Im Moment des Nicht-Sterbens weiß ich, dass ich ein Mensch bleibe
Miloš Šejn – Besuch bei einem Künstler, der sich ein Leben lang mit seinem Natur-Sein auseinandersetzt.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #53/2019
»Noch nie zuvor hatte ich den Trojický-Teich so gesehen. Veras und meine Spaziergänge führen uns oft zu diesem Teich am Fuß des Velišský-Höhenzugs. An diesem Tag leuchtete er in einem hellen Grün, ein wenig Gelb war mit dabei. Als ich meine Hand ins Wasser tauchte, wurde sie vollständig von Algen umschlossen. Sie fühlten sich an wie die Masse, aus der Papier geschöpft wird. Ich spürte den Wunsch in mir aufsteigen, diese Algen zu meiner zweiten Haut werden zu lassen. Ich wusste, ich müsste nackt in diesen Teich steigen, müsste unter diese grüne Schicht schlüpfen – nicht jetzt sofort, sondern bei nächster Gelegenheit. Unter den Algen fiel alles mögliche Wassergetier über mich her – es war ziemlich schmerzhaft. Aber das Eingehülltsein in die Algen half mir, ein Wesen dieses Teichs zu werden. Ich war wie das Wasser, wie die Algen, die Wassertiere, wie die Erde unter dem Wasser. All das war ein großes Ganzes. Vera hat den Prozess fotografiert. Die Fotos sind für mich die Brücke, um den Menschen das, was mir wichtig ist, zu vermitteln. Sie sind aber nicht der wesentliche Teil des Kunstwerks; das begann mit dem ersten Schritt vor die Haustür auf dem Weg zum Teich.« Bisher kannten Johannes Heimrath und ich die Arbeiten des Künstlers Miloš Šejn nur aus solchen Dokumentationen. Anders als Fotos von in der Natur als »Land Art« installierten Körpern schienen sie nichts »darstellen« zu wollen, aber sie übertrugen etwas, das uns stark berührte. An einem Märzmorgen sitzen wir nun Miloš und seiner Frau Vera Šejn in einer kleinen Altbauwohnung im nordböhmischen Jičin zum ersten Mal leibhaftig gegenüber. Nichts an dem zurückhaltenden, heute 72 Jahre alten Mann in seinem Wohnzimmersessel erinnert an das Wasserwesen mit dem ekstatischen Blick, das wir von seinen Performance-Fotos her kennen. Wir fühlen uns vertraut: Seit 2002 wissen wir durch einen gemeinsamen Freund, den Kunsthistoriker Jiří Zemánek, voneinander. Auf dem Hinweg waren uns zwei kegelförmige Berge aufgefallen – Jičin liegt in der Ebene zu ihren Füßen. Herzog Albrecht von Wallenstein schuf Anfang des 17. Jahrhunderts zwischen den beiden Gipfeln einen ausgedehnten barocken Park mit einer Lindenallee, künstlichen Teichen und Kapellen. Graf Joachim Andreas von Schlick setzte diese Arbeit mit organischeren Formen fort. Der Trojický-Teich ist Teil von Schlicks Anlage. Wir sind uns mit Miloš über die Zweischneidigkeit solcher Art von Landschaftskunst einig: Sie bezeugt zwar ein Einlassen auf die natürlichen Gegebenheiten, ist aber auch Ausdruck eines Herrscherwillens. Wie er uns die Umgebung von Jičin nahebringt, zeigt, wie intensiv Miloš sein ganzes Leben lang diese Gegend bewohnt hat. Die Wohnung, in der wir sitzen – sein Elternhaus – scheint nur eine Zelle in einem viel größeren, in der Landschaft verorteten Wohnraum zu sein. »Als ich Kind war, haben meine Eltern oft Wanderungen unternommen«, erzählt er. »Wenn wir an einem schönen Ort angekommen waren, blieben wir dort in einer stillen, meditativen Stimmung.« Miloš’ Eltern gehörten zu einem kleinen Kreis von Intellektuellen, die Texte indischer Mystiker übersetzten. Die Schriften kursierten in kleinen Auflagen, waren sie doch von der kommunistischen Regierung in den 1950er Jahren nicht gerne gesehen. »Als Kind verstand ich nicht viel, wenn meine Familie über Spiritualität diskutierte. Ich mochte keine Diskussionen, auch nicht das Schimpfen auf den Kommunismus« – viel lieber vertiefte sich Miloš in die Beobachtung von Wesen, die eine nicht-menschliche Sprache sprechen, wie die Vögel. Dass auch Menschen ohne das gesprochene Wort kommunizieren können, erlebte er bei der Prager Bildhauerin Hana Wichterlová, einer Freundin der Familie, deren Atelier und Garten ihn verzauberten. Skulpturales Gestalten spielte später an der Oberschule in Turnov – seit dem Mittelalter ein Zentrum für die Schmuckherstellung – eine wichtige Rolle: Die Bearbeitung von Edelsteinen war Unterrichtsfach. In der Gegend werden Achat, Jaspis, Amethyst, Rauchquarz und Olivin abgebaut. »Ich bin tief in dieses Handwerk eingetaucht, in diese feine Arbeit auf kleinstem Raum mit diesem mystischen Material.« Die gestalterische Arbeit erweckte in Miloš den Wunsch, Künstler zu werden. Er bewarb sich an der Akademie der Schönen Künste in Prag – und wurde nicht angenommen. Auch der zweite Versuch scheiterte. Also schrieb er sich für Kunstgeschichte, Pädagogik und Ästhetik ein, später auch für Philosophie. »Heute weiß ich, dass dieser Weg für mich richtig war, denn so begegnete ich meinem Lehrer Zdeněk Sýkora, einem der bekanntesten tschechischen Maler der Moderne. Er war ein Pionier der abstrakten, konstruktivistischen Kunst und nutzte als einer der ersten den Computer für seine Bilder. Andererseits war er tief mit der Evolution der Malerei verbunden und schätzte vor allem Cézanne und Matisse. Er lehrte auf geniale Weise den Einsatz von Farbe und die Komposition eines Bilds unter Verwendung von Umrissen und Flächen. Mit ihm unter freiem Himmel zu malen, war für mich enorm aufregend. Er sprach viel darüber, wie Cézanne sich einer Landschaft genähert hat – sie zu malen war für ihn eine Umarmung der Welt.«
In den Staub gefallen 1975 hatte Miloš sein Studium abgeschlossen und machte sich alleine auf den Weg, in der Natur zu malen. Eine Schlucht in den Prachover Felsen unweit von Jičin zog ihn an: »Ich ging immer wieder dorthin; warum, weiß ich nicht. Es war notwendig. Ich musste dort sein.« Fünf Jahre lang musste es sein. Er malte immer an derselben Stelle. Seine Bilder wurden abstrakter. Nach drei Jahren schaute er an seinem Malort nicht mehr auf die Felsen. »Ich glaube, es war 1980, als mir dort einmal die Leinwand von der Staffelei kippte und auf die Erde fiel – die noch nassen Farben nach unten. Ich drehte sie um, der Sand hatte sich in den Farben verfangen. Das sah so schön aus! In diesem Moment brach in mir ein Damm. Ich war nicht mehr einsam, sondern in einem intimen, intuitiven Gespräch mit dem Ort, der mein aktiver Partner wurde – nicht mehr nur ein Anblick, ein Fenster, eine Perspektive. Erst seit diesem ›Unfall‹ bin ich in meinem künstlerischen Ausdruck wirklich ich selbst.« Während uns Miloš Šejn diese Geschichte erzählt, verstehe ich wieder einmal, wie groß der Sprung war, den Künstler seiner Generation vollziehen mussten, um wie ein Kind im Staub sitzen zu können, statt sich der zivilisierten Leinwand verpflichtet zu fühlen. Es berührt mich, wie Miloš zum Ausdruck bringt, dass die Verschmelzung mit einem Ort eben nicht bedeutet, sich aufzulösen, sondern sich endlich vollständig selbst zu spüren. In den Jahren nach dem »Bildersturz« legte Miloš seine Maluntergründe von Anfang an auf die Erde und verwendete am liebsten Papier. »Das Papier vermittelte als Membran zwischen mir und dem Boden, es war etwas Durchlässiges. Ich legte Stifte und Pinsel weg und malte mit den Händen. Meine Farben waren die Erde und die Pflanzen um mich herum. Sicherlich hätte ich auch ohne Papier den Ort ganz unmittelbar berühren können, aber das hätte keine Spuren hinterlassen.« Einige der so entstandenen Arbeiten bezeichnet Miloš als »Frottagen«, weil sie wie Abreibungen von Steinen oder Wurzeln im Waldboden wirken. Ein besonderer Ort brachte ihn wieder zum Zeichnen: »An einem Hang des Schwarzen Bergs im Riesengebirge steht ein besonders schöner Ahornwald«, erzählt Miloš. »In seiner Nähe hatte ich als Kind Zeit in einem Ferienlager verbracht und war von all den Bächen, die dort über den Hang in die Úpa, einen Nebenfluss der Elbe, hinunterstürzen, fasziniert. Anfang der 1980er Jahre suchte ich diesen Ort zum ersten Mal wieder auf – und wurde sofort von starken Erinnerungen an meine Kindheit überflutet. Ich hatte den Impuls, Linien auf meinem Skizzenblock zu zeichnen, während ich durch den Wald ging. Sie sollten nicht abbilden, was ich sah, sondern alles ausdrücken, was ich – meist mit geschlossenen Augen – um mich herum wahrnahm. Manchmal fielen mir dazu auch Wörter oder Sätze ein, wie der Ausruf ›So hell!‹. Indem ich immer wieder dorthin zurückkehrte, entstand ein Dialog mit dem Flusslauf der Úpa. Ich wollte lernen, die Sprache des Wassers zu verstehen. Manchmal gelang dabei ein ›Sprung‹, nach dem ich nicht mehr nur ein Besucher des Orts war, sondern sein integraler Bestandteil. Ein solcher ›Sprung‹ scheint das übliche Lebensgefühl zu beenden. Es entsteht eher so etwas wie ein ›Todesgefühl‹, ein Eintauchen in ein zyklisches Weitergehen.« Miloš’ künstlerische Arbeit fand lange im Verborgenen statt. Sein Geld verdiente er zunächst als Kurator einer Galerie und später viele Jahre lang durch Unterricht an der Prager Kunstakademie. Dennoch wurde er zu Ausstellungen eingeladen. Besonders seine Aktionen mit Feuer erregten Aufmerksamkeit. Genauso wie ihn das Element Wasser faszinierte, wollte er das Wesen des Feuers ergründen: »Die Formulierung des Raums durch Feuer« heißt eine Fotoserie, die mit langer Belichtung dokumentiert, wie Miloš mit einer Feuerfackel den Innenraum einer Höhle ausleuchtet. Als er 1988 eine lange Papierbahn auf einem steinigen Berggipfel auslegte und das entstandene Bild anschließend verbrannte, begleitete ihn ein Filmemacher. Der Film führte zu einer Einladung zum Kunstfestival »Milanopoesia« nach Mailand. Miloš sollte etwas Performatives mit dem Publikum umsetzen – für ihn Neuland. Er schichtete mit den Menschen vor Ort einen großen Holzstapel auf und brannte ihn ab. Mit einem Stück Kohle hinterließ er abschließend eine Spur auf einer Betonwand. Seitdem ließ ihn das Thema »Performance« nicht mehr los.
Mit dem Körper sprechen Wenig später begegnete er der zeitgenössischen japanischen Tanzform Butoh bei einer Aufführung des Ensembles um den Tänzer Min Tanaka, das der Niederländer Frank van de Ven in Europa zusammengebracht hatte. Frank hatte zehn Jahre lang in Japan Butoh studiert. In dieser Kunst geht es darum, mit jeder Faser der eigenen Existenz alles, was dieses Ich umgibt, wahrzunehmen und dieser Wahrnehmung Ausdruck zu verleihen. Miloš verspürte eine unmittelbare Resonanz zu seiner Arbeit. Als Frank van de Ven im Jahr 1994 in Prag mit seiner Partnerin, der Butoh-Performerin Katerina Bakatsaki, eine Workshop-Reihe zur Vorbereitung einer öffentlichen Aufführung anbot, fasste sich der publikumsscheue Miloš ein Herz und nahm daran teil. Daraus entstand eine enge Freundschaft mit Frank. Miloš lud ihn ein, an den von ihm seit 1992 unter dem Titel »SiteBodyExploration« (Ort-Körper-Erkundung) organisierten Sommer-Workshops »Bohemiæ Rosa« mitzuwirken. »Wir ergänzen uns«, sagt Miloš. »Frank hat die Gabe, Menschen tief in die Verbundenheit mit ihrem eigenen Körper zu führen. Ich bringe die Wahrnehmung von Landschaft ein.« Die Butoh-Praxis ermutigte Miloš zu eigenen Performances – ohne Publikum. Doch jemand sollte sie dokumentieren, um eine Spur zu hinterlassen. Butoh verändert die Zeit, es ist die Kunst der Langsamkeit. Praktizierende können stundenlang still an einem Ort verharren, werden zum Felsen, zum Baum, zur Welle. 1999 legte sich Miloš in die Quelle des Flusses Cidlina, bis er fast erfroren war. »Zur Quelle der Cidlina werden« lautet der Titel der dabei entstandenen Bilder. Er steckte seinen Kopf in den Schnee am Ufer des Flusses Kamenice, bis es nicht mehr länger ging; er tauchte immer wieder in Flüsse und Seen, blieb so lange unter Wasser, bis er fast ertrank. An der Grenze zwischen Leben und Tod spürt er die stärkste Verbundenheit, die intensivste Lebendigkeit. »Darin liegt auch die Tragik«, sagt er, als wir am späten Nachmittag unser langes Gespräch beschließen. »Im Moment des Nicht-Sterbens weiß ich, dass ich ein Mensch bleibe. Je mehr ich mich der Verbundenheit hingebe, desto tiefer erlebe ich es auch, eine einzelne, auf sich selbst gestellte Existenz zu sein.« Miloš tut etwas, das Menschen seit Jahrzehntausenden vor ihm getan haben: Spuren zu hinterlassen, die ein Zeugnis von Verbundenheit ablegen. Gut möglich, dass die- oder derjenige, die oder der vor 35 000 Jahren den Löwenmenschen geschnitzt hat (siehe Seite 28), nichts anderes tat. Sie oder er schuf nicht im Namen eines wie auch immer gearteten Kunstbegriffs ein Werk, sondern hat in einem fließenden Prozess das Lebendige lebendiger werden lassen. Das, was es dabei zu verlebendigen gilt, ist nicht irgendein dort draußen zu verortender Begriff von »Natur«, sondern das sind: wir selbst.