Englische Bergschäferinnen und Bergschäfer hüten ihre Herden gemäß einer Sieben-Generationen-Praxis. Sie geben ein Beispiel für zeitgemäße Formen des Gemeinschaffens.von Anja Marwege, erschienen in Ausgabe #55/2019
Niemand weiß genau, wie lange schon Schafe durch die Fells im Lake District im Nordwesten Englands getrieben werden – vermutlich seit mehreren tausend Jahren. Die Bergrassen gehören zu den widerstandsfähigsten ihrer Art. Jetzt im Oktober findet der Abtrieb von den Berghängen in tiefer gelegenes Weideland statt. Schäfer und Hütehunde treiben rund ein Dutzend Herden zusammen. Diese waren in den Sommermonaten weitgehend sich selbst überlassen. Die Fells sind Gemeindeland, kein Zaun umsäumt es, und doch wissen alle Beteiligten, wie sie sich dort oben bewegen können. »Vor dem Zeitalter von Mobiltelefonen und E‑Mail konnten die Menschen dieses Land nur dann gemeinsam bewirtschaften, wenn sie sich auf Gebräuche und ein bestimmtes Vorgehen einigten. Es musste klar geregelt sein, was jeder wann und wie zu tun hatte«, schreibt James Rebanks, Bergschäfer in den Fells. Er gehört heute zu den Mitnutzenden derjenigen Teile der Fells, die von einer Einhegung durch Umwandlung in Privateigentum bis in die Gegenwart verschont geblieben sind. In der englischen Sprache werden Rebanks und die anderen Hütenden »Commoners« genannt – die »Gemeinen« oder »Gemeinschaffenden«. Zusammen mit seinem Vater kehrte James Rebanks in den letzten Jahren zur traditionellen Schafhaltung zurück. Wie in England gibt es auch in Tirol oder Spanien Wege und Flächen, die die Schäferinnen und Schäfer mit ihren Herden seit langer Zeit nutzen, um die Gegend zu durchqueren und Futter- oder Rastplätze aufzusuchen. Doch nur in den Fells nehmen sie die spezifische Form an, wie sie James Rebanks in seinem Buch »Mein Leben als Schäfer« beschrieben hat. In anderen Landschaften und Kulturen geht es anders zu. Was das Hüten auf Allmendeland aber überall gemeinsam hat, sind einige grundlegende Gesten, die lebensdienliche Qualitäten zutage treten lassen. Hier findet »Commoning« statt, in Oya oft übersetzt mit »Gemeinschaffen«. In der ersten Oya-Ausgabe aus dem Jahr 2010 griff Matthias Fersterer diese durch den Gesellschaftshistoriker Peter Linebaugh geprägte Wortneuschöpfung auf. Commoning deute an, »dass die Allmende nichts Statisches ist, sondern etwas ständig im Werden Begriffenes, das sich erst durch die Nutzung gemeinschaftlich verbundener Menschen begründet«. Indem Peter Linebaugh aus dem Substantiv »commons« das Verb »to common« bilde, werde ein Perspektivwechsel ermöglicht, der die Allmende nicht als bloße Nutzungsressource, sondern als tief in die Gesellschaft hineinwirkende Praxis erkennen lasse.
Jahreszeiten und Notwendigkeiten Die Schafhaltung auf Allmenden gehört in weiten Teilen der Vergangenheit an, aber sie ist eines der wenigen Beispiele der Gegenwart, die Ansätze zeitgemäßen Gemeinschaffens erahnen lassen – mitten in einer kapitalistischen Gesellschaft. Die Schäferinnen und Schäfer handeln nach Logiken, die es schon lange gibt. Ganz offensichtlich folgen sie dem Muster »Gemeinsam erzeugen und nutzen«, wenn sich die Herden von unterschiedlichen Besitzerinnen und Besitzern Weideland teilen, das keinen Eigentümer kennt. Sie widmen sich dem Land und den Tieren, und das geht weit darüber hinaus, den eigenen Hof zu bewirtschaften. »Grundsätzlich werden die Dinge von den Jahreszeiten und Notwendigkeiten diktiert, nicht von unserem persönlichen Belieben«, erklärt James Rebanks. Sich in ein größeres Ganzes einzufügen, ist etwas ganz anderes, als eine jederzeit abrufbare Dienstleistung bereitzustellen, was heute das gesellschaftliche Leben prägt. An die Stelle der Frage, wie ich mir einen möglichst großen Anteil der Welt aneignen kann, tritt die Haltung des »Sich-Zueignens«: Ich nutze und pflege einen Ort beziehungsweise einen gemeinsamen Prozess in einer dienenden Haltung und werde dadurch genährt. Was wir Natur nennen, ist in einer Haltung des Zueignens keine Ressource mehr, die Menschen sich aneignen, sondern wird als Gegenüber auf Augenhöhe erlebt. Den Auf- und Abtrieb der Herden beschreibt James Rebanks als ausgetüfteltes Zusammenspiel aller beteiligten Schäferinnen und Schäfer. Alle haben ihre Rolle, wenn mehrere Herden mit Tausenden Schafen über einige Quadratkilometer zusammen- und die Hänge hinuntergetrieben werden. Zwar übernimmt der oder die Erfahrenste das Kommando, ist damit aber nicht alleinentscheidend oder allein verantwortlich. Auf Augenhöhe zu agieren, kann auch heißen, jemandem zu vertrauen und eine Entscheidung in dessen Hände zu legen. Wie Commoning sich gestaltet, wird gemeinschaftlich gefunden. An die Stelle von vorgegebenen Schemata tritt ein kreativer Prozess, der darauf hinzielt, dass es allen dabei gutgeht. Gesunde Abgrenzungen schließt dies selbstverständlich nicht aus. Wenn sich beim Abtrieb die Schlinge aus Schäfern und Hütehunden auf magische Weise um die Herden zusammenzieht, abgespaltene Grüppchen durch schnelle Hunde wieder zum großen Strom aus Schafen getrieben werden und am Ende jedes einzelne Tier wieder einen Platz in seiner Herde gefunden hat, verwirklicht sich ein komplexer, gemeinstimmiger Prozess. Manchmal funktioniert er auch nicht. Dann wird ein Schäfer oder eine Schäferin, denen ein Schaf oben in den Fells auf Weideland anderer Commoners gerät, so dass es mit anderen Herden hinabgetrieben und später aufwendig zurückgeholt werden muss, mit verächtlichen Blicken gestraft.
Muster beobachten Von seinem Großvater lernte James Rebanks das Bauen von Trockenmauern aus Natursteinen. Sie müssen fein säuberlich aufeinandergeschichtet werden. Der eine hält den anderen. Kippelt einer, droht das ganze Bauwerk einzustürzen. Diese Mauern säumen Wege, markieren Sammelstellen für die Herden. Aber es gibt nicht nur sichtbare Grenzen: Aus der langjährigen Erfahrung ihrer Herde kennen die Schafe die imaginären Grenzen in den Fells, wo das Commons, dem sie gemeinsam mit anderen Herden zugehörig sind, beginnt und wo es endet, wie weit sie äsen können, ohne den anderen Herden das Futter wegzufressen. Grenzen entstehen aus dem Leben und Sterben heraus, aus der Versorgungslage der Herden, aber nicht aus politischem Kalkül. Physische, landschaftliche Grenzen spiegeln nicht selten zeitliche Beziehungen wider. Die Bergschäferei setzt im Jahr 2019 eine Jahrtausende alte Kette des Lernens fort – die Schäfersfamilien ebenso wie die Schafe und Hütehunde. James Rebanks schreibt: »Vergangenheit und Gegenwart bestehen in unserem Arbeitsleben nebeneinander, überlappen sich, greifen ineinander, so dass sich zuweilen schwer sagen lässt, wo die eine endet und die andere beginnt. Jede Aufgabe im Jahreslauf erinnert an die vielen Jahre zuvor, in denen wir die gleiche Aufgabe erledigt haben, und an die Menschen, mit denen wir zusammengearbeitet haben.« Darin spiegelt sich das Commoning-Muster »situiertem Wissen vertrauen« – es drückt aus, wie sehr Kopf, Herz und Hand ineinanderfließen, wenn solides Wissen gefragt ist. Die Schäferinnen und Schäfer zeugen davon, eine besondere Vertrautheit mit Landschaften und Umgebungen zu pflegen, die ihr Tätigsein prägen. Darin steckt etwas Fortwährendes, etwas Wesenhaftes: »Würde ein Wikinger sich neben mich auf den Fell stellen, dann könnte er unsere Arbeit und das Grundmuster unseres Jahresablaufs verstehen«, meint James Rebanks und stellt sich vor, wie er jemandem vor tausend Jahren seine Arbeit nahegebracht hätte. Er reiht sich ein in die vorangegangenen und ihm folgenden Generationen. »Wer sich als Teil der Welt, der Erde und der Landschaft empfindet, wird die Erde nicht als Ressourcenlager betrachten, sondern als nährende Mutter, die über eine subtil gewirkte Nabelschnur stets mit dem eigenen Organismus verbunden bleibt«, schrieb Matthias Fersterer vor fast zehn Jahren in Oya.
Das bäuerliche Leben In diesem Sommer lese ich Rebanks’ liebevoll verfasste Autobiografie aus der Perspektive der »Muster des Commoning«, mit denen uns Silke Helfrich erst in diesem Frühjahr vertraut gemacht hat. Diese neue und zugleich vertraute Perspektive hilft mir, das Selbstverständliche, das die Bergschäferei in sich trägt, neu zu verstehen. Ich begreife mehr und mehr, was das Wesentliche einer alltäglichen, lebensfördernden Praxis ist. Die Schäferinnen und Schäfer verrichten harte Arbeit, tagein, tagaus – sei es das Scheren Hunderter Schafe in kurzer Zeit, die Heuernte in verregneten Sommern oder das Versorgen der Herden in meterhohen Schneewehen. Trotz einiger Maschinen wie dem Quad als beliebtem Transportmittel, bleiben die Menschen stets Wind und Wetter ausgesetzt. Seinen früheren Alltag als Mitarbeiter einer Redaktion in klimatisierten Büroräumen erlebte James Rebanks allerdings viel stärker von Anstrengung, Langeweile und Stress geprägt. Das bäuerliche Leben zeugt von einem feinen Unterschied, den der österreichische Anthropologe Bernhard Heindl so ausdrückt: »Ihre ›Beständigkeit‹ erreichen die Bauern nicht, indem sie ihr Leben von Tag zu Tag endlos und so weiter verlaufen lassen, sondern nur durch ihre Arbeit, kraft der sie immer wieder aufs Neue den Umfang eines möglichst langen Zeitraums umkreisen. Nur in dem Maße und so lange ihnen dies gelingt, so lange vermögen sie ihr ›Haus zu halten‹ und ihren Hof zu bewohnen.« Sich immer wieder neu einer Aufgabe zu widmen, ist etwas völlig anderes, als etwas wieder und wieder zu tun. Das können nicht nur Bäuerinnen und Bauern, wenngleich diese Haltung bei ihnen lebendig und sichtbar ist. Ich kann mein Kind ein Dutzend Mal am Tag mit größter Freude stillen, ohne Abstumpfung zu empfinden. Diese Art der Zuneigung höre ich auch aus dem Arbeiten im Jahreslauf der Bergschäfer heraus.
An der Elbe In meiner Heimat gehören die auf den Elbdeichen grasenden Schafe zum Landschaftsbild. Hunderte kleiner, traditioneller Schafherden existieren noch, und in den letzten Jahren entstanden viele neue, motiviert durch das Schaffen einer Gegenbewegung zur Massentierhaltung. Handwerkliche Meiereien schaffen feine Käsesorten, wie den »Elbtaler«, einen Schnittkäse mit Gartenkräutern oder Kornblumenblüten. Allerhand hübsche und nützliche Gegenstände aus hiesiger, kratzig-robuster Wolle entdecke ich schon hie und da in Haushalten und an den Menschen der Nachbarschaft. Es gibt auch einige Ansätze, hofübergreifend zusammenzuarbeiten. Allerdings: Vermarktungsstrukturen aufzubauen, scheint mir oft im Mittelpunkt zu stehen. Die kleinbäuerliche Schafhaltung droht, durch die Schraubzwingen des Auf-dem-Markt-bestehen-Müssens vereinnahmt zu werden. Der Druck lastet sicherlich auch auf den englischen Bergschäfereien, aber die commonischen Prozesse nehmen ihnen in Teilen diesen Druck. Ein wesentliches Muster, das dort heute stärker hervortritt als noch vor zwei oder drei Generationen, lautet »Fürsorge leisten und Arbeit dem Markt entziehen«. Ohne Einnahmen aus Zuchtverkäufen könnte Rebanks die anfallenden Kosten nicht decken. Er beschreibt jedoch, dass es sich bewährt hat, den Geldfluss klein zu halten, nicht für alles eine Rechnung zu schreiben, nicht jeden Geldhahn anzuzapfen. Die Bergschäferei ist keine Umsonst-Ökonomie, aber entscheidend für das Wesen ihres Tätigseins ist das Geld nicht. Mit dem Blick auf die mich umgebenden Elbschafe frage ich: Wie gelänge von vornherein eine andere Perspektive, die dem Gemeinstimmigen – dem Tätigsein im Dienst des Lebens – gerecht würde? Würden die vielen kleinen Elbhöfe, die heute fast unabhängig voneinander arbeiten, ihren Alltag miteinander verweben und dadurch gestärkt und beständiger werden, dass sie »auf verteilte Strukturen« (siehe Seite 55) setzen? Es erfordert viel Zeit, Commoning-Traditionen aufzubauen. Die noch existierenden Beispiele, wie die Schäferei in den Fells, können Mut machen.
Lesetipps James Rebanks: Mein Leben als Schäfer. C. Bertelsmann, 2015; Bernhard Heindl: Einwärts, auswärts. Vom Hegen der Erde. Edition Löwenzahn, 1997; Thomas Stoffaneller, Susanne Schaber: Schafe in Tirol. Tyrolia-Verlag, 2016