Bildung

Lernen in Zyklen

Zora Schmitt ist Umwelaktivistin und werdende Hebamme. ­Helen Britt sprach mit ihr über ­Zyklen, Ausbildung sowie Geburts- und ­Sterbebegleitung.von Helen Britt, Zora Schmitt, erschienen in Ausgabe #57/2020
Photo
© Luisa Kleine

[Helen:] Zora, du gibst Workshops über menschliche und gesellschaftliche Zyklen sowie zum Thema Verhütung. Wie hat das angefangen? 
[Zora:] Ich habe mich lange gegen das Erwachsenwerden gewehrt, wollte keine Periode und keine Brüste bekommen. In meinem Umfeld wurde das Bluten als eklig und ein kurviger Körper als unangemessen für ein Mädchen bewertet. Während meiner Studienzeit und während ich als Aktivistin im Hambacher Wald gelebt habe, fing ich an, mich mit meinem Körper und meinem Zyklus zu beschäftigen – auch, weil ich nicht mit Pille oder Spirale verhüten wollte. Meinen Körper kennenzulernen, hat mich so begeistert, dass ich dieses Wissen weitergeben wollte.

Das klingt so, als hättest du dich auf deine eigene Forschungsreise begeben und vieles von deinem Wissen selbst erfahren.
Ja, ich lerne vieles autodidaktisch, und es ist schade, dass ich manches nicht von klein auf gelernt habe: Wie funktioniert mein Körper? Was brauche ich wirklich? Wie gehe ich mit Gefühlen um? …
Unser Bildungssystem ist nicht auf Selbstermächtigung und Lebendigkeit ausgerichtet. Wenn Menschen sich besser spüren könnten – würden sie dann noch am Konsum- und Arbeitskult dieser Gesellschaft teilnehmen, oder würden sie anfangen, zu einer Welt beizutragen, die die tiefen, lebensnotwendigen Bedürfnisse aller erfüllt? Würden sie sich vielleicht sogar fragen: Was braucht meine Umwelt, und was kann ich geben? – Für mich sind das aktuelle Forschungsfragen.
Je tiefer ich mich mit Themen der körperlichen Emanzipation beschäftige, desto mehr befreie ich mich auch von anderen Zwängen – etwa vom Zwang, mich durch meine Leistung zu profilieren oder immer ein unabhängiges Individuum zu sein.

Wie gehen die Teilnehmenden in deinen Workshops mit ­solchen Fragen um? 
Es ist immer wieder berührend, zu sehen, wie Menschen ihrem Körper wieder mehr Vertrauen schenken. Mir begegnet aber auch viel Scham. In der Schule haben die wenigsten gelernt, wie unterschiedlich Zyklen verlaufen und wie verschieden Geschlechtsorgane aussehen können. In einem Schulbuch hab ich sogar einmal eine Vulva-Darstellung gesehen, bei der die Klitoris komplett fehlte. Es war mir zudem selber lange nicht klar, dass einige Menschen biologisch und von ihrer Selbstwahrnehmung her nicht ins übliche Geschlechtersystem passen oder passen wollen.
Am meisten bewegen mich die Ängste in Bezug auf Zyklus und Schwangerschaft. Es gibt oft lange Diskussionen, bis die Frauen mir glauben, dass sie nur an ungefähr sechs Tagen im Monat schwanger werden können. Wenn wir von einem klassischen 28-tägigen Zyklus ausgehen, gibt es also Phasen, die »sicher« sind, wenn jemand nicht schwanger werden will.

Es ist wirklich schockierend, wie wenig viele Menschen über diese biologischen Vorgänge wissen! Ich habe einige Male die »Pille danach« genommen, eine ungeheure Hormonbombe. Dabei hätte ich mich auch informieren und mich mit meinem Zyklus auseinandersetzen können. Gibt es etwas, das du Frauen raten würdest, wenn sie sich auf diesen Weg machen?
Zu allererst: Nehmt nicht alles als Fakten hin, was ihr in der Schule lernt! Mir fällt heute erst nach und nach auf, wie viel ich den Lehrkräften aufgrund ihrer Autorität über uns Kinder geglaubt habe, ohne es zu hinterfragen. Dabei habe ich verlernt, meinem eigenen Instinkt und auch meinem Gerechtigkeitsempfinden zu vertrauen. Diese Autoritätsgläubigkeit setzt sich natürlich später fort – im Glauben an Politikerinnen, Ärzte und generell an alle »Profis«. Aber gerade wenn es um den eigenen Körper geht, sollten wir uns selber vertrauen und unserem Empfinden Glauben schenken. Wieder auf die eigenen Bedürfnisse hören zu lernen, bedeutet auch, die Verantwortung nicht mehr an sogenannte Expertinnen abzugeben. Das ist ein langer Weg, der für mich gerade in der Geburtsbegleitung anfängt.

Seit September besuchst du eine Hebammenschule, die nicht staatlich anerkannt ist. Warum hast du dich für diesen Weg entschieden, und wie sieht eure Ausbildung konkret aus?
Der klassische Beruf der Hebamme stirbt ja mehr und mehr aus. Ich bin mit dem Bild aufgewachsen, dass Hausgeburten gefährlich seien. Dabei gebären Frauen immer schon dort, wo sie leben. Dafür ins Krankenhaus zu gehen, ist eine ziemlich neue Erfindung, und allein das Wort »Krankenhaus« zeigt schon, wie fehl am Platz Geburten dort sind. Wenn es Komplikationen gibt, bin ich genau wie jede andere frei arbeitende Hebamme natürlich dankbar für diese Institution – aber davon auszugehen, dass jede Geburt ein medizinischer Notfall ist, macht keinen Sinn. Grelles Licht, Hektik, unbekannte Menschen, die um die Gebärende herum­rennen und ihr keinen sicheren Raum lassen – das kreiert eine Atmosphäre, die einer leichten, vielleicht sogar schmerzfreien Geburt absolut im Weg steht! Wie und wo Menschen entbinden, sollte ganz allein ihre eigene Entscheidung sein. Dass Hausgeburten per Gesetz verboten und sogar Kaiserschnitte, die Art der Medikation oder Geburtpositionen mancher­orts vorgeschrieben werden, macht mich als Mensch und als Hebamme richtig wütend!
Die Schule, die ich besuche, wurde vor sechs Jahren von einer Hebamme aus England gegründet, die selbst traditionell und ohne Papiere arbeitet und die schon viele Hundert Geburten begleitet hat. Sie gibt ihr Wissen, das sie teils von traditionell arbeitenden Hebammen erlernt hat und teils aus ihrer eigenen Erfahrung mitbringt, nun weiter. In unserer Klasse sind wir zehn Schülerinnen und wir lernen von Hebammen aus verschiedenen Ländern mit sehr unterschiedlichen Geburtstraditionen. Es ist ein geballter Erfahrungs- und Wissensschatz, der da zusammenkommt. Wir üben Geburtspositionen und Massagetechniken an Puppen, aneinander oder an Schwangeren – natürlich immer zusammen mit einer erfahrenen Hebamme. Auch über die Wirkung verschiedener Heilkräuter und Druckpunkte, die eingesetzt oder vermieden werden sollten, erfahre ich viel. Dabei stoßen wir auch immer wieder auf traditionelle Praktiken, auf Schätze, die in der heutigen Geburtspraxis größtenteils verlorengegangen sind oder als »alternativ« gelten. Vieles davon beruht auf gesundem Menschenverstand und sollte in meinen Augen eine Selbstverständlichkeit sein.
Ich habe mich für diesen Weg entschieden – auch wenn ich dafür einiges an Sicherheit aufgeben muss –, weil ich große Freiheit bekomme. Ich muss Frauen zu nichts zwingen, denn keine Krankenkasse der Welt kann mich unter finanziellen Druck setzen. Ich bin freier in meiner Arbeit; frei dazu, Verantwortung selbst zu tragen, ohne mich zu versichern, und frei dazu, Frauen als Menschen zu begegnen – jenseits der Anzahl ihrer Schwangerschaftswochen oder der Kategorie »Risikoschwangerschaft«. Das macht mir Mut – und immer wieder auch Angst.
Je mehr ich über Geburten lerne, desto klarer wird mir, dass es Frauen in der Regel am meisten hilft, weitgehend in Ruhe gelassen zu werden. Hebammen sind für Notfälle da, und auch dafür, Mut und Halt zu geben. Eine gute Geburt ist, wenn ich eigentlich überflüssig bin, und die Gebärende autonome Entscheidungen treffen kann. Wenn das bedeutet, in die Klinik zu fahren, bin ich genauso für sie da wie in jedem anderen Szenario.

Wie kann es sein, dass wir über ganz selbstverständliche Dinge so wenig wissen? Ist das eine Allgemeinbildungs-Lücke? Ist unser Verständnis von Allgemeinbildung generell durch patriarchale Denkmuster geprägt?
Das, was in der Schule als Allgemeinwissen vermittelt wird, ist oft lediglich für eine sehr kleine, zumeist weiße Bevölkerungsgruppe relevant. Etwas über Zusammenhänge der Geschichte unserer Gesellschaft zu lernen und zu verstehen, wie sie mich – zum Guten wie zum Schlechten – beeinflussen, halte ich noch immer für wichtig. Unser Bildungssystem klammert jedoch weite Bereiche aus, zum Beispiel das Wissen über Pflege, Heilung, Jahreskreisfeste, natürliche Geburtsbegleitung oder ein Leben im Einklang mit den Jahreszeiten – Wissen, das häufig in der Hand von Frauen lag. Eine echte Allgemeinbildung würde kein lineares Weltbild, sondern ein Verständnis für Kreisläufe vermitteln. Die Ausrichtung wäre nicht in erster Linie auf wirtschaftliches Wachstum fokussiert, sondern auf erhaltende, versorgende und nährende Tätigkeiten. Statt Körperzyklen im Alltag zu unterdrücken, um produktiver zu sein, würden wir lernen, ihnen mehr zu folgen, und damit den Weg bereiten, um uns selbst, unsere Bedürfnisse und die unserer Mitmenschen oder auch ganzer Ökosysteme ernster zu nehmen.

Du bist auch Sterbebegleiterin. Siehst du darin Parallelen zur Tätigkeit einer Hebamme? 
Der Umgang mit Übergängen, sowohl ins Leben, als auch aus dem Leben heraus, gehörte traditionell ebenfalls zu den Aufgaben der Frauen. Es ist kein Zufall, dass heute sowohl Geburt als auch Sterben fast ausschließlich in Krankenhäusern stattfinden. In den Übergängen steckt meiner Erfahrung nach die größte Angst. Seit ich Geburt und Tod aus dem Krankenhaus wieder in mein Leben zurückhole, fällt es mir leichter, einen natürlichen Umgang damit zu finden. In der Arbeit als Geburts- wie auch als Sterbebegleiterin geht es darum, zuzuhören, da zu sein und meinem Gegenüber das Gefühl zu geben, mit all seinen Ängsten gehört zu werden. Auch in meinem persönlichen Leben schaffe ich es immer mehr, zu akzeptieren, dass manche Dinge aufhören müssen, um Platz für Neues zu machen. Die Leere, die solche Umbruchszeiten mit sich bringen, habe ich früher kaum aushalten können. Inzwischen weiß ich, dass das Leben viele Sterbe- und Geburtsprozesse mit all ihren intensiven Emotionen bereithält, bevor es physisch soweit ist.


Zora Schmitt (25) ist als Sterbebegleiterin, Hebamme in Ausbildung, Umweltaktivistin, Baumbesetzerin, Performerin und Akrobatin akitv. In ihrer Abschlussarbeit an der Uni hat sie sich mit dem Thema »Mutterschaft im gesellschaftlichen Kontext« beschäftigt. Weil die die Ausübung der nicht lizensierten Hebammentätigkeit in einem rechtlichen Graubereich stattfinden muss, zieht es Zora vor, ihren richtigen Namen nicht zu nennen.


Zur freien Hebammenausbildung
daaluzoasis.com

weitere Artikel aus Ausgabe #57

Photo
von Lara Mallien

Dem Trott zum Trotz

Als Jürgen Osterlänger im Jahr 2009 erstmals von der Transition-Town-Bewegung erfuhr, war er begeistert: Endlich ein Konzept, das radikal auf »gutes Leben für alle« ausgerichtet ist, das an der »Graswurzel« ansetzt und doch in die Politik hineinwirkt!

Photo
von Anja Marwege

Zwischen Spaten und Papierkram

Hartmut Lüdeling erlebt in seiner Arbeit als Stadtplaner und Dorfentwickler immer wieder wirkliches »Gemeinschaffen« – immer dann, wenn Menschen Feuer für eine Idee fangen. Weder spezielle Moderationsmethoden noch Förderprogramme seien ausschlaggebend dafür, ob

Photo
von Lara Mallien

Wir haben etwas zu geben!

Mit der Künstlerin Kerstin Polzin stehen wir in einer kleinen Aue des Jauerbachs, der zwischen den sorbischen Dörfern Miltitz und Nebelschütz in der Oberlausitz fließt. Das flache Tal wird auf halbem Weg von einem massiven Damm unterbrochen, der die Jauer bis zur Wendezeit

Ausgabe #57
Weltmittelpunkte

Cover OYA-Ausgabe 57
Neuigkeiten aus der Redaktion