Warum wir die Grundlage aller Nahrungsmittel als ein Lebewesen betrachten sollten.von Manfred Weber, erschienen in Ausgabe #7/2011
»Jährlich werden weltweit 75 Milliarden Tonnen Boden durch Wind und Wasser erodiert, meistens auf landwirtschaftlichen Flächen. Diese Umweltschäden können so schlimm werden, dass Menschen schließlich gezwungen sind, auf der Suche nach fruchtbarem Ackerland ihre Heimat zu verlassen.« Dieses Zitat aus einer aktuellen Studie der Europäischen Union zum Jahr der Biodiversität 2010 belegt, wie dringlich das Problem der Bodenerosion durch falsche Bodenbearbeitung geworden ist. Seit ich einen eigenen Garten habe, sind mir die genannten Zusammenhänge immer deutlicher bewusst geworden. Ich betreibe die Gartenarbeit auf diesem Stück Land aus Freude an der Selbstversorgung und verstehe mich als Treuhänder des mir anvertrauten Bodens. Meine Aufgabe sehe ich darin, den Boden beständig zu verbessern. Daher habe ich frühzeitig eine Kompostanlage gebaut, um stets genügend gute Erde für meine Hochbeete, zur Pflanzenanzucht und zur Anlage neuer Beete zur Verfügung zu haben. Ich machte schon Erfahrungen in der Zubereitung unterschiedlichster Komposte, habe intensiv, extensiv, flächig kompostiert, lasse selbstverständlich keinen Boden unbedeckt und habe gelernt, auch »Effektive Mikroorganismen« (EM) einzusetzen, weiß also um die Bedeutung des Bodenlebens. Auch mit der aktuellen Entwicklung im Bereich der sogenannten Terra-Preta-Produkte bin ich vertraut. Durch all dieses durchaus praktische Wissen hatte ich jedoch bislang nicht den Eindruck, dem Verständnis dessen, was wir gemeinhin als Boden bezeichnen, wirklich näherzukommen – eher das Gegenteil schien der Fall zu sein.
Mikrokosmos unter unseren Füßen Auf einem Gedanken-Spaziergang kommen wir an einer üppigen Wiese vorbei, auf der 20 zufriedene Kühe in der Morgensonne grasen. Diese Kuhherde bringt es bei einem Lebendgewicht von rund 500 kg pro Tier auf etwa zehn Tonnen Gesamtgewicht. Wovon ernähren sich diese Kühe? Natürlich von den Pflanzen, die auf der einen Hektar großen Wiese wachsen, vermuten wir zu Recht. So weit, so gut, doch wovon ernähren sich die Pflanzen der Wiese? Sie betreiben Photosynthese und holen sich über ihre Wurzeln einiges an Stoffen aus dem Boden, glauben wir zu wissen. Doch was ist der Boden eigentlich, in dem die Pflanze wurzelt? Ein mineralisches Gemisch unterschiedlich fein verwitterter Gesteine? Das auch, doch seine oberste Schicht, oftmals nicht mehr als einige Zentimeter tief, ist bevölkert von einer unglaublichen Vielzahl an kleinen, kleinsten und noch viel kleineren Lebewesen, die in einer wässrigen Umgebung organischer Substanzen leben. Das ist es, was Herwig Pommeresche als Humussphäre bezeichnet. Sie erstreckt sich bei intakten Bodenverhältnissen über alle Kontinente der Welt und ist das »ländliche« Pendant zum Plankton der Meere. Wir wissen von diesem Leben im Boden durch Mikrobiologen, die einen Teil dieser für das bloße Auge unsichtbaren Welt entdeckt und beschrieben haben. Eine Handvoll lebendiger Erde beherbergt mehr Mikroorganismen, als es Sterne in unserer Milchstraße gibt, und wir kennen von diesen Mikroben erst etwa ein Prozent, wobei wir weit davon entfernt sind, ihr Leben und Zusammenwirken zu verstehen. Wir wissen allerdings mit ziemlicher Sicherheit, dass der gesamte organische Stoffwechsel der Erde durch Verwesung (»Umwesung« nennt Pommeresche es treffend) in dieser dünnen Schicht Humussphäre geleistet wird. Das sind nach Schätzungen des NRCS (The Natural Resources Conservation Service) um die 400 Milliarden Tonnen an Materie jährlich. Davon ahnen wir bei unserem Spaziergang kaum etwas, denn die Natur erledigt das lautlos und diskret, in der Regel ohne Müll, d. h. ohne nicht verwertbare Reste, nur mit Hilfe ihrer kleinen und kleinsten Mitbewohner der obersten Humusschicht. Auf unserem Hektar Wiese grasen also nicht nur 20 Kühe mit zehn Tonnen Lebendgewicht, sondern sind gleichzeitig auch zehn Tonnen unterirdischer Lebendmasse damit beschäftigt, den planetaren Stoffwechsel (die Umwesung) in Gang zu halten und quasi nebenbei die Pflanzen zu ernähren.
Ein unschätzbar wertvolles Buch Der erwähnte Herwig Pommeresche ist es, der mir durch sein Buch die Augen für diese weit größeren Zusammenhänge geöffnet hat. Er wurde 1938 in Hamburg geboren, studierte Architektur an der Universität Hannover und lebt seit 1974 in Norwegen. Dort arbeitet er als Architekt und Permakulturdesigner. Schon lange hatte ich sein Buch über Humus auf meiner Literaturwunschliste, doch erst vor kurzer Zeit habe ich es gelesen. Es war für mich auch der Schlüssel zum Verständnis der Schriften des Ehepaars Francé-Harrer, und ich freue mich über die Initiative (siehe Oya-Ausgabe 4), ihre Bücher einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Denn die Humussphäre ist keine neue Entdeckung! Sie wurde vielmehr schon in den 1920er Jahren wissenschaftlich von Raoul Francé erforscht, der dafür den Namen Edaphon (griechisch: »das im Boden Lebende«) prägte. Pommeresches Buch trägt den harmlosen Untertitel »Humus – Ein Stoff oder ein System?«. Dahinter verbirgt sich eine nicht völlig neue, aber völlig andere Sichtweise auf den natürlichen Stoffkreislauf von Boden, Pflanze und Tier bzw. Mensch. Folgt man der Argumentation, so müsste eines der erfolgreichsten und zugleich äußerst problematischen Kapitel der angewandten Chemie neu geschrieben werden: die Anwendung von Kunstdünger, im Wesentlichen bestehend aus Stickstoff, Phosphor und Kalium, in der vom Autor als »technologisch« bezeichneten Landwirtschaft. Die wissenschaftliche Grundlage zu dieser Entwicklung findet man in allen Lehrbüchern und an allen Universitäten der Welt. Es ist die sogenannte Mineraltheorie von Justus von Liebig aus dem Jahr 1840. Doch neue Einsichten in der Molekularbiologie und der Pflanzenernährung ergeben Möglichkeiten zur Etablierung einer rein biologischen Agrikultur, denn Pflanzen ernähren sich von lebendem Protoplasma und nicht von toten Salz-Ionen! Es ist inzwischen erwiesen, dass Pflanzen sich nicht nur durch zuvor »mineralisierte« Substanzen ernähren (autotroph), sondern in der Lage sind, über ihr Wurzelwerk auch größere Molekülverbände bis hin zu kleinsten Lebewesen aufzunehmen (heterotroph). Die Arbeiten von Raoul Francé wurden in den 1950er Jahren von Hans Peter Rusch und Hugo Schanderl weiterentwickelt und durch die neueren Forschungen von Bargyla Rateaver und Lynn Margulis bestätigt und fotografisch belegt. Dass so wenig davon in das allgemeine Bewusstsein dringt, ist für mich ein Hinweis auf die Bedeutung und Wichtigkeit des Buchs von Herwig Pommeresche.
Der Boden, ein Lebewesen! Doch welche praktischen Anwendungen ergeben sich daraus für den Gartenbau? Um das zu beantworten, kehre ich zu meiner Eingangsfrage zurück, dem zeitgemäßen Verständnis der Zusammenhänge von Boden und Ernährung. Verkürzt ausgedrückt, lautet die Antwort: Gesunder Boden, gesunde Pflanze, gesunder Mensch. Damit im Garten überhaupt gesunde Pflanzen als biologisch hochwertige Nahrung heranwachsen können, benötigen sie als Voraussetzung einen gesunden Boden. Mit dem Wissen über die folgenreiche Funktion der Humussphäre ergeben sich neue Möglichkeiten der Bodenverbesserung, wenn wir uns vorstellen, es mit einem echten Lebewesen zu tun zu haben. Pommeresche gibt konkrete Anweisungen, wie wir dieses Edaphon besser pflegen können als bisher. Er spricht von einer regelrechten Fütterung mit fein zerkleinertem organischen Material, das, direkt auf den Boden ausgebracht, seine Funktion deutlich besser erfüllt als auf dem althergebrachten Kompost. Seine Erfolge mit dieser Methode veranschaulicht er mit vergleichenden Fotos von Ernteergebnissen. Demgegenüber sehen die Erfolge der fälschlicherweise »konventionell« genannten Landwirtschaft bescheiden aus. Die chemische »Grüne Revolution« hat es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vermocht, durch intensive Düngung die Erträge in Bezug auf die bearbeitete Fläche um durchschnittlich 50 Prozent zu steigern. Das geschah jedoch bei einer gleichzeitigen Erhöhung des Energieeinsatzes um 400 Prozent und den nicht einkalkulierten Folgen des Eintrags von Düngesalzen und Giftstoffen in Boden, Flüsse und Meer und letztlich auch die Anlagerung von Giften in der gesamten Nahrungskette! Lassen wir nochmals Herwig Pommeresche selbst zu Worte kommen: »Für alle Lebewesen, auch das Edaphon, ist das Beste gerade gut genug. Frisch, ökologisch, lebendig und lebensstark, ohne künstliche Hilfsmittel! Denken Sie daran, wenn Sie Ihre Abfälle wegwerfen wollen. Sie gehören besser liebevoll zerkleinert in zentimeterkleine Stücke, frisch direkt zu ihren besten Helfern im Garten.«
Manfred Weber (50) studierte Naturwissenschaften, arbeitete als Gärtner und war u. a. Systemingenieur für Computernetze. Er lebt in Berlin und auf der Insel Usedom, hat eine Zusatzausbildung als Permakulturdesigner und unterrichtet Permakultur in eigenen Seminaren. m.weber@permadesign.de
Material zur geistigen »Umwesung« Literatur: • Raoul H. Francé: Das Leben im Boden. Das Edaphon, Franckh’- sche Verlagshandlung, 1921 • Annie Francé-Harrar: Humus. Bodenleben und Fruchtbarkeit, Bayrischer Landwirtschaftsverlag, 1957 • Herwig Pommeresche: Humussphäre: Humus – Ein Stoff oder ein System? Verlag OLV, 2004 Internet: Die Fabrik des Lebens. Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, 2010. Studie der EU, kostenlos als Download erhältlich unter: http://bookshop.eu. NRCS‚ The Natural Resources Conservation Service: http://soils.usda.gov