In einem Reflexionsprozess fand das »Wohnprojekt 009« aus Tübingen zu einer Struktur, die alle Bewohnerinnen und Bewohner einschließt.von Anja Marwege, erschienen in Ausgabe #55/2019
Die Mitglieder des Hausrats waren frustriert. Die rund 30 Bewohnerinnen und Bewohner des Tübinger Wohnprojekts 009 zeigten immer weniger Interesse an der Arbeit ihres Rats, der jeweils für ein Jahr gewählt wird. Dabei steckte der Hausrat viel Zeit und Mühe in die Sitzungen, in denen seine sechs Delegierten durchaus weitreichende Entscheidungen für das Haus trafen. Mit ihren knapp 25 Jahren Projekterfahrung ist die 009 eines der älteren Wohnprojekte Tübingens. Rund 25 solcher Häuser gibt es inzwischen in der lebendigen Unistadt. Fast scheint es so, als gäbe es hier für jede Lebensphase und jedes Lebensgefühl ein anderes Wohnprojekt. Viele davon sind dem Mietshäusersyndikat zugehörig oder funktionieren nach einem ähnlichen Modell. Die Wohnhäuser sind dann unverkäuflich und damit der Immobilienspekulation entzogen. Sie gehören einem Verein oder einer Genossenschaft, der beitritt, wer im Haus wohnt. Die 009 zeichnet sich besonders durch ihre Altersmischung aus: Zwischen 2 und 65 Jahren sind alle Lebensalter und Lebenssituationen vertreten. Singles, Paare, Kleinfamilien und Wohngemeinschaften leben zusammen unter einem Dach. Wenn sich die Bedürfnisse oder Lebensphasen ändern, werden, wenn möglich, Wände eingezogen oder herausgenommen, damit sich der Wohnraum den Menschen anpasst und sich nicht die Menschen in die Wohnverhältnisse pressen müssen. Unter anderem diese Praxis hat Kontinuität unter den Bewohnenden ermöglicht. Manche wohnt dort bereits seit 25 Jahren. Doch was tun, wenn sich Kontinuität zu Trägheit wandelt? Der Hausrat der 009 hatte den Eindruck, dass nur noch wenige die Sitzungsprotokolle lesen und gedanklich die Entscheidungsprozesse der Delegiertengruppe begleiten. Wie also wird man wieder zum Gesprächsstoff im Wohnprojekt? In der Not kam die Idee, kleine Pointen in die Protokolle einzubauen. Die Hausratsmitglieder hatten großen Spaß beim Ersinnen. Wer von der neuen Praktik erfuhr, suchte nach der Veröffentlichung eines neuen Protokolls eifrig nach der nächsten Ente und amüsierte sich köstlich. Die Protokolle wurden von mehr Menschen gelesen, und der Hausrat fühlte sich in seiner Arbeit wieder gesehen. Doch nicht alle verstanden die Witze; manche nahmen für bare Münze, was nicht ernstgemeint war, und fühlten sich ausgeschlossen. Eines Tages verkündete ein Protokoll: »Der Hausrat stimmt der Anfrage der FDP-Ortsgruppe zu und genehmigt einmal pro Monat ein Treffen im Hauscafé des Wohnprojekts.« Weder die Anfrage noch die Entscheidung gab es wirklich. Doch eine Person fiel darauf herein, erhob Einspruch gegen den vermeintlichen Beschluss und fühlte sich anschließend vorgeführt. Die Situation eskalierte. An diesem Punkt drohte die Stimmung im gesamten Projekt zu kippen. Der Alltag von Gemeinschaften oder auch das Tun gemeinsamer Initiativen ist aufregend und fordernd. Nicht selten fällt dabei etwas Wichtiges unter den Tisch: »In vielen Commons sind sich die Beteiligten ihrer eigenen Praxis nicht wirklich bewusst – oft bleibt der Kern der sozialen Dynamiken im Dunkeln«, schreibt Silke Helfrich. Sie vergessen, wie das Commons zu erhalten ist. Was war also die Aufgabe, die sich dem Wohnprojekt stellte? Im entscheidenden Moment besann sich die Hausgemeinschaft und machte sich bewusst: Die Enten sind keine tragbare Lösung. »Wir begannen, genauer über unsere Struktur nachzudenken«, erzählt Sigrun Preissing, die seit 14 Jahren im Haus wohnt. »Wir stellten fest, dass die Arbeitsweise des Hausrats nicht transparent genug war, um sie angemessen wertschätzen zu können. Genau das fehlte dessen Mitgliedern aber.« Also wurde beschlossen, sich eine neue Struktur zu geben. Seitdem hängt der Hausrat spätestens eine Woche vor der nächsten Sitzung eine Liste mit den anstehenden Themen aus. Alle können Punkte ergänzen. Drei Tage vor der Sitzung wird die Liste geschlossen, und genau diese Themen werden behandelt. Am wichtigsten ist vielleicht: Jede und jeder kann beim Treffen des Hausrats dabei sein und gleichrangig mitentscheiden. Anschließend wird das Protokoll verschickt, und eine Woche lang kann Einspruch erhoben werden. Sigrun beschreibt, was dieses neue, durchlässige Vorgehen verändert hat: »Ich verstehe die Treffen als eine Einladung an uns alle. Wenn mir etwas wichtig ist, gehe ich dorthin, auch wenn ich nicht Mitglied im Hausrat bin. Alle sind in der Verantwortung, auch diejenigen, die nicht kommen.« Daraus folgt für sie: »Ich muss mich selbst ernstnehmen und darf nicht hinterher mosern.« Sigrun ist selbst Erforscherin einer Ökonomie des Beitragens. Zwei Jahre lang untersuchte sie aus ethnologischer Perspektive Versuche von Tauschlogikfreiheit und geldreduziertem Miteinander auf einem landwirtschaftlichen Hof und bei drei an verschiedenen Orten lebenden Frauen, die ihre Geldökonomie teilten. Um zu einer dienlicheren Struktur zu finden, war der gemeinschaftliche Reflexionsprozess des Wohnprojekts 009 essenziell. Silke Helfrich betont, es sei unabdingbar, dass Commoners über ihre eigene Governance reflektieren. Nur so könnten sie Einhegungen, Vereinnahmungen oder institutioneller Entropie vorbeugen. Genau diese Gefahr hatte Sigrun beobachtet. Aus ihrer Erfahrung weiß sie, dass in Projekten oft bestimmte Strukturen oder Methoden für Kommunikation oder Entscheidungsfindung genutzt und auch an Neue weitergegeben werden. »Aber die Haltung geht im Lauf der Zeit oft verloren, die Ausgangslage gerät ins Vergessen. Am Wichtigsten erscheint mir deshalb die Frage: Wie können wir eine Haltung lernen, die einen gemeinsamen Weg aller ermöglicht? Wie können wir überprüfen, ob die praktizierten Strukturen diesem Ziel überhaupt noch dienen?« Das gemeinsame Reflektieren kann tausendundeine Form annehmen und sich selbstverständlich auch immer wieder verändern. Reflektieren ist nichts Statisches, aber die Tatsache, dass eigene Strukturen bewusst angeschaut und überdacht werden, zieht sich in gesunden Gemeinschaften wie ein roter Faden durch das Zusammenleben.
Gemeinsames, das stellten die Commoningforschenden fest, entsteht nicht ohne gemeinsames Tun, und gemeinsames Tun gelingt nicht ohne bewusste Reflexion der eigenen Organisationsformen.Silke Helfrich und David Bollier nennen dieses grundlegende Muster des Commonings, »die eigene Governance reflektieren«, also sich die eigenen Strukturen und Formen des Zusammenwirkens bewusstzumachen und sie hier und da zu hinterfragen. Das ist essenziell, wenn ein Commons Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauern soll. »Formen des Commonings, deren sich die Beteiligten nicht bewusst sind, riskieren zu scheitern. Wenn nicht auf die stabilisierende Kraft jahrhundertealter Traditionen, Kulturen und Rituale zurückgegriffen werden kann, müssen Menschen klar ausdrücken können, warum ein Commons funktioniert und wie es verbessert werden kann.« In einem Reflektionsprozess, bei dem die Beteiligten sich einander zuhören und zuwenden, steckt eine wesentliche Facette der Muster: Sie nehmen das Fühlen als selbstverständlichen Teil des Prozesses wahr. Dazu gehört das Sich-Hineinversetzen in andere Menschen, Orte, ja sogar in Dinge, die für den Kontext relevant sind. Daraus folgt eine immer wieder wandlungsfähige Ausrichtung und Standpunktveränderung: Gemeinsames Reflektieren bedeutet auch, sich in einer Sowohl-als-auch-Haltung zu üben. Feines Justieren wird möglich, wenn die eigenen Strukturen offenliegen und greifbar sind. Das Muster »Die eigene Governance reflektieren« steht praktisch zu jedem anderen Muster in Beziehung. Es zieht – vermutlich mehr noch als andere – viele neue Fragen nach sich: Wie fügen sich Reflektionsprozesse organisch in den Lebensrythmus von Projekten ein, ohne dass es aufgesetzt oder vorgeschrieben wirkt? Wohin mit der Sprengkraft und vielleicht auch Zerstörungskraft, die in diesem Muster steckt?