In der Schweiz sorgen dezentral organisierte Genossenschaften für eine gemeinsame
Altersvorsorge jenseits des Markts.von Daniel Schläppi, erschienen in Ausgabe #56/2019
Als Kind verbrachte ich viele freie Nachmittage bei meinem Patenonkel, der bei uns im Dorf »auf der Genossenschaft« arbeitete, wo die Bauern günstig Güter des Grundbedarfs beziehen konnten. Ich durfte an altmodischen Seilzügen den Warenaufzug bedienen, mit dem wir die schweren Futtersäcke aus dem Keller hochhievten. Als mein Großvater starb, erbte ich ein paar »Kuhrechte« auf einer Gemeinschaftsalp. In den 1970er Jahren führte meine Mutter eine Bürgerinitiative gegen eine Autobahn durch unser Tal an, und wir Kinder (er)lebten dabei – an Festen, beim Unterschriftensammeln und wenn wir zusammen ganze Abende lang von Hand Hunderte von Mitgliederbriefen adressierten – Commoning. Als Jugendlicher leitete ich eine Organisation, die auf Basis von Freiwilligenarbeit mit behinderten Jugendlichen Zeltlager im Wald veranstaltete. Später wirkte ich bei einer Interessenorganisation von Musikerinnen und Musikern mit, die in Selbsthilfe ein Konzertlokal betrieb. Ich habe mehrere Bücher und viele Fachartikel über historische Commons verfasst und wohne in einer Genossenschaftssiedlung. Ganz beiläufig und selbstverständlich prägen kollaborative Institutionen meine Biografie. Deshalb finde ich eine Basisbewegung faszinierend, die in der Schweiz gerade Fahrt aufnimmt und neue Wege in der Altenpflege beschreitet. Die Rede ist von »Kiss« (»Keep it small and simple«), einem Verbund eigenständiger Genossenschaften, die sich aus sozialen Netzwerken vor Ort formieren. Ihre Mitglieder erbringen freiwillig und ohne Bezahlung Unterstützungsleistungen für Betagte und Bedürftige. Als Gegenleistung bekommen sie die aufgewendete Zeit gutgeschrieben, die sie irgendwann beziehen können, wenn sie selbst Bedarf nach Leistungen haben. Auf der Grundlage von Vertrauen in die langfristige Tragfähigkeit der Gemeinschaftsprojekte sind Geben und Nehmen in diesem System nicht mehr an enge Tauschbeziehungen gekoppelt. Diese Art der Zeitvorsorge ist nicht neu und wird etwa in Japan seit Jahrzehnten praktiziert. Bei herkömmlichen Zeitbanken bilden Trägerschaften finanzielle Reserven, um für angesparte Zeit zu garantieren. Kiss-Mitglieder, das sind schweizweit gut 1000 Menschen, hingegen engagieren sich in ihren Organisationen ohne gesicherten Anspruch darauf, ihre persönlichen Guthaben einzulösen. »Na und?«, werden manche sagen – und dabei übersehen, welch ein starker Impuls zu gesellschaftlicher Transformation von institutionell gefasstem Gemeinschaftshandeln ausgeht, wenn individuelle Nutzungsinteressen in den Hintergrund treten. Im Licht der Geschichte von Kiss wird deutlich, welch fundamentaler Wandel sich dort manifestiert.
Commoning nicht ohne Kritik Commons gibt es seit Jahrtausenden, und bis in die Gegenwart bestehen in der Schweiz sogenannte Korporationen (»Körperschaften«), die auf Regelwerken aus dem Mittelalter beruhen. Sie verteidigen über Generationen erlangte Privilegien nach außen hin und gegen den Lauf der Zeit. Die Zugehörigkeit beruht nicht auf freier Wahl, sondern wird meist exklusiv in der Patrilinie, der väterlichen Verwandtschaftslinie, vererbt. So entstehen geschlossene Gesellschaften, die nicht nur keine neuen Mitglieder aufnehmen, sondern auch »überzählige Töchter« und deren Nachkommen von der Teilhabe an den gemeinsamen Errungenschaften ausschließen. Nur Alteingesessene haben einen Nutzen von den über Generationen angesparten kollektiven Ressourcen. Das schiere Alter historischer Commons und ihre Beständigkeit über historische Umbrüche hinweg belegen, dass sich ihre Strategien zur Besitzwahrung und Bestandssicherung unter stetig gewandelten Vorzeichen bestens bewährten. Die Belange des Kollektivs rechtfertigten rücksichtslose Eingriffe in Biografien von Menschen mit wenig Ressourcen und Perspektiven: Heiratsverbote wegen fehlender Finanzen, Entzug des Bürgerrechts wegen Bagatellvergehen oder längerer Ortsabwesenheit, Kriminalisierung illegitimer Mutterschaft, Abschiebung unehelicher Kinder, horrende Gebühren bei Heirat mit Frauen aus anderen Gemeinden. Dennoch können moderne Commons-Projekte von althergebrachten Wissensvorräten und den daraus fließenden Denk- und Handlungsweisen viel lernen, und das tun sie auch. Schon im Mittelalter beschafften Gruppen dringend benötigte Güter über »Pooling«, also über kleine Beiträge vieler. Gemeinwerk ist ohne Geld möglich, und genau diesen Effekt nutzen die Kiss-Genossenschaften, die es erst seit ein paar Jahren gibt. Sie verhelfen ihren Mitgliedern zu einer bezahlbaren Altersvorsorge und sparen der Gesellschaft damit immense Kosten, weil Betagte dank punktueller Unterstützung länger zu Hause wohnen können, ohne auf staatlich subventionierte Plätze in Pflegeheimen angewiesen zu sein. Das gelingt nur, weil sich die Kiss-Gruppen schlaue Regeln gegeben haben, dank derer sie die Fallgruben und Zwänge der Geld- und Marktwirtschaft umschiffen: Erstens sind die angesparten Zeitvermögen nicht handel- oder vererbbar, können bestenfalls verschenkt und deshalb nicht einmal bei massiv steigender Nachfrage zum Objekt von Spekulation und Preistreiberei werden. Auch historische Commons schützten ihre Gemeingüter davor, durch Marktkräfte und eigennützige Bereicherung ausgehöhlt zu werden. Zweitens werden bei Kiss wöchentlich höchstens sechs Stunden Freiwilligenarbeit angerechnet. Das bewahrt Übereifrige vor Selbstausbeutung, und es werden keine Riesenguthaben angehäuft, deren Besitzende dann besondere Ansprüche oder eine Sonderstellung reklamieren könnten. Auch die mittelalterlichen Vorläufer achteten darauf, dass sich die Ungleichheiten in den eigenen Reihen in erträglichem Maß hielten. Drittens schafft die Effizienz der Kollektive einen gesellschaftlichen Nutzen in Handlungsfeldern, in denen kommerzielle Marktanbieter aufgrund mangelnder Gewinnmöglichkeiten gar nicht erst antreten. Diese »Arbeitsteilung« hat lange Tradition. Keine gewinnorientierte Krankenkasse bezahlt bereichernde Erlebnisse, wie gemeinsame Spaziergänge in der Natur oder Museumsbesuche, obwohl sie zur Gesundheit vielleicht ebensoviel beitragen wie regelmäßige Körperpflege und Physiotherapie. Genossenschaftliche Care-Ökonomie entfaltet in Feldern nachhaltige Wirkung, in die sich privates Unternehmertum nie vorwagt.
Eine Werteordnung für gemeinschaftliches Gedeihen Mit Blick auf die Zukunft ist nun entscheidend, dass Kiss-Genossenschaften als selbstbestimmte Gruppen eine fundamental neue Werteordnung (vor)leben. Die Gründerorganisationen wollten lediglich durch generationenübergreifende Nachbarschaftshilfe Unterstützung in Notsituationen bereitstellen. Bereits in der Pionierphase wurde deutlich, dass die Stundenprotokolle als Ausweis und Anerkennung für geleistete Arbeit durchaus bedeutsam waren, wenn auch nicht für alle Beteiligten in gleichem Maß. Die meisten Mitwirkenden schöpfen ihre Motivation nämlich nicht aus abstrakter Gegenseitigkeit mit Blick auf späteren Nutzen, sondern aus den in der Praxis entstehenden Beziehungen und Bindungen, die sie als bereichernd erfahren. Gemeinwerk und Solidarität bedürfen keiner affektiven Nähe. Umso bemerkenswerter ist es, dass bei Kiss aus einseitiger Hilfe gegenseitiger Austausch, aus Abhängigkeit emotionale Nähe wird. Anders als bei Pflegeleistungen nach Tarif sind Geben und Nehmen nicht mehr klar zugeschrieben, verfließen stattdessen zu gedeihlichem Miteinander und stärken die lokalen Beziehungsnetze. Dank Commoning – eigenverantwortlichem, zwanglosem Zusammenwirken Vieler – erübrigt sich ein aufwendiger administrativer Apparat.Für Buchführung, Beratung, Zusammenstellung der Pflegetandems sowie die Begleitung beim ersten Zusammentreffen und eine rudimentäre Qualitätssicherung reicht vor Ort eine hauptamtliche Koordinatorin. Monatliche Kiss-Treffs dienen dem Austausch zwischen Engagierten und neuen Interessierten und geben den Organisationen, die ihr Alltagswerk unauffällig im Hintergrund verrichten, ein Gesicht. Darüber hinaus haben sie Ritualcharakter und erinnern daran, dass jede einzelne Handlung in ein gemeinschaftliches Ganzes eingebettet ist. Anders als bei historischen Commons tritt bei Kiss der konkrete Nutzen an einem Gemeingut als Treib- und Bindekraft in den Hintergrund, weil die dort aktiven Menschen gar nicht wissen, wann und wie genau die »Gegenleistung« stattfinden wird. Entsprechend niedrigschwellig ist der Zugang. Bei den Genossenschaften melden sich Menschen aus allen Bereichen und sozialen Schichten der Gesellschaft an. Sie möchten Verantwortung für ihr Alter übernehmen. Die Zeit, die sie bei Kiss einsetzen, bleibt überschaubarer als bei einem klassischen freiwilligen Ehrenamt. Ohne dass sich das jemand ausgedacht hätte, wird in einfachen, geldfreien Praktiken der »Homo oeconomicus« vom »Homo cooperans«, vom kooperierenden Menschen, abgelöst. Aber damit nicht genug: Das Wirken von Kiss repariert die Kollateralschäden einer durch und durch individualisierten Gesellschaft. Längst weist die Gerontologie auf das Leid und die Kosten hin, die Alterseinsamkeit verursacht. Familiäre Bindungen und Verpflichtungen sind in den letzten Jahrzehnten erodiert, der motorisierte Privatverkehr hat Begegnungsräume in Dörfern und Stadtteilen zerstört. Viele Menschen kennen nicht einmal mehr ihre nächsten Nachbarn. Hier setzt Kiss an und definiert die »Nachbarschaft« – auch sie neben »Körper-« und »Genossenschaft« eine Jahrhunderte alte soziale Erscheinung – als Organisations- und Kontrollraum, denn wechselseitige Hilfe lässt sich in überschaubaren Gruppen oftmals nachhaltiger und solider verankern als in verwandtschaftlichen Zwangsbeziehungen – traditionellerweise zwischen bedürftigem Elternteil und pflegender (Schwieger-)Tochter. Dann kann bei Ausfällen spontan und unbürokratisch für Ersatz gesorgt werden. In der Zusammenarbeit von Menschen, die sich kennen und begegnen, wird unwillkürlich Wissen kommuniziert, konzentriert, konserviert und potenziert. Das Gefühl, in einer beständigen Werte- und Handlungsgemeinschaft aufgehoben zu sein, trägt wesentlich zum Wohlbefinden, zur Lebensqualität und damit zur Gesundheit bei – dies nicht zuletzt, weil in der Nachbarschaftshilfe die positiven Effekte des eigenen Mitwirkens unmittelbar sicht- und spürbar sind. Die genannten Vorzüge verdanken sich dem Umstand, dass Kiss-Organisationen über eine institutionelle Rahmung verfügen. Obwohl diese minimal ist, hilft sie zurückgezogenen Menschen mit ausgeprägtem Sicherheitsbedürfnis, denn solche würden aus dem trügerischen Schutz der Privatsphäre heraus unmöglich den Schritt in täglich neu improvisierte, informelle Spontangemeinschaften wagen. Doch »wenn da keiner mehr ist, den man kennt, wächst die Bosheit des Einsamen«, und »Anonymität lässt jede Höflichkeit verschwinden«, heißt es bei der Gesellschaftskritikerin Sibylle Berg. So gesehen, verändert Kiss die Menschen. Dank gesellig gestalteter Alltagsroutinen können isolierte Weltfremde plötzlich wieder den regelmäßigen Kontakt zu anderen Menschen üben und so neue Bekannte und Freunde finden.
Institutionen für kleine Beiträge Die beschriebenen Organisationen sind überschaubar, einfach und wirkungsvoll. Viele kleine Einheiten können große Reichweite entfalten, ohne dass dazu eine übergeordnete Großorganisation erforderlich wäre. Der Verein Kiss unterstützt Personen und Organisationen, die Kiss-Genossenschaften aufbauen möchten. Eine Geschäftsstelle hilft mit Erfahrungswissen und achtet darauf, dass die Eckwerte des Modells Kiss eingehalten werden. Die lokalen Initiativen fällen die sie betreffenden Entscheidungen aber autonom. Die neu gegründete Stiftung bezweckt, das Modell Kiss einheitlich und vernetzt schweizweit umzusetzen. Im Gegensatz zu rigiden körperschaftlichen Konstrukten alten Musters passt Gemeinschaftshandeln mit wenig institutionellem Überbau in individualisierte Gesellschaften, die Selbstbestimmung großschreiben. Freiheitlich denkende Menschen wollen nicht in Zwangsgemeinschaften mit rigorosen Regeln genötigt werden. Mitmachen soll freiwillig sein und Freude bereiten. Gemeinschaffen wird als Bereicherung individualisierter Lebensentwürfe erfahren, wenn über die Intensität der Bindungen autonom entschieden werden kann. Pluralistisch organisierte Kollektive sind kreativ genug, um die Spannung zwischen privatem Unabhängigkeitsstreben und der Einbindung in Gruppenstrukturen aufzulösen. Weltweit entstehen heute zahlreiche Initiativen, die altbewährte Allmende-Logiken anwenden, gleichzeitig aber neue Praktiken des Gemeinschaftlichen, des Commonings, erfinden und erleben.
Daniel Schläppi (51) praktiziert Commoning als Genossenschaftler, Jazz-Musiker und im Familienhaushalt.
Sich einlesen Sibylle Berg: GRM. Brainfuck, Kiepenheuer und Witsch, 2019; Susanna Fassbind: Zeit für dich – Zeit für mich. Nachbarschaftshilfe für Jung und Alt, Rüffer und Rub, 2017; Heidi Lehner und Jürg Conzett: Zeit macht reich. Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschriften, Conzett Verlag, 2017.