Der Osnabrücker Künstler Manfred Blieffert stellt mit seinem Druckfahrrad Fragen nach Beheimatung in den öffentlichen Raum.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #57/2020
Kurz vor Redaktionsschluss flatterte ein Brief ins Haus: »Hier schicke ich euch ein bildnerisches Tagebuch zu meinem Projekt ›Deine Heimat – Unsere Heimat – Meine Heimat‹, vielleicht noch etwas für Ausgabe 57?« Das burgunderrote Heft zeigt, wie Manfred Blieffert mit seiner mobilen Druckerei im öffentlichen Raum Plakate druckt – auf einem steht das Wort »enkeltauglich«. Ich möchte mehr erfahren, und greife zum Hörer. Wir verabreden uns noch für denselben Tag zu einem Telefoninterview. Manfred, ein selbstbewusster 65-Jähriger mit plattem Kieler Zungenschlag, erzählt, wie er nach Berlin gegangen war, um an der »Hochschule der Künste« zu studieren. Nach ein paar Jahren als freischaffender Künstler zog er 1986 nach Osnabrück. Gemeinsam mit seiner Frau Renate Hansen betreibt er dort ein Atelier, in dem er Radierungen und Druckgrafiken erstellt. Die Notwendigkeit des Broterwerbs brachte den Vater dreier inzwischen erwachsener Töchter in den Dienst der städtischen Musik- und Kunstschule, die er 15 Jahre lang stellvertretend leitete. Statt als »Kunstpädagoge« – als Pädagoge, der Kunsterziehung lehrt – habe er sich dabei immer als »Künstlerpädagoge« – als Künstler, der mit jungen Menschen arbeitet – verstanden. Mit Schulklassen erstellte »Bleifrei«, so sein Spitzname bei den Kindern, mit einer von dem Reformpädagogen Célestin Freinet entwickelten Handsatztechnik, dem »Freinet-Druck«, insgesamt 120 Bücher in Auflagen, die gerade so hoch waren, dass jedes Kind ein Buch mit nach Hause nehmen konnte. Die Lehrerkollegien der Schulen, an denen Manfred tätig war, beäugten sein Tun zunächst skeptisch, erkannten jedoch bald, wie dankbar sein ungewöhnlicher Ansatz, den er als »umwegfreudig, zeitsouverän, freiwillig, sozial-integrativ und eigenverantwortlich« beschreibt, von den Schülerinnen und Schülern angenommen wurde. Daraus ging die »Druckkarawane« der Kunstschule hervor: »Ich zog mit den Kindern in die Innenstadt, wo wir selbstentwickelte Plakate druckten und gegen Spenden abgaben – für die Opfer des Hurrikans Mitch in Nicaragua, der Oder-Flutkatastrophe oder der Havarie von Fukushima. Die Augen der Kinder leuchteten, wenn auch mal Scheine im Topf landeten«. Seit 2015 ist er in Altersteilzeit und wieder ausschließlich freischaffend tätig. Im Sinn des erweiterten Kunstbegriffs geht es ihm dabei mindestens so sehr um die sich entfaltenden sozialen Prozesse wie um die entstehenden Werke. Als Vorsitzender des Vereins »Abenteuer Kunst« baute er ein Atelier für geflüchtete Menschen auf, in dem sich künstlerisches Tun und Spracherwerb verbinden. Da lag es auf der Hand, Fragen nach Beheimatung zu stellen – »weil das Thema viel zu wichtig ist, um es den Rechten zu überlassen«. Und dann kam Manfred die Idee mit dem Druckfahrrad: Er funktionierte ein Lastenfahrrad zur mobilen Druckerei um, gestaltete erste Druckstöcke aus Moosgummi und zum Teil hundert Jahre alten Holz- und Metalllettern. Bei Demos, Kundgebungen und Kulturnächten in Osnabrück begann er, gemeinsam mit den Teilnehmenden Plakate zu drucken. Diese werden zu 100 Prozent auf Recyclingpapier mit lösungsmittelfreien Linolschnittfarben auf Wasserbasis gedruckt. »Das einzige, was nicht recycelfähig ist, ist das Moosgummi, doch jeden Schnipsel verwende ich so oft wie möglich wieder«, erklärt Manfred.
Woanders ist jetzt hier Vor zwei Jahren erhielt er die Zusage für eine Projektförderung der Stadt Osnabrück. Der Projekttitel lautet wie der Schriftzug eines seiner ersten Plakate: »Woanders ist jetzt hier«. »Darin wird nicht gefragt: ›Wo kommst du her?‹, sondern: ›Wo kommst du hin?‹, und: ›Wo bist du zugehörig?‹«, erläutert Manfred. Der Untertitel »Was ist es DIR WERT?« fragt nicht nur nach dem schwer zu schätzenden Wert von Beheimatung, sondern spielt auch auf den tauschlogikfreien Ansatz des Projekts an: »Wenn ich bei Kundgebungen Plakate druckte, kam immer wieder die Frage: ›Was kostet das?‹ – Da es mir unmöglich ist, einen Preis festzumachen, gebe ich die Plakate gegen Spenden ab. Bisher lagen diese zwischen einem Hosenknopf und 500 Euro pro Druckwerk.« Anfangs nutzte er die Spenden zur Refinanzierung des Druckfahrrads, inzwischen sammelt Manfred für die Druckkosten eines zweisprachigen Buchs über den in Auschwitz ermordeten Osnabrücker Maler Felix Nussbaum (1904–1944), das er gemeinsam mit Tariq al Saadi entwickelt. Der aus Syrien geflüchtete Grafikdesigner arbeitete als Praktikant beim Verein Abenteuer Kunst mit. Als der heute 27-Jährige zum Studium nach Münster zog, fragte Manfred nach, ob er denn künftig noch in Osnabrück unterwegs sein werde – »Osnabrück ist doch in Deutschland meine Heimatstadt!«, war Tariqs prompte Antwort. Auch diese prangt inzwischen auf einem Plakat. Im Juni 2018 erhielt Manfreds zweites, diesmal beim »Fonds Soziokultur« eingereichtes Druckfahrrad-Projekt »Deine Heimat – Unsere Heimat – Meine Heimat« eine Förderzusage. Kern beider Projekte ist die Aktion im öffentlichen Raum. »Auf diese Weise erreiche ich Menschen, die bislang nichts mit Kunst am Hut hatten. Wichtig ist vor allem auch der soziale Prozess – da entsteht tatsächlich eine soziale Plastik: Wenn Menschen am Druckfahrrad stehen, wenn ich Zitate geschickt bekomme oder wenn nachts Plakate verschenkt werden, dann werden Passantinnen und Passanten zu Mitwirkenden.« Wie ein Heinzelmann hängt Manfred nächtens an wechselnden Orten zu verschenkende Plakate auf, begleitet von dem Hinweis, dass er sich über Notizen zu »Heimat« auf eigens dafür vorgesehenen Zetteln freue. Bis zum darauffolgenden Mittag sind meist alle Plakate weg.
Vielfältige Heimaten Die Plakat-Texte, darunter Zitate von Hermann Hesse, Sophie Scholl oder dem Widerstandskämpfer Johannes Prassek, werden Manfred von Menschen, die sein Weblog besuchen oder zufällig bei öffentlichen Aktionen vorbeikommen, geschenkt – etwa von Imad Ajineh, dem Prediger einer Osnabrücker Moschee: »Heimat ist kein Ort, sondern ein Gefühl – Gerüche, Essen, Musik«; dem ehemals obdachlosen Buggi: »Heimat ist ein Bett und ein Dach überm Kopf«; dem siebenjährigen Timmy vom Skatepark, nahe der Kreuzung Heimatweg/Freiheitsweg: »Heimat ist da, wo man leben kann«; oder einem namenlos gebliebenen Radler mit Migrationshintergrund, der im Vorbeifahren rief: »Heimat ist da, wo ich respektiert werde. Zwanzig Jahren lebe ich schon hier, und werde noch nicht respektiert!« – »Deshalb mache ich das hier«, erwiderte darauf Manfred. Zu einer Kundgebung von »Fridays for Future« schenkte ihm die 17-jährige Sängerin Anna Reckzeh die Frage »Habe ich denn keine Angst, dass uns die Erde mal alleine lässt?« Als Oya-Leser der ersten Stunde hat Manfred zudem den Begriff »enkeltauglich« im Gepäck, der in dem Aufruf »Macht die Erde enkeltauglich« aufs Plakat kam. »Diese beiden Sätze gaben meinem Thema einen globalen, generationenübergreifenden Charakter«, erzählt Manfred. Die Nachfrage nach diesen Motiven sei so groß, dass er sie auch in tausendfacher Auflage bei einer Onlinedruckerei in Auftrag geben könnte, aber das wäre freilich nicht dasselbe. Was dabei verlorenginge, ist der Werkstolz der mitwirkenden Menschen, die oft noch Jahre später mit geschwellter Brust auf »ihre« an Hausfluren und Küchenwänden hängenden Plakate verweisen. Bei so viel Beschäftigung mit Heimat drängt sich die Frage auf, wo sich Manfred ganz persönlich beheimatet fühle. »Zuerst dachte ich, Berlin wäre eine Heimat, heute ist es Osnabrück. ›Heimat ist ein Gefühl‹ – das trifft es für mich am besten. Auch meine Arbeit ist eine Beheimatung. Wenn ich nach Hause komme, nachdem ich vier, fünf Stunden mit Menschen gearbeitet habe, bin ich zwar erschöpft, habe jedoch so viel positives Feedback bekommen, dass da ein Wohlgefühl in mir ist. Da bin ich ich, da finde ich mich wieder, das hat mit Heimat zu tun.« Als nächstes wird Manfred 1000 quadratische Plakate mit dem Aufruf »Macht die Erde enkeltauglich« drucken, um daraus gemeinsam mit vorbeikommenden Menschen 1000 Origami-Kraniche zu falten – »Wenn der letzte Kranich gefaltet ist, dann geht dieser Wunsch in Erfüllung.«