Sieben Frauen übersetzen ein mittelalterliches Modell für gemeinschaftliches Wohnen im Alter ins Heute.von Susanne Hülsenbeck, erschienen in Ausgabe #50/2018
Es ist ein strahlender Sommertag, als ich mich auf den Weg zu einer besonderen Gemeinschaft mache. Wennenden heißt das kleine Dorf, das zu Blaubeuren bei Ulm gehört und zur Heimat von sieben Frauen werden soll, die an eine alte Tradition anknüpfen: Sie gründeten jüngst den 17. Beginenhof in Deutschland. Auf dem Weg dorthin versuche ich, mir vorzustellen, wie die moderne Form einer im Ursprung mittelalterlichen Gemeinschaft aussehen kann – denn so alt ist die Idee: Seit dem 12. Jahrhundert lebten in Belgien, Holland und Deutschland Frauen allein und selbständig in sogenannten Beginenhöfen in eigenständigen Gemeinschaften; zwar geschützt von Kirche und Kloster, aber außerhalb der Klostermauern und ohne ein Gelübde ablegen zu müssen, waren sie ein Schutzraum vor allem für solche Frauen, die sonst nicht frei, unverheiratet und als »selbständige Unternehmerin« leben konnten. Es verwundert nicht, dass die Frauen dort meist lange – in der Regel bis zu ihrem Tod – blieben. Und so wurden die Beginenhöfe Europas zu einem Zuhause vor allem für ältere Frauen. Doch welchen Sinn ergibt eine Gemeinschaft von Beginen heute? Erwarten mich in Wennenden ernste und intellektuelle Gespräche oder eher archaischer Hexenzauber? Im Dorf angekommen, bin ich fast enttäuscht, denn dieser Ort ist ein kleiner Flecken, aber seine Häuser wirken nicht wie aus der Zeit gefallen, sondern im Gegenteil sehr zeitgemäß. Hat mich meine Fantasie eingefangen? Auf den ersten Blick, mit dem ersten Fühlen schon, kommen Ruhe und Frieden in mir hoch. Ich sehe einen großen, sorgfältig angelegten Garten mit Wegen, einer Holzterrasse, Sitzplätzen; es ist ein Ort, an dem ich mich auf Anhieb wohlfühle. Neben dem Garten erstreckt sich ein moderner, weiß gestrichener Gebäudekomplex. Ein Blick durch eines der Fenster in einen schönen, großen Raum zeigt mir, dass die Bewohnerinnen offensichtlich viel Zeit und Liebe für die Gestaltung ihres Heims aufbringen. Fröhliches Lachen empfängt mich, als ich durch die offene Tür in einen kleinen Flur eintrete. Einen Raum weiter treffe ich sie dann in der großen Gemeinschaftsküche, die Frauen einer Beginen-Gemeinschaft des 21. Jahrhunderts – und ich bin schon wieder überrascht: Viel hatte ich mir vorgestellt, aber nicht diese Gruppe ausgelassener, grauhaariger und bunt gekleideter Frauen um die Sechzig, die unter lautem Gelächter zusammen kochen und dabei wie junge Mädchen wirken. Die Gemeinschaft nimmt mich für heute herzlich in ihre Mitte auf, und ich bringe mich gerne ein in das unbeschwerte Miteinander, rasch ausgestattet mit einem Küchenmesser und Gemüse schneidend. Ein zweiter Blick auf die Gruppe offenbart ein ganzes Spektrum verschiedener Frauen. Nach dem Essen, als wir im Gespräch zusammensitzen, kann ich mir ein klareres Bild vom Projekt machen. Ursa Illgen ist eine von drei Frauen, die schon lange hier wohnen. »Irgendwann«, so sagt sie, »entstand der Gedanke, eine lebendige Gemeinschaft eigenständiger Frauen zu gründen, die sich ein selbstbestimmtes, eigenverantwortliches Leben auch im Alter wünschen, für sich und im gelebten Miteinander. Aktiv und mit gegenseitiger Unterstützung wollen wir hier in Würde und mit Übermut alt werden.« Tatsächlich strahlen die sieben Frauen im Alter von 60 bis 77 Jahren, die ich hier erlebe, pure Freude am Leben aus. Doch wie ich erfahre, war es kein ganz leichter Weg bis hierher. Bis sich die jetzige Kerngruppe herausbildete, war ein langer Atem gefragt: Aus den zwei Initiatorinnen wurde zunächst eine Gruppe von 16 Interessentinnen für die Gemeinschaft. Während einer Testphase gab es Zeiten intensiven Miteinanders. Die Frauen wollten vertraut werden miteinander, zusammen an einem gemeinschaftlichen Konzept arbeiten, Kompetenzen auf den Tisch legen, die dem Projekt dienen, einen ehrlichen Umgang proben. Übrig blieben schließlich acht Frauen. Um diese Gruppe auf dem 4000 Quadratmeter großen Gelände unterzu-bringen, musste gebaut werden, denn das bestehende Wohnhaus war bereits ausgelastet. In der turbulenten Planungsphase einigten sie sich zusammen mit den Architekten schließlich auf einzelne, eingeschossige Wohneinheiten in moderner Holzständerbauweise. Wie so oft verzögerte sich der Baubeginn, doch mit etwas Glück werden noch 2018 alle Häuser fertig werden. Im Trubel rund um Kosteneinsparung und neue Wohnplanung wurde es einer Frau zu viel, sie stieg aus. Da waren’s nur noch sieben – sieben Wildentschlossene, die modellhaft zeigen wollen, wie Frauen in der Geborgenheit einer vertrauten Gemeinschaft miteinander alt werden können. Dass es dabei Konflikte gibt – ja, geben muss –, das zeigte sich in der Planungsphase und bis heute immer wieder. Gemeinschaft ist nicht immer nur leicht und freudvoll. Beatrix Hassert weiß das: »Natürlich sind wir nicht perfekt und fallen zurück in ererbte und angeeignete Muster.« Aber sie ist zuversichtlich: »Dass unsere Treffen jede Einzelne herausfordern und verwandeln – und außerdem viel Spaß, Freude und Gelächter mit sich bringen –, gibt uns die Zuversicht, es zu schaffen.«
Solidargemeinschaft Der Beginenhof ist ähnlich wie eine Genossenschaft aufgebaut, bei der jede Begine eine Einlage leistet. Weil ein Beginenhof kein Privateigentum bildet und das Zusammenleben als Solidargemeinschaft gedacht ist, wird es auch eine Wohneinheit für eine finanzschwache Frau geben, der die Einlage geschenkt wird. Darüber hinaus sind Mietzuschüsse möglich. In Kooperation mit der Beginen-stiftung in Tübingen wurde eine gemeinnützige GmbH gegründet. Der Stiftungs-gedanke garantiert, dass der neu geschaffene Wohnraum auch in Zukunft bezahlbar bleiben wird. Hier zeigt sich ein aktueller Bezug zum alten Ansatz. Aber das allein macht nicht den besonderen Reiz des Miteinanders in Wenn-enden aus. Es ist vielmehr, so wird mir klar, diese ungeheure Mischung, dieses Potenzial aus sieben unterschiedlich tickenden Frauen, die sich dem Projekt verschrieben haben. Sirilya von Gagern, eine der Gründerinnen, erkennt in dieser Gemeinschaft deutlich mehr als nur den praktischen Aspekt, der heute in vielen Beginenhöfen vorherrsche: »Bei uns kommt der spirituelle Aspekt als Schwerpunkt hinzu. Unser Projekt lehnt sich an die Bewegung im Mittelalter an. Die ursprünglichen Beginen zeichneten sich nämlich nicht nur durch materielle, sondern auch durch spirituelle Freiheit und Selbständigkeit aus.« Mich interessiert, wie diese gelebte Spiritualität heute aussieht. »Jede von uns«, erklärt Sirilya, »geht diesen Weg mit unterschiedlichen Schwerpunkten und in ihrer persönlichen Freiheit. Hier erleben wir die Wiederbelebung matriarchaler Werte, das Ausleben und die Integration östlicher Weisheiten oder auch schamanisches Wirken. Unsere Vielfalt, unsere individuelle Weisheit durch Wissen und Lebenserfahrung trennt uns nicht, sondern bereichert die Gemeinschaft. Gleichzeitig leben wir spirituelle, weibliche Werte auch in Form von gemeinsamen Meditationen, Jahreskreisfesten und Ritualen im Alltag.« Vor allem letzteres sei ihnen wichtig, denn diese alltäglichen, selbstverständlichen Gesten könnten zur Verbundenheit beitragen. Dazu gehörten der gemeinsame Start in den Tag und das gemeinsame Ausklingenlassen oder der wöchentliche Jour fixe. Unser Gespräch am großen, runden Holztisch dreht sich intensiv um die Vision, die die Frauen teilen: ein an Werten wie Achtsamkeit, Fürsorglichkeit, Schenkkultur und Solidarität ausgerichtetes Zusammenleben; das Ehren und Feiern der zyklischen Kraft und der Liebe zum Leben in allen Erscheinungs- und Ausdrucksformen; der verantwortungsvolle Umgang mit der Erde. Ich frage, welchem Zweck der große, schöne Raum dient, in den ich bei meinem Ankommen hineinsah. Es ist einer von zwei Seminarräumen, die zum Frauenheilehaus gehören, einer einstmals von Ursula Illgen auf die Beine gestellten Initiative. Die Beginen nutzen ihn als Gemeinschaftsraum und für ihre Bildungsangebote nach außen; er ergänzt den Beginenhof auf wunderbare Art und Weise. Längst werden dort eigene Seminare und Workshops veranstaltet, etwa zu Heilkräuterkunst und Schenkökonomie. Draußen ist es während unseres lebhaften Gesprächs inzwischen dunkel geworden. Als ich aufbreche, habe ich angesichts der erlebten Lebensfreude das gute Gefühl, dass der weitere gemeinsame Weg dieser Frauen nur erfolgreich verlaufen kann.
Susanne Hülsenbeck (56) arbeitet als freie Journalistin, Lektorin und Texterin. www.lichtblicktext.de