Grit Fröhlich fühlt sich Bäumen in besonderer Weise verbunden.von Grit Fröhlich, erschienen in Ausgabe #53/2019
Ich lege meine Hand an die Rinde, als die ersten Regentropfen fallen. Unter der borkigen Schicht steigen jetzt die Säfte. Es ist Frühling, aus einem verletzten Ast in der Höhe sickert Baumsaft die dunkel getränkte Rinde nach unten. So hart und rissig der Stamm der Linde ist, so verraten mir die aufwärtsstrebenden Windungen und Wirbel um Astlöcher doch das flüssige Strömen, das sie gebildet hat und das darunter stetig weiterfließt. Wer oder was strömt? Das Wasser zum Licht, für jene wunderbare Synthese, bei der der Baum das Kohlendioxid der Luft in Nahrung für sich und andere verwandelt. Mit seinen Strömungsmustern zeigt sich mir der Baum als Holz gewordener Teil des Wasserkreislaufs, des Stoffstroms, des unablässigen Austauschs zwischen Himmel und Erde: Eine Strömungsbewegung, die die Schwerkraft zu überwinden scheint, eine Wachstumsbewegung, angezogen vom Licht. Doch jeder Baum um mich herum ist diese Bewegung auf seine eigene Weise: Wie anders fächert die Linde ihre Zweige auf, neben den hochaufstrebenden Verzweigungen der Pappeln, den knotigen Ästen der Kastanien! Schmal bahnt sich die Linde vor mir ihren Weg zum Licht zwischen benachbarten Parkbäumen – ganz anders als die freistehende Linde mit weit ausladenden Ästen auf der Wiese dort drüben. Alles an der Pflanze ist Blatt. So meinte jedenfalls der alte Goethe in seiner Vision der Urpflanze. Die noch blattlosen Baumkronen vor einem blanken Märzhimmel rufen mir in ihrer filigranen Gestalt zu: »Alles ist Verzweigung!« Bis in die letzte Wurzelspitze und Blattader hinein verzweigen sich die Wasser- und Nährstoffströme, ein unablässiges Fließen in verholzten und krautigen Bahnen. In seinen vielfältigen Verzweigungen fängt der Baum Licht und Luft, sie bilden eine riesige Oberfläche für den Austausch zwischen den Elementen. Eingetaucht in die Biosphäre bringt er mit seinem Sog das Flüssige zum Strömen Ich finde eine keimende Kastanie. Ein weißer Trieb krümmt sich als Wurzel nach unten in den dunklen Boden, ein zweiter schießt mit einem winzigen grünen Blättchen nach oben zum Licht. Erste Verzweigung in Keimform. Ich schaue in die aufgefächerte Krone der Linde über mir. Zugleich stelle ich mir vor, wie weit sich im Boden unter meinen Füßen das Wurzelwerk verzweigt. Wo ist der Baum zu Ende? Wenn er Holz gewordener Teil eines Stroms ist, so ist an den äußersten Blatt- und Wurzelspitzen nicht Schluss. Ich spüre, das Strömen geht weiter. In der Luft um mich herum schweben unzählige feine Wassertröpfchen, von den Pflanzen aufgestiegen. Wenn ich den Park betrete, umfangen sie mich mit ihrer Kühle, und morgens, wenn ich über die Wiese laufe, durchnässen sie meine Schuhe als Tau. Ich sauge die feuchte Luft durch die Nase, und in mir eingefaltet gehen die Verzweigungen weiter, strömt es hinab in die Bläschen des Lungenbaums, verteilen meine Adern den von den Bäumen gespendeten Sauerstoff bis in die äußersten Kapillaren der Fingerspitzen. So bin ich wurzelloses Tier mit den Bäumen verbunden durch meinen Atem. Nicht sichtbar, aber spürbar, unausweichlich. Ich atme ein, was der Baum verströmt, und umgekehrt nimmt er meinen Ausatem in sich auf – ein Geben und Nehmen, in das ich eingebunden bin. Ein Kreislauf oder ein Gefälle? Der Baum braucht das Kohlendioxid, das ich ausatme, nicht unbedingt, um an seinem Leib Substanz aufzubauen. Es strömt ihm auch aus anderen Quellen und Lebewesen zu, aus allem Verrottenden und Verwesenden um mich herum, ja auch der Baum selbst atmet es im Dunkeln aus. Ich jedoch überlebe ohne den Sauerstoff, den die Bäume um mich ausströmen, nur wenige Minuten. Ich gehe anders durch die Stadt, seit ich mir des Austauschs und des Gefälles zwischen dem Baum und mir bewusst bin. Wir haben die Bäume in Bücher verwandelt. Wir machen aus ihnen Papier. Wir klassifizieren sie in Botanik-Werken. Wir pflanzen sie als Straßenbaum und fahren achtlos an ihnen vorüber. Währenddessen vollzieht sich im Stillen weiter der Kreislauf von Wasser und Luft, der durch die Verzweigungen der Bäume hindurchströmt, bis in unsere Lungenbläschen und Adern.
Grit Fröhlich (44) studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Sie arbeitet als Autorin und Übersetzerin, ist Oya-Hütende und lebt mit ihrer Familie in Berlin.