Titelthema

Die Geschichten der Dinge

Die Künstlerin Folke Köbberling, deren ­Werke diese Ausgabe bebildern, und ihr Mann ­Werner Nasahl leben mit und in ­sprechenden Materialien.von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #58/2020
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Bei Folke Köbberling und Werner Nasahl hat alles eine Geschichte. Die Schwarzkopfschafe und die schwarze Hündin Molly haben eine gemeinsame Geschichte, die mir für den nächsten Besuch versprochen wird: »Es ist eine lustige Geschichte!«, ruft Werner mir noch nach, als ich um die Ecke biege und durch das offenstehende Gartentor hinausgehe. Der Belag auf dem großen, schweren Esstisch hat eine Geschichte: Es ist ein Stück vom Linoleumfußboden einer Schule in Berlin-Buch, an deren Umbau Werner als Architekt mitgearbeitet hatte.
Die schwere Eisensäule, die den ­hellen, luftigen Raum mitträgt, hat sogar eine ziemlich lange Geschichte: »Sie stammt von einem Schrotthandel hier in der Nähe«, setzt Werner an. »Hier« – das meint das Haus Schlangenthin Nr. 3. Es war Teil des ehemaligen Gutshofs Schlangenthin, der längst in zahlreiche Einzelhäuser unterteilt wurde, ganz in der Nähe des Städtchens Müncheberg im Märkischen Oderland. Das Haus liegt zehn Gehminuten vom Müncheberger Bahnhof entfernt – eine halbe Stunde von Berlin-Ostkreuz mit Regionalbahn 14 Richtung Kosztryn. In der Anfangszeit, nach der Ersteigerung des Hauses vor über 20 Jahren, brachte Werner Überflüssiges aus dem Keller zum Schrotthandel – und nahm dafür anderes mit, denn bezahlt wurde nach Autogewicht. So kam auch die imposante Eisenstütze zu ihm, die so schwer war, dass der heimliche Tauschhandel beinahe aufgeflogen wäre.
Das grüne Cordsofa und die mit grauem Samt bezogenen Freischwinger  – Designklassiker, auf denen meine Redaktionskollegin Maria König und ich bei unserem ersten Besuch zum Kaffee Platz nehmen dürfen – haben natürlich auch eine Geschichte: »Die habe ich, neu bezogen, zu meinem 50. Geburtstag bekommen«, erzählt Folke. »Es sind Möbel aus meinem Elternhaus, an die ich mich noch aus der Kindheit erinnere.«
Wir schauen durch die bodentiefen Fenster ins Grüne – auf die von den Schafen abgegraste Wiese, auf eine Kräuter­spirale, auf ein Boot, mit dem die beiden letzten Sommer auf dem Buckower See segeln waren, auf ein lehmverputztes Häuschen dahinter, dessen Geschichte wir später noch genauer erfahren werden, auf die ausgedehnten, steppenartigen Wiesen dahinter, über die gerade die Pferdeherde der Nachbarin galoppiert, und ganz in der Ferne lässt sich ein Kiefernwald erahnen.
»Die Fenster haben wir extra anfertigen lassen«, räumt Folke beinahe entschuldigend ein – es sind neue, doppelt isolierte Holzfenster. »Aber diese Fenster, das sind die alten, die hier ursprünglich drin waren!« Ich drehe mich um und sehe, dass schräg hinter dem Cordsofa die alten Metallfenster einen Raum im Raum abteilen. Es sind alte Werkstattfenster, denn natürlich hat auch dieser Raum eine Geschichte: Er war die Maischerei der einstigen Schnapsbrennerei des Gutshofs, die 1952 »mitten im Betrieb«, wie Werner berichtet, in die Luft geflogen war. Der Raum war als Ruine zurückgeblieben, bis Werner und Folke ihn wieder neu und sehr geradlinig aufgebaut haben.
 

Rohwolle ist (k)ein Abfallstoff
In der Mitte des hellen, hohen Raums führt eine Wendeltreppe auf die zweite Ebene; die Treppe ist ganz mit Wolle verhängt. Wir folgen Folke nach oben – in ihr temporäres »Wollatelier«. Folke Köbberling ist Künstlerin, sie hat zahlreiche internatio­nal renommierte Preise bekommen. Viele ihrer Kunstwerke hat sie gemeinsam mit ihrem ehemaligen Mann und Arbeitspartner Martin Kaltwasser geschaffen, der genau wie Werner auch Architekt ist. Die Werke standen und stehen zum Teil noch in Vancouver, New York oder Mexiko City. Sie beschäftigen sich mit ausgedienten Materialien, dem Recht auf Wohnen und dem Wahnsinn des automobilen Systems. So haben die beiden einmal eine nagelneue Rolltreppe, die als Schrott galt, weil sie eine Fehlanfertigung war, auf einem Campus im Freien verbaut. »Das war ein richtiger Skandal«, erzählt Folke, weil die Menschen im niederösterreichischen Leobendorf nicht verstanden hätten, dass auch »Readymades« – also industriell gefertigte Gebrauchsgegenstände – Kunst sein können, wenn sie in neue Bezüge an andere Orte versetzt werden.
Manche als temporäre Bauten entstandenen Interventionen sind auch geblieben: Im Wysing Arts Centre in der Nähe der englischen Universitätsstadt Cambridge etwa wird der Pavillon »­Amphis« regelmäßig bespielt und ist zum Treffpunkt der Nachbarschaft geworden. Heute gibt es an vielen Orten Materialbörsen und Vereine, die überflüssige Werkstoffe wieder verfügbar machen; und selbst im Messebau achten zumindest »nachhaltig« orientierte Unternehmen inzwischen auf Weiternutzung – Folke und Martin waren Pioniere in diesem Bereich. Mittlerweile gibt Folke ihre Erfahrung auch als Professorin für »architekturbezogene Kunst« an der Technischen Universität Braunschweig weiter.
Seit einigen Jahren ist sie vom Werkstoff Rohwolle fasziniert, der säckeweise auf der zweiten Ebene des Raums lagert. Rohwolle ist nur für Unwissende ein neues Material und deshalb ganz anders als alte Thermofenster oder Leimholz aus dem Messebau – Gegenstände und Materialien, aus denen Folke und ihre Partner sonst ihre Kunstwerke gefertigt haben. Rohwolle gilt bei uns schon direkt nach der Schafschur als Abfallstoff, der keine Verwendung findet, weil es keine Betriebe mehr gibt, die daraus gewinnbringend Garn spinnen könnten. Die Wolle für in Europa produzierte Pullover oder Socken stammt fast immer aus Australien oder Neuseeland. Folke hat sich überlegt, was mit diesem wunderbaren Rohstoff noch anzufangen sein könnte, und experimentiert damit. Dabei entstehen runde Fußteppiche, vor allem aber Wandbehänge aus Metallgittern, in die Rohwolle gestopft wird – »Akustikabsorber« nennt Folke die Gegenstände, die in großen Rahmen oder auch in einer alten Schublade daherkommen können.
Ein kleiner Durchgang führt in ein Schlafzimmer unterm Dach; auch hier hängt ein Wollabsorber an der Wand. »Hier war es früher feucht und muffig«, erklärt Folke, »aber die Eigenschaften der Wolle sind richtig gut. Geräusche werden gedämmt, sie nimmt Feuchtigkeit auf, das Raumklima wird warm und trocken, und es riecht angenehm.« Das ist typisch für Folkes Arbeiten: Sie stehen als imposante Erscheinungen für sich, machen auf die Geschichte eines Materials aufmerksam – und erfüllen häufig auch noch einen nützlichen Zweck. »Kommt, ich zeige euch, wo ich meine Wolle wasche, trockne und aufbewahre« – damit geht es hinaus aus dem Haus, vorbei an Kräuterspirale und Boot, hin zu dem kleinen Gartenhäuschen, das Werner und Folke vor vier Jahren gebaut haben.


Von der Brücke zum Dach an die Wand
Auch in der lehmverputzten Wand des Häuschens ist Rohwolle verbaut – mal sichtbar, mal verputzt. Vor dem Haus steht ein Gestell aus Ästen, in dem Folke die Wolle nach dem Waschen von Sonne und Wind trocknen lässt. Und im Häuschen selbst kann natürlich auch jedes Teil eine Geschichte erzählen: Der Holzfußboden und die Deckenverkleidung sind von einer Installation einer Filmkünstlerin übriggeblieben. Die tragenden Balken stammen von einer Brücke aus der Nordischen Botschaft in Berlin. Die Fenster sind vom Nachbarn. Die Außenverkleidung der einen Seite besteht aus alten Brückenplanken, die eigentlich als Dach des Gartenhauses zum Einsatz hätten kommen sollen. Doch dafür waren sie dann doch nicht mehr dicht genug – also kamen sie später an die Wand.
Auch sonst sind im Garten so einige Schätze versteckt: die Bohlen aus wertvollem Lärchenholz unter einem Dächlein, ein altes Auto, das mitten im Gras steht und dessen Teile auf Weiternutzung warten – Rohstofflager ist die einzige Autonutzung von Folke und Werner, die ansonsten zu Fuß, mit dem Rad und der Bahn unterwegs sind. Vom Garten aus können wir die alte Brennerei in ihrer vollen Schönheit mit allen An- und Umbauten sehen: »Der Umbau des Hauses war schon etwas Besonderes. Da waren wir von den Einschränkungen und Vorgaben, an die ich als Architekt gebunden bin, wenn ich für andere baue, befreit.« Wann immer es ging, nutzte Werner schon vorhandenes Material, manchmal brachte er auch Dinge von Baustellen mit, auf denen er arbeitete  – so wie das zur Tischplatten­oberfläche gewordene Linoleum aus der sanierten Schule.
Im vergangenen Jahr hat sich Folke auf neues Terrain gewagt: Sie hantiert nicht nur mit Stoffen, von denen andere irrtümlich denken, sie seien Abfall, sondern sie ist selbst in die Kreislaufproduktion eingestiegen – mit vier Schwarzkopfschafen, die das Gras im Garten kurzhalten.
Zum Abschied unseres Besuchs vereinbaren wir, dass die Schafe bald auch unser Haus des Wandels (siehe Seite 62) als Gastmähende für ein paar Wochen besuchen kommen dürfen. Ich bin schon gespannt darauf, dann auch die Geschichte mit der Hündin zu hören.

folkekoebberling.de

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