Titelthema

In welchen Zeiten leben wir?

Die Wiederverbindung mit der allseits belebten Welt in Zeiten des Artensterbens.von Matthias Fersterer, Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #53/2019
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»Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« – so schrieb Bertolt Brecht 1939 völlig zu recht vor dem Hintergrund seiner Zeit.
In welchen Zeiten aber leben wir heute? Manchen Schätzungen zufolge sterben stündlich drei, anderen zufolge täglich bis zu 130 Arten aus. Unwiederbringlich. Stunde um Stunde. Tag um Tag. Käme es da nicht einem Verbrechen gleich, über diese Untaten zu schweigen? Und wo beginnt das Beschweigen – vielleicht schon dort, wo den betroffenen Bäumen, Gräsern, Moosen, Flechten, Säugetieren, Vögeln, Insekten – und wie wir sie alle nennen – die Empfindungsfähigkeit und Bewusstheit abgesprochen wird?! In dieser Ausgabe nehmen wir einen radikalen Perspektivenwechsel vor und wenden uns diesen ungesehenen Wesen zu – nicht als »Dingen« oder für den Menschen mehr oder weniger nutzbringenden Spezies, sondern als »Leuten«. Dabei geht es uns nicht dar­um, philosophisch oder neurologisch zu definieren, was genau das bewusste Sein in »Bewusstsein« sei und wo es sitze – eine Frage, die viele hochdekorierte Forscherinnen und Forscher aus verschiedensten Disziplinen nicht abschließend beantworten können –, sondern darum, uns phänomenologisch (erfahrungs­basiert) auf Wesen, die ganz anders als wir Menschen sein mögen, einzulassen. Wir suchen das Gespräch – wir wollen nicht nur über, sondern mit Bäumen sprechen; und mit Steinen, Artefakten, Stadttauben und anderen menschlichen und mehr-als-menschlichen Leuten, die uns umgeben und durchdringen, denen wir unser Leben und unsere Existenz verdanken.
Das mag ungewohnt wirken, ist aber schon nicht mehr so seltsam, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Kinder größtenteils als Animisten (von »Animismus«, die Wahrnehmung der Welt als allseits belebt) zur Welt kommen und viele indigene Ethnien Steine, Bäume, Lachse oder Elche als »Leute«, »Völker« und »Verwandte« bezeichnen. Nun ließe sich einwenden, dass all dies bloß eine Projektion der menschlichen Psyche auf »unbewusste Dinge« sei. Das hieße jedoch, die animistische Weltwahrnehmung, die zahlreiche Jäger-und-Sammler-Gesellschaften – also auch uns während 99 Prozent unserer Geschichte – prägte, als Projektion abzutun. Demnach wäre »wildes Denken« (siehe Seite 41) primitiv und fiele entwicklungsgeschichtlich hinter modernes rationales Denken zurück. Diese kulturchauvinistische Annahme, die das alte Lied von der Überlegenheit des weißen Westens singt, wird durch nichts gestützt. Wie passt diese damit zusammen, dass die eingangs beschriebene »sechste Welle des Massenaussterbens« wesentlich Lebensweisen geschuldet ist, die durch industriemodernen Rationalismus geprägt worden sind?

Das Denken dekolonisieren
Unsere zivilisatorischen Dilemmata haben begonnen, als Menschen anfingen, sich selbst als höherstehend, andere Lebewesen als minderwertig und Materie (von lateinisch mater, »Mutter«) insgesamt als unbeseelt und leblos zu betrachten. Zuerst haben Menschen sich selbst, dann den Rest der Natur domestiziert und so eine Kette patriarchaler Diskriminierung und Ausbeutung in Gang gesetzt: Zu verschiedenen Zeiten galten Frauen (Aristoteles), Kinder, Unfreie oder Tiere (Descartes) nicht als mit Gefühl, Verstand und Empfindung begabte Subjekte, sondern als Dinge, als Objekte, die nach Gutdünken von den mit Macht ausgestatteten Bevölkerungsschichten ausgebeutet werden konnten.
Der Begriff »Natur« wurde uns während der Arbeit an dieser Ausgabe selbst zweifelhaft. Dieser merkwürdige Sammelbegriff für Gänseblümchen, Aquifere, Weißtannen und Findlinge, der einen Gegensatz zwischen »wild« und »zivilisiert«, zwischen »Materie« und »Geist«, zwischen »Frau« und »Mann«, zwischen »Objekt« und »Subjekt«, zwischen »Beherrschtem« und »Herrscher«, kurz: zwischen »Natur« und »Kultur« erzeugt – schaffen wir es nicht, ohne ihn auszukommen?
»Frauen, Kinder, Tiere – empfindungslose Objekte?!«, fragen wir uns heute kopfschüttelnd. Die Argumente für diese aus heutiger Sicht haarsträubenden Annahmen waren ihrerzeit und ihrer­orts wohlbegründeter, gesellschaftlicher Konsens. Wie können wir uns da so sicher sein, dass die scharfe Trennlinie, die gegenwärtig gemeinhin zwischen belebter und vermeintlich unbelebter Materie gezogen wird, gerechtfertigt sei? Könnte es nicht sein, dass diese rückblickend ebenfalls ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen wird? – »Bäume, Steine, Erde – einfach als Objekte ausgebeutet?!« Dabei ist klar, dass nichts gleich-gültig ist: Ein Autoreifen oder ein Pappkarton sind nicht auf dieselbe Weise Lebewesen wie es eine Haselmaus oder ein Spitzahorn sind. Fabrizierte Artefakte erhalten sich nicht selbst und pflanzen sich nicht fort, wie es lebendige Wesen tun, sondern zerfallen ohne Pflege wieder in etwas anderes. Und dennoch: Wir alle bestehen im Wesentlichen aus Wasser und Kohlenstoff, und dasselbe Kohlenstoffatom, das einen Teil von uns bildet, war – lebte? – davor hundertfach in anderen Wesen: in Tieren, Pflanzen, Erdöl, Fossilien, und wenn wir dereinst zu Humus werden, werden unsere einzelnen Teilchen wieder in andere Verbindungen wechseln.
Wenn wir Steine als unsere »Verwandten« betrachten, so wie es die finnische Künstlerin Elsa Salonen in ihrer Ausstellung »Stories Told by Stones« (siehe Seite 58) oder die Beitragenden des Buchs »Der Stein als Bruder« (Seite 61) tun – schließlich braucht auch unser Menschenkörper Mineralien zum Leben –, können wir dann die Graphitmine eines Bleistifts gänzlich aus diesem verwandtschaftlichen Gefüge ausklammern? Ist es nicht einigermaßen kurios, dass manche »aufgeklärten« Menschen aus Industrienationen Bäumen die Empfindungsfähigkeit absprechen, aber gleichzeitig emotionale Bindungen zu Autos oder Elektrogeräten entwickeln? Ein Großteil der Produktwerbung appelliert mal marktschreierisch, mal subtil an solche animistischen Anklänge im kollektiven Menschheitsbewusstsein.
Was für Zeiten sind das? Im Jahr 2000 prägte der Atmosphärenforscher Paul Crutzen den Begriff »Anthropozän« (Zeitalter des Menschen). In Anknüpfung und Abgrenzung dazu wird in der gegenwärtigen Theoriebildung mit »Kapitalozän« (Zeitalter des Kapitals), »Plantagozän« (Zeitalter der Landwirtschaft) oder »Chth­uluzän« (Donna Haraways Begriff, siehe Seite 22 und 48) experimentiert. Der »Internationalen Kommission für Strati­graphie« zufolge leben wir seit Juli vergangenen Jahres im »Meghalayan«, dem vorerst letzten, nach einem nordindischen Bundesstaat betitelten Abschnitt des Holozäns.
Vielleicht lenkt uns all dies aber auch nur ab von der offenkundigen Antwort auf die Frage, wann und wo wir leben: hier und jetzt! Und nur aus diesem Hier-und-Jetzt heraus können wir handeln, können wir mitfühlend wirksam werden und unerschrocken gegen das große »Zaudern« angehen, das der Science-Fiction-Autor Kim Stanley Robinson als Bezeichnung für unsere Epoche vorschlug. Die Kesh, ein von Ursula K. Le Guin beschriebenes indigenes Volk der Zukunft (siehe Seite 31), nennen unsere Zeit »Als sie außerhalb der Welt lebten«. – Es ist höchste Zeit, dass wir Menschen von einer distanzierten, vermeintlich außerhalb und über den anderen Wesen stehenden Warte wieder in die Tiefe der allseits belebten Welt eintauchen. Jetzt. Hier. Der Blick auf das Jetzt schärft die Wahrnehmung dafür, dass wir uns irgendwo auf halbem Weg befinden, als Teile einer langen Kette von Großmüttern zu Enkeltöchtern, vom Löwenmenschen (siehe Seite 28) zu Le Guins »Blue Clay People«, hier auf unserer Heimatplanetin.
Dieser Ansatz spiegelt sich auch auf der Bildebene dieser Ausgabe wider. Wir baten die Fotografin Ines Lindenau: »Stelle dir vor, nicht-menschliche Leute kommen in dein Fotostudio und bitten dich, ihren Wesenskern in einer Porträtaufnahme sichtbar zu machen. Wie leuchtest du sie aus, wie setzt du sie in Szene, um diese ungesehenen Wesen als die ›Leute‹, die sie in ihrem tiefsten Inneren möglicherweise sind, sichtbar zu machen?«
Eine ähnliche Aufgabe stellten sich sieben Autorinnen und Autoren, die in kleinen Textvignetten Gespräche mit Artefakten, Tieren, Pflanzen, Mikroben suchten. Anhand dieser Texte zeigte sich, wie herausfordernd oder gar aussichtslos sich die Kommunikation mit nicht-menschlichen Wesen gestaltet, solange sie in Mustern diskursiver menschlicher Sprache verhaftet bleibt. Sobald Kommunikation jedoch ungesagte Resonanzphänomene einschließt, ist jeder Gedanke, jede Inspiration, jeder Atemzug, jeder Blick und jeder Bissen ein wechselseitiger Akt gemeinschaffender sinnlicher Wahrnehmung zwischen einer Vielzahl an ­Akteuren.
Sichtbar wird dieses Beziehungsgeflecht aus menschlichen und nicht-menschlichen Leuten auch in der Arbeit des tschechischen Performance-Künstlers Miloš Šejn, in der nicht statische Werke geschaffen, sondern prozesshafte Begegnungen bezeugt werden (siehe Seite 37). Über die Wechselseitigkeit solcher Begegnungen schrieb der Kulturanthropologe David Abram in seinem Buch »Im Bann der sinnlichen Natur«:
»Wenn ich die furchige Haut eines Baums berühre, erfahre ich immer auch meine eigene Berührbarkeit und fühle mich selbst vom Baum berührt. Die Welt zu sehen, heißt, meine eigene Sichtbarkeit zu erfahren und mich selbst gesehen zu fühlen. […] Wir können Dinge nur deshalb erfahren, können sie berühren, hören und schmecken, weil wir als Körper selbst in das sinnlich erfahrbare Feld eingebunden sind, selbst eine eigene Oberfläche haben, eigene Laute hervorbringen und selbst nach etwas schmecken. Wir können Dinge nur wahrnehmen, weil wir selbst ganz und gar Teil der wahrnehmenden, sinnlichen Welt sind! Man könnte auch sagen, dass wir Organe dieser Welt sind, Fleisch von ihrem Fleisch, und dass die Welt sich selbst durch uns wahrnimmt.«

Sich verwandtmachen und heimisch werden
Als ihre »Organe« mögen wir untrennbar mit der Erde verbunden sein – leben und wirksam werden können wir jedoch nur an ganz bestimmten Erd-Teilen, an konkreten Orten und Plätzen. Diese Orte zu erkennen und mit ihren alten Namen zu rufen oder – dort, wo sie unwiederbringlich verloren sind – neue zu finden, ist Teil des Heimischwerdens in der Welt (siehe Seite 62). Aus solch wechselseitiger Verbundenheit heraus kann enorme Kraft für wirksamen Widerstand gegen die tagtägliche Zerstörung des Lebendigen erwachsen (siehe Seite 50). Diese haben wir auch bitter nötig: In der Zeit, die während der Lektüre von fünf durchschnittlichen Seiten dieser Ausgabe verstreicht, wird die große Gemeinschaft der Erdgeschöpfe um ein bis zwei Arten ärmer geworden sein. Der Verlust, den das mit sich bringt, ist ungleich höher, wenn wir dabei nicht nur an verminderte »Biodiversität« und ausfallende »Ökosystemdienstleistungen« denken, sondern an »Leute«, an »Völker« nicht-menschlicher Wesen, an einstige Gegenüber, die unwiederbringlich verschwunden sind – »tot wie ein Dodo«, wie eine makabere englische Redensart lautet.
Was also tun in diesen Zeiten? Ursula K. Le Guin und Donna Haraway, zwei Frauen, die bei dieser Ausgabe Patin standen, würden uns vielleicht geraten haben: Macht euch verwandt mit den anderen Leuten und werdet heimisch auf der einen Erde! – Nichts anderes versuchen wir auf den folgenden Seiten.

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