Was geschieht, wenn sich Pilze, Bäume und Menschen verschiedenster Kulturen begegnen? Was erzählt uns ein Pilz über die Verflechtung globaler Lieferketten und die Entstehung von Werten in einer kapitalistischen Welt? Die Sammlung und Verwertung des in Japan hochgeschätzten Speisepilzes Matsutake scheint auf den ersten Blick ein randständiges Thema zu sein. Doch gerade ausgehend von den Randgebieten des Kapitalismus entwirft die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing in ihrem Buch »Der Pilz am Ende der Welt« ein facettenreiches Bild des heute dominierenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Den linearen Fortschrittsmythen von Ökonomie und Wissenschaft setzt sie vielschichtige Erzählungen entgegen, in denen nicht Menschen die Protagonisten sind, sondern ganze Landschaften, in denen menschliche Wesen sich nur als eine Art unter anderen Arten bewegen. Hier sind es Kiefernwälder auf der ganzen Welt, die oft durch die Holzindustrie zerstört wurden. In diesen gestörten Landschaften wächst untergründig das Myzel des Matsutake-Pilzes, setzt Nährstoffe in den kargen Böden frei und ermöglicht es Bäumen, sich dort anzusiedeln. Durchstreift werden diese Wälder von den verschiedensten Wesen: etwa von Hirschen, die die Pilze als Futter suchen und ihre Losung hinterlassen, sowie von Pilzsammlern – Liebhaber ebenso wie professionelle Pflücker –, die den Waldboden absuchen und eine feine Müllspur hinter sich herziehen. In diesem Essay gibt es kein Gegenüber von Natur und Kultur, es ist kein Plädoyer für unberührte Landschaften. In Zeiten des Artensterbens geht es hier ganz im Sinne Donna Haraways um das artenübergreifende Thema: um die Erkenntnis, dass wir in einer vom Menschen gestörten Welt nur gemeinsam mit anderen Arten überleben können. Mit dem aufmerksamen Blick der Pilzsucherin und anthropologischen Feldforscherin untersucht Anna Lowenhaupt Tsing die untergründigen Verflechtungen im Waldboden, in zwischenmenschlichen Zusammenhängen und internationalen Handelsbeziehungen. Sie zeigt, wie die Werte der kapitalistischen Warenwirtschaft aus Beziehungsgefügen geschöpft werden, die außerhalb dieses Systems liegen, beispielsweise in verdeckten Allmenden. Immer wieder überrascht, dass selbst die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, die sich der Kapitalismus einverleibt, nicht linear im Niedergang enden muss. Gerade gestörte Landschaften haben durch das Zusammenwirken verschiedener Arten (etwa Symbiosen von Pflanzen und Pilzmyzel) ein subversives Potenzial zur Erneuerung. Das lehrt uns die Betrachtung der Welt aus der Perspektive eines Pilzes. Anregend erzählt, verknüpft dieser nun in broschierter Neuauflage vorliegende Essay persönliche Erlebnisse und Biographisches mit anthropologischer Feldforschung, Ökologie, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Ein ungewöhnliches Buch, das den Blick auf die Beziehungsgefüge unserer Welt enorm weitet.
Der Pilz am Ende der Welt Anna Lowenhaupt Tsing Matthes & Seitz, 2019 446 Seiten ISBN 978-3957578099 15,00 Euro