Es gibt sie tatsächlich auf unserer Planetin Erde: die Praxis des »guten Lebens«. Wie kann sie sich selbstbewusst ausbreiten?
Eine artenreiche Sammlung von Schuhpaaren steht vor der Tür. Es erfordert ein wenig Geschick, die eigene Fußbekleidung noch dazwischenzuschieben, ohne den schmalen Pfad in dieser Landschaft vor den Türpfosten zu versperren. Gleich geht es los. Die meisten sitzen schon drinnen. Noch laufen Kinder lachend im Kreis herum; später werden sie in einem Nebenraum spielen, während die Großen Rat halten. Jemand hat Tee und Kaffee gekocht. Kekse und Nüsse stehen bereit. – Offenbar versammeln sich hier Menschen an einem vertrauten Ort, um gemeinsam über ein wichtiges Anliegen nachzudenken: Muss eine von allen im Dorf genutzte Pflanzenkläranlage saniert werden? Soll ein Stadtteilgarten angelegt, eine Freie Schule gegründet oder eine Klima-Protestaktion geplant werden? Alle haben sich schon ihre persönliche Meinung gebildet – jetzt sind die in der Runde Zusammengekommenen bereit, aus dem Schatz der eigenen Fähigkeiten zu einem größeren Ganzen beizutragen … Diese Szene spiegelt eine Qualität wider, der Oya schon seit der ersten Ausgabe auf der Spur ist: Frei von Erwartungen und Vorschriften entsteht in den Nischen des allzu oft durchgetakteten Alltags immer wieder Raum, in denen Menschen spontan und ungeplant oder ganz bewusst etwas gemeinsam gestalten. Internationale Organisationen, in denen diverse eigenständige Projekte, Einzelpersonen und Initiativen zusammenwirken, oder große Wissensdatenbanken wie Wikipedia zeigen, dass solch gemeinschaftliches Beitragen längst nicht nur im Kleinen stattfindet. Ob im kleinsten Kreis oder in einem Zusammenhang von zehntausend Menschen: Es entfaltet sich dabei eine immer wieder ähnliche, nur schwer in Worte zu fassende Qualität des Miteinanders – eine »Qualität ohne Namen«, wie es der Architekt Christopher Alexander ausdrückt. Im Englischen hat sich für solche Gestaltungsprozesse der Begriff »Commoning« etabliert, hier übersetzt mit der Wortschöpfung »Gemeinschaffen«. Zusammengesetzt aus »gemein« und »schaffen«, beschreibt sie einerseits die Qualität, die Gemeinschaft stiftet, andererseits auch das »Gemeine«, das erschaffen und erhalten werden kann, wenn alle an einem Strang ziehen.
Gute Praxis erforschen Das Nachdenken über die »Qualität ohne Namen« führt zu grundlegenden Fragen: Im Englischen lässt sich kurz und knapp formulieren: »Am I commonable?«. Ins Deutsche übersetzt, bedeutet dies etwa: »Kann ich die Fähigkeit entwickeln, als selbstbestimmtes Individuum zum Gelingen eines umfassenderen Zusammenhangs beizutragen?« So wichtig diese persönliche Selbstbefragung ist, so wichtig ist es auch, die uns heute prägende Wirklichkeit zu betrachten: Wie lässt sich das Leben so einrichten, dass es ganz naheliegend wird, frei, fair und lebensfördernd zu handeln? Welche Strukturen befördern, welche behindern das Gemeinschaffen? Wie sollte sich eine Gesellschaft organisieren, damit ihre Mitglieder die sieben kommenden Generationen mitdenken können? Wie wird es also möglich, unser Leben nicht an zunehmender Normierung, Standardisierung und Rationalisierung kapitalistisch geprägter Verwertungslogik auszurichten, sondern stattdessen jene Qualität, die in der eingangs geschilderten Szene anklingt, ins Zentrum zu rücken? Auch wenn die heutige Lebenswirklichkeit oftmals eine ganz andere ist, hat die Selbstorganisation von Menschen, die einander als gleichwürdig achten, auch in unseren Gesellschaften westlicher Prägung eine jahrtausendealte Tradition. Die damit verbundene Haltung zu sich selbst, den Mitmenschen und der mehr-als-menschlichen Welt prägt nach wie vor unzählige Nachbarschaften, Gemeinschaften, SoLaWis oder andere Projekte im Feld der solidarischen Ökonomie. In dieser Ausgabe von Oya blitzen einige Hinweise auf Zusammenhänge auf, die es ermöglichen, vertrauensvoll und hilfsbereit zu fühlen und zu handeln. Sie sollen Orientierunghilfe bieten, wenn es darum geht, zum Gelingen eines Gemeinsamen und zugleich zur Erfüllung der eigenen Bedürfnisse beizutragen. Wir haben Oya-Leserinnen und -Leser, Autorinnen und Autoren gebeten, aus ihren praktischen Erfahrungen und ihrer theoretischen Forschung heraus in Worte zu fassen, was für sie den »Kern des Gemeinschaffens« ausmacht (Seite 32). Dabei wurde erkennbar, dass ein Sich-Einlassen auf das Leben als Ganzes nicht nur anderes Denken und Tun, sondern eine andere Seinsweise mit sich bringt (Seite 27). Inspiriert von einem Workshop mit der Commonsforscherin Silke Helfrich, mit der uns seit der ersten Ausgabe von Oya ein dichter Austausch verbindet, fanden wir im Ansatz der Mustersprache (Seite 49) einen vertiefenden Zugang zum Verstehen und zur Praxis des Gemeinschaffens. Muster eines guten, selbstorganisierten Miteinanders helfen dabei, wahrzunehmen, wo und vor allem auf welche Weise im tagtäglichen Tun gelingendes Gemeinschaffen aufschimmert. Schließlich werden Muster nicht erfunden, sondern gefunden.