Ein Plädoyer für die Wertschätzung von Lebensphasen, in denen kein geradliniger Weg zu erkennen ist.von Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #57/2020
Orientierungslos zu sein, ist peinlich. Wenn ich nicht weiß, ob die Schritte, die ich gehe, die richtigen sind und welcher als nächstes kommen soll, fühle ich mich oft alleine. Dabei geht es vielen um mich herum genauso – egal, ob sie gerade die Schule abgeschlossen haben, schon seit Jahrzehnten einer Lohnarbeit nachgehen, ein klassisches Bild von Arbeit haben oder freiere Wege in alternativen Zusammenhängen suchen: Die Momente, in denen sich Menschen orientierungslos fühlen und damit überfordert sind, zwischen bestehenden Optionen zu wählen, kommen immer wieder. Noch nie haben Menschen so viele Möglichkeiten gehabt, sich zu bilden, wie in den heutigen westlichen Kulturen. Keine meiner Freundinnen musste den Hof der Eltern übernehmen, und es gibt nicht nur eine Handvoll Berufe, wie noch in dem Dorf, in dem meine Mutter aufwuchs. 2019 zählte die deutsche Hochschulrektorenkonferenz 19 839 Studiengänge; es gibt unzählige Fortbildungen, Ausbildungen, mögliche Selbständigkeiten und Freiwilligendienste. Es ist wie ein Marmeladenregal im Supermarkt – vor den unüberschaubar vielen bunten Gläsern stehend, kann ich mich nicht entscheiden und so trotte ich frustriert aus dem Laden. Wer bin ich, dass ich keine dieser Marmeladen konsumieren will? Wer bin ich, dass mir kein vorgefertigter Bildungsweg gefällt, wo ich doch so privilegiert bin, frei wählen zu dürfen, was ich lernen will? Ich will mir vielleicht selber eine Marmelade kochen, habe aber gar kein Bild davon, wie das geht, und habe auch noch nie einen anderen Menschen getroffen, der das geschafft hat. Die Qual der Wahl und der Druck, die wahre Berufung zu finden, um das eigene Potenzial optimal zu entwickeln, begegnen mir nicht nur bei jungen Menschen, sondern in allen Generationen. Wer den Blick vom Navi hebt und abbiegt von den Bildungsautobahnen Schule, Ausbildung, Uni und Lohnarbeit, steht oft erst einmal im Nebel – erschöpft vom vielen Rasen und ohne zu wissen, was es heißt, selbstbestimmt durch diese Welt zu navigieren. Es gibt nur wenige Orte, die dazu da sind, sich diesem Zustand des Nicht-Wissens, des Innehaltens, Taumelns und Orientierungslosseins zu widmen. Wie könnte unsere Gesellschaft sich verändern, wenn es für solche Phasen guten Boden gäbe, wenn »Krisen« nicht mehr als negativ bewertet würden? Das Taumeln ließe sich auch als ein Zeichen dafür deuten, dass Menschen sich wirklich dem Leben stellen und den ehrlichen Weg dem bequemen vorziehen. In einer solchen Sichtweise steckt eine ganz neue Haltung dem Leben gegenüber. Ich kenne die Stimme in mir, die glaubt, dass mit mir etwas falsch sei, weil die Freiheit, so viele Richtungen einschlagen zu können, mich selten glücklich macht, sondern oft lähmt. Als ich anfing, für diesen Artikel mit Menschen über Orientierungslosigkeit zu sprechen, begriff ich nach jedem Gespräch mehr, dass es kein individuelles Problem ist, nicht immer genau zu wissen, wohin ich wann und wie will, und dass ich es nicht alleine schaffen muss, meinen Weg zu finden. Im Folgenden einige Stimmen aus den Gesprächen:
Mont (29) wohnt in der »Spinnerei« bei Göttingen. Sie hat dort gerade gelernt, wie man Elektroleitungen verlegt. »Ich habe lange einfach mitgespielt und gar nicht darüber nachgedacht, warum ich überhaupt studiere. Bis mich dann jemand fragte, warum ich nach meinem Bachelor in Forstwirtschaft einen Master machen will, und ich keine ehrliche Antwort fand. Daraufhin nahm ich mein Leben selbst in die Hand und fing an, nur noch das zu lernen, was mich interessierte. Immer wieder ließ aber das Interesse für eine Sache nach, und ich fing für ein anderes Thema Feuer: Einige Monate lang brannte ich für Pädagogik, dann für Permakultur, dann beschäftigte ich mich intensiv mit Kampagnen und widerständigen Kleingruppenaktionen. Dieser Wechsel fühlte sich sehr verunsichernd an, weil mein Umfeld – und auch ich selbst – ständig von mir forderte, ein Lebensthema zu finden, in dem ich eine Expertise entwickeln würde. Irgendwann beschloss ich, keine Expertise auszubilden sondern eine ›Amateurise‹. Die Vorstellung, verschiedene Bereiche miteinander zu verbinden und Erfahrungen aus einem Bereich in einen anderen einzuflechten, fühlte sich schön an. Aber auch das finde ich mittlerweile anstrengend. Immer wieder neu anzufangen, verhindert auch, dass ich mit einem Thema in die Tiefe gehen kann. Vielleicht traue ich mich auch deshalb nicht, eine Expertin zu werden, weil ich dabei scheitern könnte?«
Lea (21) ist unter anderem mit den »Wildlingen« (siehe S.70) freilernend unterwegs, um Lebendigkeit in ihren verschiedensten Formen zu beforschen. Außerdem hat sie den Wunsch, den Austausch zwischen den Generationen zu stärken und Mentoringstrukturen für junge Menschen, die auf Orientierungsfindung sind, zu schaffen. »Orientierung hat für mich viel mit Mut zu tun, weil davor zuerst die Orientierungslosigkeit kommt, die Formlosigkeit und das Nicht-Wissen, dem ich mich stellen muss. Mein Leben bekommt eine Richtung, wenn ich mich mit der Welt verbinde und in meiner Bezogenheit wahrnehme. Oft wird etwas ganz klar, wenn ich allein in der Natur bin und dort die Verwobenheit von Leben und Sterben erlebe. Hilfreich in den Räumen von Nicht-Wissen ist auch die Verbindung mit Weggefährtinnen, die mit mir zusammen einen Raum aufspannen, in dem wir gemeinsam eine fragend-suchende Wahrheit leben. Als ich mit Menschen, die an der ›Wandelreise‹ teilnehmen, auf einem Klimastreik war, konnte ich das spüren! Während der Demo haben wir uns bei aufkommenden Gefühlen von Sinnlosigkeit, Weltschmerz und Überforderung gegenseitig gehalten. Darin manifestierte sich eine Verbundenheit, die stärker war als der Weltschmerz, mit dem ich mich sonst oft isoliert fühle. In dieser Kraft des Verbundenseins wurde eine andere Welt, die größer als die Angst ist, erahnbar.«
Micha (52) begleitet junge Menschen bei Visionssuchen; er organisierte 2019 das erste Orientierungscamp in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof und ist dort an der Entwicklung einer Orientierungswerkstatt beteiligt. »Orientierung hat für mich viel mit Bezogenheit und Verantwortung zu tun. Jeden Tag verbrenne ich in meinem Ofen Holz, um nicht zu frieren. Die Bäume dafür wachsen vor meinem Haus, ich gehe oft zwischen ihnen spazieren. Zu wissen, wie viel Holz ich brauche, gibt mir eine Orientierung dafür, wie viele Bäume ich pflanze. Solche direkten Bezüge zu ganz unmittelbaren Notwendigkeiten geben mir viel Halt. Wenn ich mit der Natur verbunden bin, weiß ich sofort, was ich zu tun habe. Diesen Zugang zu finden, ist eigentlich ganz einfach. Es passiert schon ganz viel, wenn ich für einen Tag mal das Haus abschließe und einfach draußen bin. Menschen, die in beheizten Räumen leben, in denen es immer Strom, Licht, Wasser und Nahrung im Überfluss gibt, ohne dass sie viel dafür tun müssen, sind getrennt von vielen Notwendigkeiten, die ihnen helfen würden, ihre Beziehung zu anderen Lebewesen und auch zu ihrer eigenen Lebendigkeit zu fühlen.«
Clara (27) Aktivistin bei der Initiative »gerechte 1komma5« und Performancekünstlerin, bringt die Menschen beim Arbeitsamt zum Kopfschütteln: »Sie haben bislang nur Freiwilligendienste gemacht?« »Ich glaube, viele Menschen gestehen sich selbst gar nicht ein, dass sie nicht wissen, ob das, was sie tun, das Richtige für sie ist. Von der Gesellschaft wird so viel Druck erzeugt, dass der Lebenslauf einen klaren roten Faden und auf keinen Fall unbegründete Lücken aufweisen sollte. Es hilft mir, mir erst mal einzugestehen, dass ich verwirrt bin und dass das nicht heißt, ›falsch‹ zu sein, sondern dass ich gesellschaftlichen Strukturen und Zwängen ausgesetzt bin, die nicht meinen Bedürfnissen entsprechen. Mein Vater rät mir oft, ich solle einfach irgendetwas machen und nicht mehr so viel grübeln. Er hat sein Leben lang gearbeitet und auch, nachdem er in Rente gegangen war, bald wieder mit einem Nebenjob in einer Molkerei angefangen – einfach, um etwas zu tun zu haben. Ich will meine Zweifel ernstnehmen: Was sagen sie über mich und die Gesellschaft aus?«
Nach diesen Gesprächen lässt mich die Frage nicht los, wie sich Strukturen aufbauen lassen, die das Taumeln gut halten können und ihm einen Platz in unserer Kultur geben. Mir hilft der Gedanke, nicht alleine klarkommen zu müssen. Ich will den Ratgebern, die mir sagen, ich müsse mich nur selbst genug lieben und mich so lange hinsetzen, bis ich alles aus mir selbst heraus weiß, ein Bild der Interdependenz entgegensetzen, einer wechselseitigen Abhängigkeit von Individuen, einer Freiheit in Bezogenheit. Seitdem ich diesen Text geschrieben habe, feiere ich die äußeren Strukturen, in denen ich lebe – die wöchentlichen Plenen, Jahreszeiten, Tagesrhythmen, meine Lieblingsbank, Reflexionszeiten am Telefon und die Fragen nach Rat –, viel mehr. Ich mache mich auf, immer mehr zu lernen, was wir in diesen stürmischen Zeiten vielleicht am meisten brauchen: einander Orientierung und Halt zu geben.
Einige Orientierungsbanden Eine umfangreiche Übersicht über Orientierungsmöglichkeiten in Vollzeit sowie über Wochenend- und Ferienkurse findet sich unter: www.orientierungszeiten.info
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