Michaela Voß begleitet die ersten Lebensjahre ihrer Söhne zu Hause und hat mit dem Laden »Wollhelden« eine Arbeitsweise gefunden, die zu ihrem Leben passt.
von Maria König, erschienen in Ausgabe #55/2019
Wer im Osten Thüringens die kleine Stadt Hohenleuben durchquert, erreicht bald den Ortsteil Brückla. Gut 250 Menschen leben hier. Die Dorfstraße schlängelt sich einen Hang hinab. Kurz vor Ortsende erhebt sich linker Hand ein malerischer historischer Vierseithof mit weiß gekalkten Wänden, Fachwerk und Schieferdach. Diesen Hof hat Michaela Voß 2011 gemeinsam mit ihrem Partner und dem damals einjährigen Sohn Jakob bezogen. Seitdem bieten das Haus, die Scheune, der Innenhof, die hügelige Wiese dahinter und ein kleiner Teich Jakob und inzwischen auch seinen kleinen Brüdern Timon und Laurin viel Platz zum Entdecken und Erforschen. »Die drei Jungs sind wie beste Freunde, sie streiten selten bis nie«, erzählt mir die 35-jährige Michaela. »Als Jakob vor zwei Jahren in die Schule kam, war das ein großer Einschnitt. Timon ist morgens aufgestanden und hat gefragt, wann der große Bruder wieder nach Hause kommt. Mitunter hat er stundenlang am Fenster gehockt und gewartet. Es fehlt jemand, wenn der Große nicht da ist. Wenn umgekehrt Jakob Freunde mit nach Hause bringt, dürfen die Geschwister immer mitspielen. Die Brüder gehören eben dazu.«
Ein gewachsenes Leben mit Kindern Beide Eltern sind gelernte Heilerziehungspfleger, aufbauend hat Michaela Soziale Arbeit studiert. Gemeinsam haben sie sich dafür entschieden, dass der Vater arbeiten geht und Geld verdient, während die Mutter mit den Kindern zu Hause bleibt. »Die Entscheidung gegen eine Kindertagesstätte war nicht von Anfang an geplant«, erklärt Michaela, »aber angesichts der Fahrstrecke in eine Einrichtung, die uns entsprochen hätte, hat es sich für uns besser angefühlt, die Jungs zu Hause zu lassen«. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass den Kindern auf dem Hof nichts fehlt. Inner- und außerhalb des Dorfs haben sie verschiedenste Kontakte, gehen zum Beispiel zur musikalischen Früherziehung und zum Kindersport. Auch wenn es für die Eltern herausfordernd war, die Fürsorge für die Kinder, den Haushalt, Erwerbsarbeit und das Studium gleichzeitig zu verwirklichen, sind sie bis heute froh darüber, ihr Leben ohne die Institution Kindergarten organisieren zu können. Inzwischen findet Michaela auch den Gedanken, ihre eigenen Kinder in Fremdbetreuung zu geben, um selbst als Erzieherin zu arbeiten, reichlich absurd. Für die Familie hat sich ein entspannter Tagesrhythmus etabliert. Morgens vor dem Frühstück können die Kinder ausschlafen und spielen. Danach entscheiden sie, was sie unternehmen wollen – ob sie lieber basteln und malen oder nach draußen gehen, ob sie ihre Mutter beim Wäscheaufhängen begleiten oder zu den Tieren des Hofs schauen möchten. Michaela berichtet von diesem Alltag: »Ich kann meinem eigenen Tagwerk nachgehen, während die Kinder in Hörweite spielen. Wenn sie meine Hilfe brauchen, bin ich präsent. Wir üben uns im Vertrauen und guten Absprachen, wenn sie beispielsweise unbeobachtet am Teich spielen.« Ihr ist bewusst, dass sie als Bewohnerin eines Hofs privilegiert ist: Unmittelbar vor der Haustür liegt für die Kinder ein weitgehend geschützter Spielraum, in dem sie sich selbst organisieren können. Wer hat schon so ein kinderfreundliches Lebensumfeld? Selbst in Dörfern lassen viele Eltern aus Angst vor Autos und Landmaschinen ihre Kinder nicht unbeaufsichtigt spielen. Wenn wir Kindern Selbstorganisation zutrauen – müssten dann Ortschaften nicht ganz anders gestaltet sein? Bei richtig schlechtem Wetter hüpfen Jakob und seine Brüder in der Scheune auf dem Trampolin oder toben dort herum. Michaela betont: »Dass sie so viel selbständig unterwegs sind, heißt nicht, dass ich nicht mit ihnen spiele oder ihnen nicht zwischendurch auch einmal vorlese, aber sie brauchen nicht den ganzen Tag meine Gegenwart.« Für eine solche Lebensgestaltung war es wichtig, dass die Familie mit einem kleinen Budget auskommt. »Wir haben immer wenig Geld verdient und waren damit zufrieden, weil es zum Leben und Überleben reichte«, meint Michaela. Unsere Prioritäten sind andere als Geld. Es ist uns nicht wichtig, in Vergnügungsparks und ins Kino zu gehen. Dafür haben wir mehr Zeit mit den Kindern.«
Ein Laden ohne Konkurrenzdruck Vor vier Jahren hat Michaela einen Online-Laden für Stoffwindeln aufgebaut. Die Selbständigkeit war eine geeignete Möglichkeit, die Kinder auch nach dem Studium ohne Arbeitslosenstatus – und den damit verbundenen Druck vom Amt – zu Hause zu betreuen. Inzwischen nennt sich ihr Geschäft »Wollhelden« und führt auch Kinderkleidung aus Wolle sowie Barfußschuhe. »Diese Arbeit passt zu meinem Leben«, erzählt Michaela. »Ich verkaufe nur, was wir selbst nutzen. Dank der Händlerpreise kann ich es uns ermöglichen, die Kinder plastikfrei zu kleiden, und sie sind aufgrund der Eigenschaften von Wolle immer gut eingepackt.« Als Selbständige kann Michaela die Arbeitszeit für den Laden flexibel mit der Betreuung ihrer Kinder verbinden, musste in den ersten Jahren aber auch erst lernen, sich und ihrer Familie ganz freie Feierabende und Wochenenden einzuräumen. Während sie sich ungern mit Marketing, Buchhaltung und Steuern beschäftigt, pflegt sie zu Kundinnen, Herstellern und Kolleginnen gerne Kontakt. »Hinter der Herstellung und dem Vertrieb von Naturtextilien steckt immer eine bestimmte Portion Idealismus«, sagt sie. »Es gibt unter uns Kolleginnen und Kollegen keinen Konkurrenzkampf, sondern ein schönes Miteinander und einen guten Austausch.« Seit drei Sommern kommt eine Freundin aus Worms, die ein ähnliches Geschäft betreibt, zu Besuch nach Brückla. Im letzten Jahr hatten die beiden die Idee, alle Stoffwindelberaterinnen aus der Gegend einzuladen und ein Treffen zu veranstalten. Eine neue Beraterin aus Alstenberg blieb spontan mit ihrem Mann und ihrem einjährigen Kind bis abends um zehn. »Jedesmal, wenn Menschen hier auf den Hof kommen, ob als Feriengäste oder im Rahmen eines solchen Treffens, empfinde ich das als große Bereicherung«, sagt Michaela. »Wir unterhalten uns gut, essen gemeinsam Abendbrot, und die Kinder spielen zusammen. Schon oft sind aus diesen Begegnungen Freundschaften gewachsen.« Seit einiger Zeit bahnt sich ein größerer Umbruch an. Michaela und der Vater ihrer Kinder werden nicht mehr in dieser Form zusammenleben. Die Wellen, die diese Phase gerade mit sich bringt, sind freilich nicht immer leicht zu bewältigen. Dennoch ist sie zuversichtlich, dass sich ein guter Weg finden wird. »Als Jakob noch recht klein war«, erinnert sie sich, »meinte er einmal zu mir: ›Mama, eigentlich muss man jeden Tag genießen, weil doch jeder Tag einmalig nur ist.‹ Und ich finde, da hat er Recht.«
Angesichts alltäglicher Tätigkeiten, wie der Begleitung von Kindern, der Pflege kranker Angehöriger oder eines freundlichen Gesprächs im Treppenhaus, wird deutlich, dass geldvermittelte Arbeit nur einen winzigen Teil dessen ausmacht, was für den Zusammenhalt menschlicher Gesellschaften lebensnotwendig ist. Ökonomie (von griechisch »oikos«, »Haushalt«, abgeleitet) in diesem umfassenden Sinn beschränkt sich nicht nur auf die Vermehrung von Kapital, sondern beschreibt gutes Haushalten mit jeglichen Lebensgrundlagen, seien es Mitmenschen, Tiere, Pflanzen, Böden, Gewässer, Energie, kulturelle Schätze oder auch Muße. Darin ist Arbeit keine bloß veräußerbare Einheit, sondern meint ein Tätigsein, das sich aus dem Bedürfnis, produktiv sein zu wollen und das eigene Umfeld zu erhalten, speist, ebenso wie aus den persönlichen Leidenschaften und Anliegen der Menschen. Liebe, Zuwendung und Sorge spielen dabei ebenso eine Rolle wie das Bewusstsein für die Dinge, die notwendigerweise getan werden müssen. Die Frage, die sich aus einer solchen Perspektive stellt, ist: Wie kann ich einer Aufgabe mit meinem gesamten Menschsein begegnen? Letztlich kann jegliches Tun – selbst Büroarbeit, Handwerk oder der Vertrieb nützlicher Dinge – als Fürsorge begriffen werden. Den Unterschied macht die Haltung: Wird meine Arbeitszeit zur verkäuflichen Ware, oder pflege ich durch mein Tätigsein in erster Linie einen sinnstiftenden, Leben unterstützenden Zusammenhang? Wer in diesem Sinn handelt, wird das Arbeitsleben immer weniger am monetären Gewinn, sondern an dem, was für sie oder ihn selbst und andere nährend wirkt, ausrichten – und damit sich selbst den Marktmechanismen ein Stück weit entziehen. Am konkretesten wird bei der Pflege naher Angehöriger deutlich, wie wenig Sorgearbeit und ein »normales« Arbeitsleben mit einer 40-Stunden-Erwerbsarbeitswoche zusammenpassen. Wer sich für solche Sorgearbeit entscheidet, erlebt finanzielle Einbußen. Wie könnte eine Lebensweise gestaltet sein, die es ermöglicht, Produktivität und Fürsorge im Alltag selbstverständlich zu verbinden?