»Etwas läuft schrecklich schief bei unserem Umgang mit Schmutz«, schreibt die Wissen-schaftsjournalistin und frühere Geo-Redakteurin Hanne Tügel in ihrem neuen Buch »Sind wir noch ganz sauber?« – denn privat beschäftigen sich viele Menschen geradezu manisch damit, zu putzen. Doch zugleich werden Luft, Wasser und Böden als gigantische Müllkippen missbraucht. Eine der Ursachen für dieses Paradox ist in der Geschichte der Medizin zu suchen. Erst vor gut hundert Jahren entdeckten Louis Pasteur und Robert Koch, dass Bakterien Krankheiten und Seuchen auslösen können. Seitdem herrscht ein fast militärischer Jargon im Umgang mit Bakterien: Wir »bekämpfen« sie und versuchen sie »auszumerzen«. Ein völlig falscher Ansatz, meint die Autorin, denn die riesige Mehrheit der Bakterien auf unserer Haut, in unserem Darm und anderswo sind unsere Freunde. Im und auf dem menschlichen Körper gibt es rund 30 Billionen Zellen und 39 Billionen Bakterien, die zu 10 000 verschiedenen Arten gehören. Wer sie – animiert durch Werbung – mit übertriebener Körperhygiene und Desinfektionsmitteln auszurotten versucht, tut sich nichts Gutes an, denn wo vorher gutartige Bakterien wohnten, können sich dann bösartige ansiedeln. In Kliniken ist Hygiene natürlich unerlässlich. Aber: »Die sterile Umgebung, die für extreme Keimfreiheit sorgen soll, schafft gleichzeitig ideale Bedingungen für besonders tückische Guerillero-Keime«, schreibt Hanne Tügel. Multiresistente Keime kosten in Deutschland jährlich zwischen 10 000 und 30 000 Menschen das Leben – eine wahre Epidemie, deren Ursachen auch in der Massentierhaltung liegen: Skrupellose Fleischproduzenten machen sich zunutze, dass Antibiotika dickmachen, indem sie die Darmflora zerstören. Dabei sind Bakterien »Lehrmeister«, wie das interessanteste Kapitel heißt. Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze besitzt ein eigenes Mikrobiom, also eine höchst individuelle Wohngemeinschaft in und auf sich. Eine hohe Mikrobenvielfalt tut gut, denn wenn die WG im Körper alle Nischen besetzt, finden Krankheitserreger keinen Platz mehr. Das führt zu völlig neuen Therapieformen: Magen-Darm-Probleme können durch Kot von Gesunden kuriert werden, und das Immunsystem von Kaiserschnitt-Babys lässt sich mit einer »Keimdusche« aus der Vagina der Mutter verbessern. Alles in allem ist Hanne Tügel ein wunderbares Buch gelungen: fast so unterhaltsam wie eine Seifenoper, frisch, flüssig und klärend wie reines Wasser.
Sind wir noch ganz sauber? Klüger mit Schmutz umgehen, gesünder leben, der Umwelt helfen. Hanne Tügel Edel Books, 2019 284 Seiten ISBN 978-3841906564 17,95 Euro