von Thomas Klischke, erschienen in Ausgabe #55/2019
Im April 2018 reise ich nach Nürnberg. Der Leiter des »Dehnberger Hof Theaters«, Ralf Weiß, will mit mir über ein neues Klassenzimmer-Theaterstück reden. »Weißt du, was das Besondere an Postkutschenpferden war?«, eröffnet er das Gespräch. Ich habe keine Ahnung. »Sie wurden alle identisch ausgebildet, damit sie jedem beliebigen Postillon, egal ob grob, sanft, wild oder betrunken, gehorchen.« »Scheuklappen runter, und ab die Post!«, werfe ich ein. »Wenn ich an das derzeitige Schulsystem denke – ein Bildungssystem aus dem vorletzten Jahrhundert –, muss ich unweigerlich an die Postkutschenpferde denken«, stellt Ralf die Verbindung zu unserem Thema her. »Du meinst, die Kinder an deutschen Schulen werden zu Postkutschenpferden dressiert?«, hake ich nach. »Ja! Auch wenn der Vergleich hier und da etwas hinkt.« Dann schwenkt er zum Grund für meine Einladung über: »Was, wenn du ein Theaterstück erfindest, das in bescheidenem Maß eine Gegenwelt entwirft oder so etwas wie Möglichkeiten aufzeigt, wie Lernen künftig aussehen kann?!« »Das wäre dann wohl eher ein Stück für die Lehrkräfte, weniger für die Kinder, richtig?« »Vielleicht schaffst du ja beides«, grinst Ralf. In meinem Kopf kreisen Fragen. Was ist Lernen überhaupt? Wie funktioniert es? Wenn die Schul- und Lernsysteme veraltet sind, wie sehen dann die Alternativen aus? Was muss ein Mensch überhaupt lernen? Vor allem aber frage ich mich: Wieso definieren wir Erwachsenen, was ein junger Mensch zu lernen hat? Als Regisseur, Autor und Coach habe ich jedes Jahr mit Hunderten Kindern zu tun. Ich begegne ihnen bei meinen Lesungen, während Workshops oder bei der szenischen Arbeit an Theaterstücken. Ich erlebe diese jungen Menschen immer wieder aufs Neue als neugierig, fantasiebegabt, wissensdurstig und begeisterungsfähig. Offenbar sind Kinder am glücklichsten, wenn sie spielen. Dass sie dabei auch auf eine ganz selbstverständliche Weise lernen, gilt wissenschaftlich als gesichert. Wir brauchen also ein interaktives Stück, in dem gespielt wird.
Ein Theaterstück zum Austoben Interaktives Theater beschäftigt mich seit vielen Berufsjahren und bedeutet, dass den Zuschauenden Möglichkeiten geboten werden, sich aktiv einzubringen. Schon oft hat das Dehnberger Hof Theater mir die Gelegenheit gegeben, als Autor und Regisseur neue Formen des Kindertheaters zu erproben, beispielsweise mit dem Anti-Mobbing Stück »Die Reise zu Kata Teochi«. Darin besteigen Kinder ein Schiff, das sie selbst gemeinsam in Fahrt bringen, und machen sich auf die Suche nach einem gefährlichen, Menschen zerstörenden Drachen, den sie letztlich in ihren eigenen Reihen finden. Die zuschauenden Kinder werden mit einbezogen; sie müssen Entscheidungen treffen, Handlungen reflektieren und das Schiff in Bewegung halten. Auf diese Weise haben sie am Fortgang der Geschichte teil. Das Stück ist seit 2013 im Spielplan und wird es bleiben. Das neue Stück »Samla« soll noch weiter führen und einen Raum öffnen, in dem nicht mehr eine zu vermittelnde Geschichte im Vordergrund steht, sondern das Erleben der verschiedenen kindlichen Individuen. In meinem Kopf notiere ich mir meine Wünsche: Die Kinder sollen spielen, entdecken und forschen. Kein Erwachsener darf sich wertend einmischen. Jedes Kind soll sich individuell »austoben« können.
Selbst wirksam sein Begeistert von einer Dokumentation über das Schulsystem in Finnland, die mir verdeutlicht, wie radikal anders Lernen organisiert werden kann, reift in mir der Gedanke, Menschen zu besuchen, die sich in Deutschland mit solchen Themen beschäftigen. Ich beschließe, eine mehrmonatige Recherchereise zu unternehmen, um den Gegenstand des neuen Stücks hautnah, haptisch, zwischenmenschlich und wirklichkeitsnah durchdringen zu können. Außerdem frage ich den Bühnenbildner, Videokünstler und Autor Sean Keller, ob er gemeinsam mit mir das Stück entwickeln möchte. Er sagt begeistert zu und wir machen uns auf den Weg. Im Lauf unserer Reise treffen wir Pädagogen, erkunden interaktive Museen, besuchen Mitmachtheater, alternative Schulen und Bildungseinrichtungen, lernen Freilernerinnen kennen und besuchen die alternative Bildungsmesse »Ausbruch!«. Wir fragen uns, welchen Rahmen das Stück benötigt, damit Kinder darin frei entscheiden können, was sie tun oder womit sie sich beschäftigen. Nach einer Reihe von interaktiven Theaterbesuchen ist eine unserer ersten Erkenntnisse, dass die Zuschauenden weder einen echten Einfluss auf die Geschichte haben, noch Entscheidungen treffen, die eine Wirksamkeit innerhalb des Stücks oder Spiels (oder gar außerhalb des theatralen Raums) hätten. Dass keine einzige Produktion diese Prämisse erfüllt, ist ernüchternd. Was die Teilnehmenden tun, bleibt letztlich wirkungslos. Ein Lernen anhand eigener Entscheidungen und deren Auswirkungen ist in diesem Kontext nicht möglich. Zunächst wundert uns dieser Status quo des interaktiven Theaters, erklärt sich uns aber bald aus dem Umstand, dass alle von uns besuchten Stücke noch immer mit den üblichen Säulen der Theaterwelt arbeiten: Zeit, ein definierter Ort, Personen und eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende. Bereits an dieser Stelle ahnen wir, dass wir diese Theaterstandards womöglich aufbrechen müssen. Wir tragen alle Schulen, Personen und Einrichtungen zusammen, die uns durch Lesungen, Workshops oder Theater-Gastspiele als »anders« oder »alternativ« im Gedächtnis geblieben sind. Wir recherchieren im Internet, und wie bei einer Schnitzeljagd finden wir weitere Schulen, Initiativen oder Kollektive. Wir vereinbaren Interviews und Schulhospitationen, treten in Mailverkehr und erzählen allen Menschen, die uns begegnen, von unserem Vorhaben. Wir fragen uns und andere, ob und wie sich Methoden des alternativen Lernens beziehungsweise die ganzheitliche Sicht auf die Art und Weise, wie Kinder lernen, auf ein Theaterstück übertragen lassen. Zu unserer Verwunderung herrscht wie selbstverständlich die Ansicht, Theater bedeute, leise zu sein, zuzuschauen und zu lernen. Damit wollen wir uns nicht zufriedengeben.
Auf Entdeckungsreise Anfang des Jahres 2019 beenden wir unsere Recherche und tragen alle Ideen, Lernmethoden und wesentlichen Ziele wie in einem Baukasten zusammen. Damit reisen wir nach Sysmä in Zentralfinnland, wo wir dank eines Stipendiums des finnischen Literaturinstituts vier Wochen lang in Ruhe arbeiten können. Schon früh beschließen wir, das Stück den Kindern nicht als Theater anzukündigen. Stattdessen klopft es an der Klassenzimmertür, und die Kinder entdecken eine Kiste mit einem Funkgerät. Eine Stimme lockt sie in einen anderen Raum. Die Kinder stürmen los und lassen alles stehen und liegen. In dem vorbereiteten Raum finden sie zahlreiche, liebevoll zu Kreisen arrangierte Gegenstände vor, nehmen diese in die Hand, spielen damit, probieren Geräte aus oder setzen sich Hüte und Sonnenbrillen auf. Die Lehrkräfte dürfen sich nicht einmischen. Nach einiger Zeit tauchen Samla Yksi und Samla Kaksi auf, die offenbar die Gegenstände zusammengetragen haben. Sie verwenden eine seltsame Sprache ohne Verneinungen, ohne Fragen, ohne »er« oder »sie«. Es stellt sich heraus, dass die beiden aus einer Welt ohne manufakturierte Dinge kommen. Sie wissen zum Beispiel nicht, was eine Flasche ist und wie sie benutzt wird. Samla stellen keine Fragen, sie formulieren Aussagen. Das fordert die Kinder – so hoffen wir – heraus, statt »Weiß nicht«, »Nein« oder »Keine Ahnung« eigene Fantasien zu beschreiben oder Behauptungen und Vermutungen aufzustellen. Samla bewerten diese Aussagen nicht, stattdessen – so planen wir – mögen sie es, Worte, Sätze, Tätigkeiten oder Verhalten zu spiegeln. Zu Yksi und Kaksi überlegen wir uns, dass sie ein Geheimnis teilen. Ihnen ist ein Kartenspiel, das sie als »die bunten Farben« bezeichnen, auf den Kopf gefallen. Eines Tages begreifen sie, dass die echte Blume im Gras genauso aussieht, wie eine der »bunten Farben«. Sie schlussfolgern, dass es auch die anderen Dinge auf den »bunten Farben« real in der Welt geben muss, und begeben sich auf Wanderschaft, entdecken die Menschen und sammeln all die Dinge, die sie von den Abbildungen der Karten kennen. Ende März 2019 haben wir knapp 90 Seiten vollgeschrieben mit theoretischen Kindergesprächen, mit Hintergrundgeschichten für die Schauspielenden und mit Spiel- und Handlungsoptionen. Hinzu kommt das Memory-Kartenspiel von 2 mal 36 Karten. Schon in Finnland wird uns klar, dass wir die Kernsituationen des Stücks so schnell wie möglich mit Kindern ausprobieren müssen. Da die Schauspielerinnen und Schauspieler mit der verneinunsgfreien und fragefreien Sprache während der ersten Proben extreme Schwierigkeiten haben, führen wir zunächst Workshops ohne Figuren und nur mit den Karten durch. Der erste Test wird zu einem Initialfunken. Fast eine halbe Stunde lang beschäftigen sich die Kinder ohne Ansagen oder Aufforderungen von uns mit den Karten. Sie rätseln, sortieren, mutmaßen und erfinden am Ende sogar eine Geschichte – bis die Rückseiten entdeckt werden. Mit Hilfe roter Folie dekodieren die Kinder die Rückseiten und entdecken Texte zu den Bildern auf den Karten, finden Fragen und Anleitungen zu Experimenten. Die Idee, dass die Kinder sich mit den Gegenständen und Karten ohne Einmischung auseinandersetzen, geht auf. Unsere eigentliche Baustelle ist das klassische Schauspiel und die Dramaturgie einer Geschichte. Schauspieler sind es gewohnt, Dialoge zu lernen und Szenen zu haben, die hier beginnen und dort enden. Sie leben davon, dass die Zuschauenden ihnen Aufmerksamkeit schenken. Doch in »Samla« ist vieles anders. Statt einer durchkonstruierten Geschichte gestalten wir eine Situation, in die Kinder und Samla gleichermaßen hineingeraten. Statt festgeschriebener Dialoge erfinden wir Bedürfnisse für die Figuren, die sich in Interaktion mit den Kindern ständig ändern können und sollen. Die Figuren wiederum nehmen Impulse von den Kindern auf, bewerten diese aber nicht, sondern übersetzen sie in soziale Interaktion – also in Handlung, spontane Aktion oder Spiegelung. Das Stück fordert einen hohen Grad an Einfühlungsvermögen von den Samla-Darstellenden. Sie müssen nicht nur in der fremden Sprache agieren und improvisieren, sondern sind auch gefragt, die Ideen und Vorgaben der Kinder zu erfassen und ihnen zu folgen. Das kann nur im Miteinander geübt werden.
Ein berührender Erfahrungsraum Am 8. Mai 2019 ist es soweit. An der Grundschule in Burgthann findet die Uraufführung statt. Da Zuschauende von diesem Stück ausgeschlossen sind, horchen Sean und ich an der Tür und lassen uns später berichten. Eine Lehrerin schreibt uns: »Die Kinder und ich waren begeistert. Die Karten beschäftigten sie sehr, und sie wollten ihre Rätsel lösen. Ganz großes Kompliment an die Schauspielerinnen: lebendig, überraschend, mitreißend, interessante Kostüme, geniale Mimik, Gestik und Sprache, faszinierende Ausstrahlung – unmöglich, nicht mitzumachen.« Die Erfahrungen der folgenden Vorstellungen sind so unterschiedlich wie die Kinder selbst. Letztere reichen von Schweigenden, die stumm den Dialogen der Samla zuhören und gehemmt vor den Gegenständen sitzen, bis zu Kindern, die vollkommen in szenischem Spiel oder Kartenentdeckungen aufgehen und die Anwesenheit der Samla nicht einmal mehr wahrnehmen. Von vielen Lehrkräften hören wir nach den Vorstellungen Sätze wie: »Ich habe die Kinder heute vollkommen neu kennengelernt« oder »Ich wusste gar nicht, dass sich Alberto für Geografie interessiert«. »Samla« ist und bleibt für mich ein großes Experiment, das am Ende mehr Fragen als Antworten aufwirft. Seit meiner Kindheit sind Fragen für mich Türöffner zu Entdeckungen jenseits dessen, was ich glaube zu können oder zu wissen.
Thomas Klischke (44) ist Schauspieler, Dramatiker und Theaterregisseur. Seine Inszenierungen finden bei Theaterfestivals großen Anklang. Er ist Autor der Kinderbuchreihe »Käpt’n Kaos« sowie Kinder- und Jugendbotschafter der Stiftung »Wertestarter«.