Mit weniger Erwerbsarbeit mehr Commoning wagen. Essenzen eines Suchprozesses.von Matthias Fellner, erschienen in Ausgabe #56/2019
Im Oktober waren Menschen aus ganz unterschiedlichen Orten nach Alfter bei Bonn gereist, um sich auf der »Wo lang?«-Konferenz über gemeinschaffendes Tun auszutauschen. Neben bekannten Persönlichkeiten wie Silke Helfrich und Andreas Weber konnte man dort auf Praktikerinnen aus dem Netzwerk Solidarische Landwirtschaft, der Allmende Holzhausen und der Allmendeausbildung im Projekthaus Frieda treffen. Die Konferenz an der Alanus-Universität, von Studierenden ins Leben gerufen, drehte sich um Fragen wie »Welche Commons-Praktiken haben sich bewährt?« oder »Welche Denkmuster halten uns davon ab, gemeinschaffend tätig zu werden?«. Am Rande dieser Konferenz war ich in einen intensiven, informellen Austausch mit Menschen eingebunden, die den Schritt aus der konventionellen Erwerbsarbeit gewagt haben, um in ihrem Leben mehr Raum für Commoning zu schaffen. Einige von ihnen begleiten das Erforschen von Commoning in Oya seit Längerem und sind Teil des Oya-Hütekreises, dem ich mich als Redaktionsmitglied besonders widme. Von diesem Teilen und Beitragen erzähle ich hier. Am dritten Tag des Zusammentreffens stehe ich mit Silke Helfrich in einem improvisierten Tiny-Café in der Mitte des Konferenzgeländes. Wir trinken Cappuccino mit gemustertem Milchschaum und machen es uns in dem aus Holzschnitzelplatten gezimmerten Raum bequem. »Viele Leute sagen mir, dass sie überhaupt keine Zeit für Commoning haben«, berichtet Silke, als ich sie nach wesentlichen Hindernissen auf dem Weg zu einer gemeinschaftlichen Seinsweise frage. Sie stellt die Frage in den Raum: »Wohin geht jeden Tag unsere tätige Energie?« Vor ein paar Jahren habe ich mich aus meinem Beruf als selbständiger Berater verabschiedet, mich zunächst der gärtnerischen Selbstversorgung gewidmet und bin dann zu Oya gekommen. Ich habe mich auf die Suche gemacht, eine Sichtweise auf das eigene Tätigsein zu finden, die die vorherrschenden marktwirtschaftlichen Strukturen überwindet. »Unsere Zeit wollen wir doch wirklich für sinnstiftende Dinge nutzen«, sagt Silke und fährt fort: »Tun wir das, wenn wir täglich acht Stunden zur Arbeit gehen? Wenn ja: prima! Wenn nicht, dann sollten wir das ändern. Die Freiräume, die wir fürs Gemeinschaffen brauchen, müssen wir uns einfach nehmen.« Solidarisches Miteinander treffen die meisten oft nur außerhalb der Arbeitsstätte an. Viele Menschen engagieren sich abends und am Wochenende für eine solidarische Landwirtschaft oder für ein politisches Anliegen; tagsüber nehmen sie hierarchische, fremdbestimmte Lohnarbeit in Kauf.
Loslassen und Herantasten Auch Panicha und Stefan nahmen an der Konferenz teil. Sie sind vor ein paar Monaten auf dem Landweg durch Asien nach Deutschland gereist und haben einen großen beruflichen Wandel vollzogen. Das Paar hatte sich in Thailand kennengelernt, und beide waren dort viele Jahre lang regulär angestellt. Panicha hat in ihrem Heimatland als Schwimmlehrerin gearbeitet, Stefan war Dozent am geografischen Institut der Universität Chiang Mai im Norden Thailands. »Wir haben uns in unseren recht engen Berufsfeldern nicht mehr wohlgefühlt, deswegen entschieden wir uns, einen neuen Lebensabschnitt in Deutschland zu wagen«, berichtet Stefan. Der Neuanfang verlief unerwartet sanft: Beide fanden schon nach wenigen Wochen einen Platz in der Lebensgemeinschaft Bingenheim bei Friedberg in Hessen. In einem Dorf in der Nähe ist Stefan aufgewachsen. Die Bingenheimer Gemeinschaft sei ein vielseitiger Ort, an dem verschiedene Handwerke ausgeübt und gepflegt werden, wo biologisch gegärtnert und Ackerbau betrieben wird, während gleichzeitig Menschen mit besonderen Fürsorgebedürfnissen einen Ort zum Leben und sinnvollen Arbeiten vorfinden. Panicha zieht eine Verbindung zwischen der Bingenheimer Gemeinschaft und den Diskussionen auf der Commons-Konferenz: »Von außen macht es den Anschein, als würden wir so ein bisschen aussteigen, aber wer genau hinschaut, sieht, dass wir uns noch in recht konventionellen Gewässern bewegen: Es gibt ein monatliches Gehalt, gesetzliche Krankenversicherung und feste Arbeitszeiten.« Panicha arbeitet in Bingenheim in der Kerzenwerkstatt, Stefan in der Gärtnerei – die zwei Betriebe sind in die vielfältigen gemeinschaftlichen Aktivitäten der Gemeinschaft eingebettet. Commoning findet also stärker im Privaten statt. Panicha und Stefan wohnen im Ort in einer kleinen Wohnung, für die sie keine Miete, sondern nur die Nebenkosten bezahlen. »Da die Eigentümerin nicht mehr selbst Auto fahren kann und nach einem Unfall leicht gehbehindert ist, freut sie sich über unsere Unterstützung bei Fahrten zum Einkaufen und zum Arzt, beim Walnuss-Sammeln oder Unkrautjäten im Garten«, erklärt Panicha. Das nachbarschaftliche Zusammenwirken ist ein gutes Beispiel für eine tiefere Verankerung von Commoning im Alltag. Solange in unserer Gesellschaft jede und jeder in erster Linie das Überleben für sich selbst und die eigene Familie sichert, leidet das soziale Miteinander. Nach einem anstrengenden Berufstag reicht die Kraft oft nicht mehr aus, um den Kontakt mit den Nachbarn oder mit Freunden zu pflegen.
Sich in eine Landschaft einweben Hannes lehnt an der hohen, weißen Wand des Konferenzsaals. Auch er hat einen radikalen Lebenswandel vollzogen: Über mehrere Jahre war er als IT-Berater in Österreich tätig und an der Vorbereitung der Stiftung Rasenna beteiligt, die sich nach dem Vorbild der deutschen Stiftung Trias oder der Schweizer Stiftung Edith Maryon zum Ziel gesetzt hatte, Grundstücke zu kaufen, um sie den Marktmechanismen zu entziehen. Bei einer Urlaubsreise nach Italien fühlte er sich dort so heimisch, dass er einfach dortblieb. Vier Jahre ist das nun her. Hannes führt jetzt ein sehr einfaches Leben auf dem Land. »Es war nicht das erste Mal, dass ich in einem Urlaub auf die Idee kam, dort zu bleiben, doch diesmal war es anders, und eine Reihe von Umständen trug dazu bei, dass ich diesem Impuls gefolgt bin«, erzählt er vergnügt. Seine neue Heimat liegt jetzt rund 100 Kilometer nördlich von Rom unmittelbar am Bolsenasee, dem größten Vulkansee Europas. »Ich wohne dort mit Gretel in einem einfachen Haus, und wir kümmern uns um ein größeres Stück Land«, sagt Hannes. »Luxuriös ist das keineswegs, aber wir haben alles, was wir zum Leben brauchen«. Das Lebensumfeld verändert auch seine Sichtweise auf das Leben. »Meine Wahrnehmung ist, dass am Bolsenasee sehr viel einfacher gelebt wird, als ich es gewohnt war.« Er erzählt von der deutlich geringeren Lebensgeschwindigkeit, die sich darin ausdrückt, dass sich so gut wie jede und jeder Zeit für ein Gespräch nimmt. Eine wesentliche Komponente des täglichen Einkaufs ist der Schwatz im Laden. Die Alten sind ein selbstverständlicher Bestandteil im Straßenbild und werden keineswegs als Störung im Ablauf wahrgenommen. Während ich Hannes zuhöre, spüre ich, wie tief er sich mit dem Vulkansee und der Lebensweise in Italien verbunden fühlt. »Lange Spaziergänge am See vor dem Hintergrund eines riesigen Zeitbudgets haben mich in einen anderen Lebensmodus finden lassen«, erklärt Hannes. Der Wegfall äußerer Zwänge habe ihm seine inneren Begrenzungen deutlich gemacht. »Die äußeren Zwänge waren wahrscheinlich Ausreden oder Projektionen meiner eigenen inneren Zwänge.« Hannes hat sich in Italien mehr und mehr aus seinem gewohnten, durch vielerlei Aktivitäten geprägten Umfeld in Wien herausgelöst. Er strahlt eine Vergnügtheit und Gelassenheit aus, wie sie mir sonst eher selten begegnen.
Gar nicht erst mit der Lohnarbeit anfangen Silke Helfrich hat eine schöne Metapher, mit der sie die bestehenden, marktwirtschaftlichen Strukturen beschreibt: »Ich vergleiche das aktuelle System gerne mit einem Hausschwamm, also dem Pilz, der sich oft unbemerkt im Holz von Häusern einnistet und diese sogar zum Einsturz bringen kann«, sagt sie. »So ein Hausschwamm ist ein Lebewesen, das sich nicht wirklich bekämpfen lässt. Es wird immer irgendwo da sein und wieder aufblühen können. Das einzige, was du tun kannst, ist, ihm die Nahrung zu entziehen: Keine Zellulose und keine Feuchtigkeit! Rigoros. Jetzt stellt sich also die Frage, was die Zellulose und die Feuchtigkeit unseres modernen Systems sind? Das sind wir selbst! Es geht darum, uns selbst der Reproduktion der Megamaschine zu entziehen!« Das passiert, wenn Menschen ihr Gemüse als SoLaWi vertreiben und deshalb nicht mehr auf die Lieferketten der Lebensmittelbranche angewiesen sind. »Wenn wir dem dominierenden Wirtschaftsmodell unser Tätigsein entziehen, entziehen wir ihm seine Macht.« Was für Gemüse gilt, das gilt auch für unsere Lohnarbeit. Auf einer Podiumsdiskussion während der Konferenz in Alfter hatte Silke empfohlen: »Fangt gar nicht erst mit Lohnarbeit an! Wenn ihr einmal angefangen habt, kommt ihr so schnell nicht wieder raus.« Aus langjähriger Lohnarbeit auszusteigen, ist das eine – aber wie ist es, damit gar nicht erst anzufangen? Wären Schülerinnen und Studierende tatsächlich bereit, auf klassische Lohnarbeit zu verzichten? Unter den Teilnehmenden des Kongresses begegne ich Kiki. Sie ist 24 Jahre alt und studiert an der Alanus-Universität Philosophie, Kunst und Soziales Unternehmertum. Ich frage sie, was sie von dem Vorschlag hält, nach dem Studium keiner Lohnarbeit nachzugehen. Ohne zu zögern, antwortet sie: »Für mich war es eine richtige Erleichterung, als Silke das gestern gesagt hat. Mich zieht es in eine andere Richtung.« Kiki schildert ein starkes Bedürfnis, ihr Leben freier zu gestalten. Angst davor, keiner Lohnarbeit nachzugehen, die ja für viele die wichtigste soziale Absicherung ist, hat sie keine. »Die Lohnarbeit ist aber ein Weg, den ich nicht als meinen empfinde. Für andere Wege fehlt freilich die Legitimation von außen, weil es gesellschaftlich so tief verankert ist, wie der berufliche Weg auszusehen hat«, sagt Kiki und lässt die Frage nach dem »Was dann?« unbeantwortet. Nicht mehr in eine Lebensform eingebunden zu sein, die Lohnarbeit erforderlich macht, verlangt sehr viel mehr als nur Mut. Die Geschichten von Panicha und Stefan in der Lebensgemeinschaft Bingenheim oder die von Hannes in Italien geben eine erste Ahnung davon, wie sich das Landen in einer Seinsform, die dem Commoning näher ist, anfühlt.