Die Kraft der Vision

Wege zu einer egalitären Gesellschaft

Wie könnte ein matriarchales Gemeinwesen hier und heute verfasst sein?von Heide Göttner-Abendroth, erschienen in Ausgabe #62/2020
Photo
© Marcus Gruber

Bei den Gedanken zu matriarchalen Gesellschaften müssen wir uns vom herrschenden Bild von »Gesellschaft« verabschieden. »Gesellschaft« heißt für uns ein Sammelbecken von verschiedensten Personen, Interessengruppen und Institutionen, die sich fremd sind und miteinander um die Macht im Staat rivalisieren. Häufig wird »Gesellschaft« auch mit »Staat« gleichgesetzt, und Staaten haben heute die Größe von Nationalstaaten oder Supermächten. Dass Größe dabei bewundert wird, hat mit der patriarchalen Ideologie von Herrschaft, Expansion und (Welt-)Reichsbildung zu tun.

Zur Größenordnung: die Rolle der Region

Im matriarchalen Gesellschaftsentwurf ist jedoch Größe an sich kein Wert. Es werden kleinere Einheiten bevorzugt, denn sie müssen eine personennahe und transparente Politik ermöglichen. Sie dürfen nicht so groß sein, dass die Menschen sie nicht mehr durchschauen und ihre Entscheidungen nicht mehr mitbestimmen können, wie es bei den heutigen Staaten und Superstaaten der Fall ist. Sie dürfen aber auch nicht so klein sein, dass die autarke Versorgung und die Vielfalt der Handwerke und Künste nicht mehr gewährleistet ist. Diese ideale Größenordnung hat die Region. Die Grenzen einer Region sind nicht willkürlich wie Staatsgrenzen, sondern sie bestimmen sich nach den landschaftlichen Gegebenheiten und den gewachsenen kulturellen Traditionen. Eine matriarchale Gesellschaft reicht nicht über ihre Region hinaus, sie ist ein Netz aus Dörfern und kleinen Städten. Dabei gibt es keinerlei Rangordnung zwischen den Dörfern und Städten, keinerlei Zentralisierung, denn jede Siedlung ist politisch autonom. Sie sind voneinander unabhängige Dorf- und Städterepubliken.

Eine solche Dorfrepublik besteht aus einem einzigen oder einigen wenigen wahlverwandten Clans. Eine Stadtrepublik besteht aus mehreren Stadtvierteln, die sich ihrerseits wie ein »Dorf« verhalten, denn diese Stadtviertel bestehen je aus einigen wenigen symbolischen Clans wie ein Dorf. Das garantiert die Transparenz. Und es begrenzt die Größe der Stadt, die nichts mehr gemeinsam hat mit unseren Riesenstädten, die eine wahllose Anhäufung von mehr oder weniger entwurzelten, untereinander fremden und aggressiven Individuen bis zum Millionenfachen sind. Eine matriarchale Stadt ist demgegenüber ein wohlgeordnetes Gefüge, denn nicht nur die symbolischen Clans der einzelnen Stadtviertel beziehen sich politisch aufeinander, sondern auch die einzelnen Stadtviertel, und zwar nach den Mustern der Konsenspolitik.

Konsenspolitik auf gesellschaftlicher Ebene

Die Muster der matriarchalen Konsenspolitik schließen bei der Entscheidungsfindung jede Person ein und lassen Beschlüsse nur mit Einstimmigkeit zu. Es sind diese Muster, welche die Größenordnung einer matriarchalen Gesellschaft bestimmen und ebenso die Struktur der Dorf- und Stadtrepubliken. Denn die Konsenspolitik beruht auf der Nähe von Personen und auf höchster Transparenz.

Die reale Politik wird in den symbolischen Clans gemacht. Darin leben alle Menschen als Wahlverwandte und nicht als rivalisierende Fremde. Von hier gehen die Entscheidungen aus, und hierhin kehren die Beratungen zurück, bis die Einstimmigkeit auch auf den erweiterten Ebenen gefunden ist. Wenn eine Dorfrepublik ihren Konsens sucht, dann beginnt das in den symbolischen Clans. Er ist gefunden, wenn die Mitglieder aller symbolischen Clans die Einstimmigkeit gefunden haben, das heißt, wenn alle symbolischen Clans zuletzt dieselbe Auffassung teilen. Im Dorfrat tauschen dabei die Delegierten der einzelnen symbolischen Clans fortwährend die Informationen zum Stand der Dinge aus und helfen so bei der Konsensfindung. Analog verläuft es in einem Stadtviertel, wenn die symbolischen Clans des Stadtviertels ihren Konsens bilden.

Geht es dann um eine Konsensfindung auf Stadtebene, wird der Vorgang noch komplexer: Nun kommen im Stadtrat die Delegierten der einzelnen Stadtviertel zusammen und tauschen die Informationen aus. Ist der Konsens noch nicht gefunden, kehren sie zum Stadtviertel-Rat zurück und informieren dort die Delegierten der einzelnen symbolischen Clans, die ihrerseits wieder zu den symbolischen Clans zurückkehren, damit die Sache neu bedacht wird. So geht es hin und her, bis der Konsens auf Stadtebene gefunden ist. Bei der Konsensbildung auf regionaler Ebene beginnt die Entscheidungsfindung wieder bei allen einzelnen symbolischen Clans. Dieser Prozess wird dann durch die Delegierten der einzelnen Dörfer und Städte in den Rat der Region hinein vermittelt, und er geht über alle Delegierten-Stufen wiederum so lange hin und her, bis der Konsens der ganzen Region erreicht ist.

Es liegt bei diesem Vorgang der Konsenspolitik auf der Hand, dass über die Größe einer Region hinaus Konsensbildung als Einstimmigkeit aller Mitglieder nicht mehr durchführbar ist. Daher ist die Region die größte politische Einheit. Alles, was darüber hinausgeht, entspricht nicht mehr dem menschlichen Maß. Es entmenschlicht daher die einzelnen Menschen und macht sie zu Objekten und zu Nummern, die keine Stimme mehr haben, wie es in den zu großen zentralisierten Staatsgebilden der Fall ist. Das menschliche Maß ist nun einmal begrenzt und relativ klein. Wenn es wieder als Maßstab gilt, lässt es die herrschende Gigantomanie, die unaufhaltsam vom Großen zum immer Größeren strebt, nicht mehr zu.

Subsistenz als ökonomische Basis

Die Region ist auch die größte wirtschaftliche Einheit. Denn die matriarchale Ökonomie ist grundsätzlich Subsistenzwirtschaft, die nach dem Grundsatz der lokalen Autarkie funktioniert. Die Produkte werden auf dem die Dörfer und kleinen Städte umgebenden Garten- und Ackerland gewonnen, und sie werden nur zu lokalen Märkten gebracht, welche die lokale Versorgung sicherstellen. Das heißt, nicht nur die Dörfer sind Agrarsiedlungen, sondern auch die Städte sind Agrarstädte, die von ihrem Umland abhängen. Dieses Umland hat Grenzen, daher ist auch die Größe einer Stadt begrenzt. Es kann bei einer matriarchalen Gesellschaft schon vom wirtschaftlichen Standpunkt keine Riesenstädte mehr geben, die ihr sogenanntes Hinterland aussaugen und zur armen Provinz absinken lassen und obendrein ihre Luxusgüter mit Flugzeugen um die ganze Welt befördern.

Subsistenzwirtschaft ist die einzige Wirtschaftsform, welche die herrschende hemmungslose Ausplünderung unseres Planeten beenden kann. Sie wird heute noch überwiegend in den Ländern der sogenannten Dritten Welt praktiziert, besonders als Gartenbau von den Bäuerinnen, die damit ihre Familien ernähren. Sie ist widerständig gegen die Kommerzialisierung der Landwirtschaft im weltweiten Agrobusiness der Lebensmittelkonzerne, die mit Plantagen ganze Landstriche verwüsten. Subsistenzwirtschaft geschieht im kleinen Rahmen, wird in intensiver Handarbeit und die Erde pflegend geleistet. Sie hat das Maß der Menschen, nicht das der Maschinen.

Auf gesellschaftlicher Ebene bedeutet Subsistenzwirtschaft, dass sich die Dörfer und Städte autark ernähren können. Diese Autarkie von Dörfern und Städten heißt nicht, dass nun jede Frau Gärtnerin und jeder Mann Bauer werden müsste. Es bleibt die Differenzierung in verschiedene Berufszweige durchaus erhalten, besonders in den Städten. Auf Dorfmärkten und Stadtmärkten gibt es lokalen Handel. Außerdem gibt es ein Netz von Märkten in der Region, auf denen ebenfalls Lebensmittel und handwerkliche Erzeugnisse ausgetauscht werden. Denn die Region ist die größere Versorgungseinheit, sie gestattet nicht nur den Austausch spezialisierter Produkte, sondern gewährt auch Schutz bei lokalen Versorgungsschwierigkeiten.

Allerdings ist klar, dass das Ausmaß der heute herrschenden Verschwendung in den sogenannten Industrienationen einerseits und die galoppierende Verarmung in den Ländern der sogenannten Dritten Welt andererseits bei dieser Wirtschaftsform nicht mehr möglich ist. Denn die Subsistenzwirtschaft reduziert den Konsum auf das, was die Region erlaubt, die Lebenshaltung wird damit einfacher. Das ist ökologisch im besten Sinn, denn als Folge dieser Begrenzung muss die Landschaft schonend behandelt werden. Zugleich ist es weltpolitisch im besten Sinn, denn in den armen Ländern behalten die Menschen die Güter, die sie aus ihren Regionen gewinnen, wieder für sich – ohne Steuern, Verschuldung und Zinsen an irgendeinen Kapitalgeber. Damit kann sich die Wirtschaft wieder auf ein normales Maß einpendeln, welches das begrenzte menschliche Maß ist. //


Aus: Heide Göttner-Abendroth, Der Weg zu einer egalitären Gesellschaft. Prinzipien und Praxis der Matriarchatspolitik, Drachen Verlag, 2008.


Heide Göttner-Abendroth (80) ist Philosophin, Kultur- und Gesellschaftsforscherin sowie die Begründerin der modernen Matriarchatsforschung. Sie wurde in Thüringen geboren und hat drei Kinder: zwei Töchter und einen Sohn. 1973 promovierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität München in Philosophie und Wissenschaftstheorie. Danach lehrte sie zehn Jahre in München Philosophie und publizierte wissenschaftstheoretische Arbeiten in mehreren Sprachen. 1976 schloss sie sich aus Protest gegen die institutionalisierte Wissenschaft und die Benachteiligung der Frau in der Universität der neuen Frauenbewegung an und wurde zu einer Pionierin der Frauenforschung in Westdeutschland. 1986 gründete sie bei Passau die unabhängige Akademie »Hagia« für moderne Matriarchatsforschung und matriarchale Spiritualität. Mit ihrer mehr als dreißigjährigen Forschung in aller Welt sowie zahlreichen Publikationen schuf Heide Göttner-Abendroht die Grundlagen für ein neues Verständnis matriarchaler Kulturen. Ihr wissenschaftliches Hauptwerk, die vierbändige Reihe »Das Matriarchat«, ist im Kohlhammer-Verlag erschienen.Sie organisierte drei Weltkongresse für Matriarchatsforschung und gehört zu den Frauen, die im Rahmen der Initiative »1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005« nominiert wurden.

www.goettner-abendroth.de


weitere Artikel aus Ausgabe #62

Photo
von Matthias Fersterer

Red Round Globe Hot Burning

In der an Krisen, gesellschaftlichen Kipppunkten und Revolutionen reichen Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erkennt der US-amerikanische Historiker und Commons-forscher Peter Linebaugh geografisch wie zeitlich entscheidende Scharniere der Weltgeschichte: Zwischen den Schafotten des Empires, den

Photo
von Luisa Kleine

In der Mitte steht eine Eckbank

Mein liebster Platz in meiner Gemeinschaft in der »Fuchsmühle« ist unsere Eckbank. Sie ist aus Eichenholz, und auf ihr liegen eigens für sie geschneiderte Sitzkissen mit blauen Karos. Die Bank steht in unserem geheizten Esszimmer. Wärmequelle ist ein weißer

Photo
von Ingrid Reinecke

Bereichernd gefordert

»Oh, Zwillinge!« Ich freute mich mit, als mir eine langjährige Freundin erzählte, dass sie Oma werden würde. Gemeinsam malten wir uns aus, wie wir die beiden in den Kinderwagen packen und mit ihnen an die Isar oder ins nächste Café schieben würden. Eine

Ausgabe #62
Matriarchale Fährten

Cover OYA-Ausgabe 62
Neuigkeiten aus der Redaktion