freundin Yana an, die mit Blumenschmuck im Haar aufgeregt um die Ecke lugt. Die Brauteltern stimmen mit ernster Miene zu und bitten die Umstehenden ebenfalls um ihre Einwilligung. »Sah« antworten diese einstimmig, was so viel heißt wie »gültig. Die Brautleute dürfen von nun an mit dem Segen der Gemeinschaft als Ehepaar zusammenleben. Nach dieser schlichten Zeremonie stürzen sich die Gäste auf das Hauptprogramm des Abends: das Essen. »Wir brauchen weder Papiere vom Staat noch irgendeine religiöse Erlaubnis, um zu heiraten«, bemerkt Gunretno, während er einen Klebreiskuchen aus einem Bananenblatt wickelt. »Wichtig ist, dass die Gemeinschaft einverstanden ist – und natürlich das Brautpaar selbst.« Bei den Sedulur Sikep sind arrangierte Ehen zwar durchaus üblich. Beinahe revolutionär erscheint jedoch das Mitspracherecht, das die zu Vermählenden dabei haben: Yana und Karfulnoto zum Beispiel durften zwei Monate zusammenwohnen, bevor sie sich für oder gegen die Ehe mit dem anderen entscheiden mussten. Selbst Sex ist in dieser Probephase kein Tabu, und eine Ablehnung des potenziellen Ehepartners bringt der Familie keine Schande – ein undenkbarer Vorgang in den Augen der mehrheitlich muslimischen Javaner außerhalb der Samin-Gemeinschaften. Wer einmal bei den Sedulur Sikep eingeheiratet hat, muss sich den Regeln beugen. Auch ein Austritt ist möglich und kommt durchaus vor – meist ebenfalls durch Heirat mit Nicht-Saministen. Die Betreffenden werden deswegen keineswegs von ihren Familien oder Freunden verstoßen, allerdings dürfen sie nicht mehr an den wöchentlichen Versammlungen teilnehmen und über das Schicksal der Gemeinschaft mitentscheiden. »Wir sind schließlich keine zurückgezogene Sekte, die sich von allen anderen absondern will«, sagt Gunarti, die mit ihrer Familie im Nachbardorf Bowong wohnt, wo nur noch 15 Samin-Familien unter den ansonsten hauptsächlich muslimischen Einwohnern leben. Doch bei aller demonstrativen Offenheit treten viele Nachbarn den Sedulur Sikep immer noch mit Vorurteilen gegenüber. Es ist das Thema Religion, das die meisten Missverständnisse mit sich bringt: Wer nie in eine Moschee, eine Kirche oder einen Tempel zum Beten geht, erweckt Misstrauen in einem Land, in dem Atheismus kriminalisiert wird. So war es auch ein langwieriger Prozess, bis sich die Dörfler der von Samin-Anhängern initiierten Protestbewegung gegen den Zementabbau anschlossen.
Die Anfänge des Protests Als 2005 immer mehr Spekulanten in der Gegend auftauchten, um angesichts der steigenden Benzinpreise angeblich Flächen für Biodieselprojekte anzukaufen, wurde Gunretno hellhörig. Mit Hilfe der Bauernvereinigung des Bezirks Pati informierte er sich über die Hintergründe und fand so die von der Regierung unterstützten Pläne für die Zementproduktion heraus. Daraufhin begann er mit seiner Gemeinschaft, Infoveranstaltungen in den betroffenen Dörfern zu organisieren, um die Bauern darüber aufzuklären, welche Folgen dieses Vorhaben für das Ökosystem der Region hätte – und somit auch für ihre Lebensgrundlage, den Reisanbau. Ausdrücklich waren auch die offiziellen Entscheidungsträger zum offenen Dialog mit der Bevölkerung eingeladen, doch außer einem einzigen Beamten der regionalen Forstbehörde kam keiner. Stattdessen gab es Einschüchterungsversuche, und Gunretno wurde wegen Volksaufwiegelung angezeigt. Es stellte sich heraus, dass die Gegenseite bereits viele Dorfchefs bestochen hatte. Also wurden die Frauen aktiv. In harmlos scheinenden Nachmittagsrunden trafen sich Gunarti und ihre Schwägerin Hartati mit der weiblichen Dorfbevölkerung. Bei Tee und Reiskuchen informierten sie die Dörflerinnen über die Umweltzerstörung und die sozialen Veränderungen, die die Fabriken mit sich bringen würden. Zunächst glaubten die Javanerinnen nicht daran, dass sie in ihrer männerdominierten Gesellschaft etwas bewegen könnten, doch die Samin-Frauen erklärten ihnen hartnäckig immer wieder ihre Rechte. »Drei Jahre hat es gedauert, bis wir endlich alle überzeugt hatten«, erzählt Gunarti. »Als das Vertrauen da war, haben auf einmal so viele mitgemacht, dass wir völlig überwältigt waren.« So demonstrierten im Januar 2009 Tausende von Frauen in den Reisfeldern, als Regierungsbeamte zusammen mit den Managern von Semen Gresik den Standort für die geplante Fabrik besichtigen wollten. Nicht zuletzt die unbeholfenen Reaktionen der örtlichen Polizei auf die geballte Frauen-Power führte dazu, dass bald auch die männliche Dorfbevölkerung auf der Seite der Demonstrantinnen stand. Die Häuser von Gunarti und Gunretno verwandelten sich fortan in eine Planungszentrale für die Proteste. Der ständige Besucherstrom nahm solche Ausmaße an, dass die »Simbar Wareh«, wie sich die Frauenbewegung mittlerweile nach einem Dorf nahe des Projektstandorts nannte, 2009 mit den Erlösen einer Spendenaktion ein Versammlungshaus errichteten. Um ein Zeichen zu setzen, wurde das einfache, halboffene Gebäude im Wald ganz ohne Zement erbaut – stattdessen hält eine Mischung aus zermahlenem Kalkstein, Kreide und Backsteinen die Wände zusammen. Hier treffen sich nicht nur Angehörige der verschiedenen Samin-Gemeinschaften, sondern Frauen- und Jugendgruppen aus den benachbarten Dörfern genauso wie Gamelan-Musiker oder Veranstaltungskomitees. Auf dünnen Kapokmatratzen übernachten regelmäßig auswärtige Gäste, darunter europäische Journalisten, amerikanische Sozialforscher oder Umweltaktivisten aus Australien. An den Wänden dokumentieren zahlreiche Fotos die Geschichte der Anti-Zement-Bewegung: Auf einem ist zu sehen, wie die Vize-Gouverneurin der Provinz Zentraljava der Anführerin der Frauen-Proteste gratuliert, nachdem das Gericht gegen den Bau der Semen-Gresik-Fabrik entschieden hatte. »Wir hatten einmal Erfolg, doch der Kampf ist noch lange nicht vorbei«, sagt Gunarti, deren jüngster Sohn Kohar am Tag des Urteils zur Welt kam. Ihr größter Wunsch sei, dass ihre Kinder einmal die Traditionen der Sedulur Sikep fortführten – trotz aller Einflüsse von Fernsehen, Facebook und Globalisierung. »Wir wollen von niemandem abhängig sein, nicht von der Regierung, nicht von einem Gott«, erklärt sie bestimmt. »Abhängig sind wir nur von der Erde, die wie unsere Mutter ist. Ohne sie können wir nicht leben. Wer sie zerstört, tötet erst uns und dann ganz langsam alle anderen, auch sich selbst. Nur sind die meisten anderen sich darüber noch nicht im Klaren.«
Redaktionelle Aktualisierung
Christina Schott hat ihre Reportage im Jahr 2013 recherchiert. Die nachfolgende Auflistung der wichtigsten Ereignisse im Kampf der zentraljavanischen Bevölkerung für die Unversehrtheit ihrer Landbasis will den Text aktualisieren und einen chronologischen Überblick bieten. Nachdem der Konzern PT Semen Gresik im Jahr 2006 erstmals Pläne angekündigt hatte, im Bezirk Pati Kalk für eine neu zu errichtende Zementfabrik abbauen zu wollen, reichten Mitglieder der Samin-Gemeinschaft, die sich mit weiteren Anwohnern in einer Bürgerinitiative organisiert hatten, 2009 Klage gegen das Vorhaben ein. Der Prozess ging bis vor das oberste Gericht Indonesiens, das die Industrieanlage im landwirtschaftlichen Gebiet schließlich für nicht genehmigungsfähig erklärte. Daraufhin zog sich Semen Gresik aus dem Gebiet von Pati zurück, um später – inzwischen als Semen Indonesia – an einem anderen Ort im Kendeng-Gebirge neu zu planen. Die Samin-Aktivistinnen und -Aktivisten gaben ihre Erfahrungen aus dem Widerstand an die Bevölkerung der betroffenen Gebiete weiter. Doch auch in ihrer engeren Nachbarschaft verfolgt eine weitere Gesellschaft der Indocement-Gruppe, zu deren Eignern der deutsche Konzern HeidelbergCement (HC) gehört, neue Pläne zur Errichtung einer Fabrik. Zu den seither durchgeführten Widerstandsaktionen gehört auch eine Informations-Tour, die im Frühjahr 2017 durch zehn deutsche Städte führte. Gunarti hatte sich gegen ihre Prinzipien sogar einen Pass ausstellen lassen. So konnte sie die Tour, bei der u. a. der Dokumentarfilm »Samin vs. Semen« gezeigt wurde, gemeinsam mit dem Filmemacher Dandhy Dwi Laksono begleiten. Gunartis Reise führte sie auch in die Aktionärsversammlung von HC, wo sie Gelegenheit hatte, den Anteilseignern zu erzählen, was die Zementfabriken in ihrer Heimat anrichten. Ein Jahr zuvor, im April 2016, hatten sich bei einer Protestaktion vor dem Präsidentenpalast in der indonesischen Hauptstadt Jakarta erstmals neun Frauen die Füße einzementieren lassen; symbolisch demonstrierten sie damit, wie sehr der Kalksteinabbau sie und ihre Nachfahren lähmen würde. Der Präsident sagte darauf ein Moratorium zu, während eine Umweltstudie vorgenommen werden würde. Doch weil die Arbeiten am Fabrikvorhaben dessen ungeachtet weitergingen, wiederholten die Frauen ihre Aktion im März 2017 mit 50 weiteren Menschen, die ihre Mahnwache zehn Tage lang aufrechterhielten. Bereits zweimal – im Mai 2017 und 2018 vor der Aktionärsversammlung von HC – wurde die Protestform des öffentlichen Einzementierens auch in Heidelberg durchgeführt, während in diesem Jahr zeitgleich vor der deutschen Botschaft in Jakarta neun namhafte Wissenschaftler auf dieselbe Weise ihre Solidarität bekundeten (siehe Foto). Gunretno wurde schließlich von einem Botschaftsmitarbeiter empfangen und konnte das Anliegen der Menschen vom Kendeng-Gebirge vorbringen. In Deutschland verlasen derweil Aktivistinnen einen Brief, in dem sich Gunarti abermals an den Vorstandsvorsitzenden und die Aktionäre des Unternehmens richtet. Ihr berührender Appell an die »Brüder und Schwestern« von der Aktiengesellschaft kann ebenso im Netz abgerufen werden wie diverse andere Interviews und Reportagen zum Thema.
Christina Schott (46) hat das Korrespondennetzwerk Weltreporter.net mitbegründet und berichtet seit 2002 aus Südostasien. Ihre Themenschwerpunkte sind Umwelt, Energie und Klimawandel sowie Gesellschaft, Kultur und Reise.