Titelthema

Auf der Fährte der großen Bärin

Ein Gespräch mit der finnischen Mythenforscherin Kaarina Kailo über das matriarchale Erbe der Sami, Schenkökonomie und Bären.von Lara Mallien, Matthias Fersterer, Kaarina Kailo, erschienen in Ausgabe #62/2020
Photo
© Adelaide Växland

Lara Mallien  Kaarina, wie bist du dazu gekommen, die Mythen der Sami zu erforschen?

Kaarina Kailo  Für eine aus Finnland kommende vergleichende Literaturwissenschaftlerin, die matriarchale Mythen erforscht, war es naheliegend, sich mit der Kultur der Sami zu befassen. Das samische Siedlungsgebiet Sápmi liegt auf schwedischem, norwegischem, russischem und eben auch finnischem Territorium. Als ich Professorin an der Concordia University in Montreal war, lud ich die samischstämmige Studentin Rauna Kuokkanen ein, mit mir ein Forschungsprojekt zu indigenen nordamerikanischen und samischen Traditionen durchzuführen. Dabei erkannten wir, wie viel von der Sami-Kultur bereits verlorengegangen ist, weil diese durch kirchliche Umdeutung überlagert wurde. Derzeit erforsche ich nordische Mythen und stoße auf viele Spuren – etwa auf eine Göttin, bei der ich mich fragte, ob sie zu den Sami oder zu den Finnen gehört; letztlich kam ich zu dem Schluss, dass es eine Große Muttergöttin, die Goldene Frau, gibt, die in den verschiedenen Kulturen unter verschiedenen Namen und Gesichtern bekannt ist. Bei den Sami wird sie Máttaráhkká genannt.

Matthias Fersterer  Ich kenne Máttaráhkká aus Sissel Horndals Bilderbuch »Mátta-ráhkkás weite Reise«, das ich gerade meinen Kindern vorlese.

KK  Sie verkörpert dieselben Prinzipien des Werdens und Vergehens wie die Göttinnen anderer nordischer Kulturen. Ich versuche, diese verschiedenen Ausprägungen in einem Buch zusammenzuführen. Dabei taste ich mich an verschiedene Traditionsschichten heran – die samischen, finnischen und slawischen Mythologien durchdringen sich und sind nicht klar voneinander abgrenzbar, denn im Neolithikum gab es die heutigen Landesgrenzen nicht. Die vergleichende Mythologie der modernen Matriarchatsforschung weist dabei den Weg.

LM  Streng genommen gelten die Sami nicht als matriarchal.Spielen Frauen, Mütter, Großmütter bei den heutigen Sami dennoch eine wichtige Rolle?

KK  Ich bin in der samischen Tradition auf viele matriarchale Fährten gestoßen. Die Sami praktizieren noch viel Schenköko-nomie – die typische Form matriarchalen Wirtschaftens –, und in ihren Mythen findet sich ein Topos, den die Matriarchats-forscherin Heide Göttner-Abendroth in »Die Göttin und ihr Heros« beschrieben hat: Typischerweise muss der Heros durch eine Frau, die Göttin, erlöst werden, damit der Frühling »wiedergeboren« werden kann. Patriarchale Umdeutung machte die Göttin zur abhängigen Ehefrau oder Schwester eines männlichen Gottes.

Heutige Sami bezeichnen sich meist nicht als matriarchal. Sie haben sich in den schwedischen, finnischen, norwegischen und russischen Gesellschaften, in denen sie sich aufgrund willkürlich gezogener Staatsgrenzen wiederfanden, assimiliert, hei-raten nach patriarchaler Tradition und bilden Kleinfamilien.

In Finnland ist der Begriff »Matriarchat« angstbesetzt, und im Zug der Kolonialisierung ist den Sami großes Unrecht widerfahren: Ihre Traditionen wurden verboten, ihre Trommeln verbrannt, ihre Schamaninnen und Schamanen geschmäht und eingesperrt. Vielleicht kann meine Arbeit, bei der ich die matriarchalen Traditionslinien der samischen Kultur sichtbarer zu machen versuche, dazu beitragen, das Selbstverständnis heutiger Sami zu verändern. Diese matriarchalen Aspekte stecken nicht nur in samischen Mythen, etwa von den »vier Großmüttern«, sondern auch in historischen Aufzeichnungen: So erwähnten Tacitus und Adam von Bremen, dass es im Norden eine Terra feminarum gäbe; die Vorstellung eines in Frauenhand befindlichen Landes fanden sie erschreckend. Es gibt Hinweise darauf, dass dieses Land der Frauen tatsächlich existierte, und die Goldene Frau als Große Göttin verehrt wurde. Werden und Vergehen, Geburt und Wiedergeburt bilden den Kern dieser Mythologie. Deshalb wurden nicht nur Frauen, sondern auch die erneuernden Kräfte in der mehr-als-menschlichen Welt verehrt – die Menschen bemühten sich, Pflanzen, Tieren, Landschaften etwas zurückzuschenken und Ressourcen nicht auszubeuten. Aus öko-logischer Sicht handelte es sich um sehr nachhaltige Kulturen.

MF  Wann begann die Kolonialisierung der Sami?

KK  Sie wurden ab dem 14. Jahrhundert christianisiert. Den Missionaren gelang es jedoch nicht, die heidnischen Gebräuche ganz auszulöschen. Weil die Sami aufgrund der harschen klimatischen Bedingungen relativ isoliert waren, ist ihre mündliche Tradition noch sehr ausgeprägt. Sie leben zwar heute in Häusern, hüten die Rentierherden aber nach wie vor auf traditionelle Weise. Durch Pläne, arktische Gegenden mit Eisenbahnnetzen zu erschließen, ist die traditionelle Weidewirtschaft bedroht. Die Sami besuchen finnische Schulen und Universitäten, sind assimiliert an den westlichen Lebensstil. Sie betrachten sich nicht als »edle Wilde«, und weitaus nicht alle samischstämmigen Menschen sind daran interessiert, die alten Traditionen wiederzubeleben. Dennoch beobachte ich eine erstarkende Bewegung, die traditionellen Lebensweisen wiederzuentdecken. In dem von Elina Helander und mir herausgegebenen Essay-Band »No Beginning, No End. The Sami Speak Up« finden sich viele Beispiele dafür.

LM  Kannst du noch etwas näher auf die Schenkökonomie der Sami eingehen?

KK  Die Schenkökonomie ist seit jeher untrennbar mit der Landschaft verknüpft. Ihre älteste noch heute erhaltene Form sind die »Sieidi« genannten Opferplätze der Sami: Naturheiligtümer an markanten Steinen, Bäumen oder Quellen. Dort wurden Opfer-gaben wie Rentiergeweihe abgelegt, um die Geister der Tiere zu ehren und der mehr-als-menschlichen Welt etwas zurückzuschenken. Die Schenkökonomie hat aber noch weitere, ganz praktische Aspekte – sie setzt auf Arbeitsteilung, Diversifizierung und Solidarität: Manche Gruppen fischen, andere gärtnern, wieder andere hüten Rentiere. Wenn es bei einer Gruppe einmal magere Erträge gibt, können die anderen aushelfen.

Vor zwanzig Jahre traf ich die texanische Semiotikerin und Gabentheoretikerin Geneviève Vaughan und schloss mich einem internationalen Netzwerk feministischer Schenkökonomie an, ebenso wie Heide Göttner-Abendroth, die Haudenosaunee-stämmige Matriarchatsforscherin Barbara Alice Mann (siehe Oya 61) sowie Vertreterinnen vieler matriarchaler Gesellschaften aus aller Welt. Dabei erkannten wir das Matriarchale als verbindendes Element der verschiedenen Schenkökonomien in unterschiedlichen Kulturen. In Kanada war ich in engem Kontakt mit indigenen nordamerikanischen Gemeinschaften und erkannte, wie viele -Gemeinsamkeiten es zwischen den Sami und traditionellen nordamerikanischen Gruppen gibt. In der akademischen Welt, in der nicht einmal anerkannt wird, dass es überhaupt je matriarchale Kulturen gegeben hat, ecke ich damit naturgemäß an. Barbara Alice Mann und ich sind übrigens gerade dabei, ein Buch über Schwitzhüttentraditionen in aller Welt zu schreiben.

MF  Wie Christiane van Schie in ihrem Buch »Im Schoß der Erdmutter« zeigte, gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen den weltweiten Schwitzbadtraditionen.

KK  Ja, und sie stehen oft in Zusammenhang mit der Großen Göttin. Wir wollen das Thema in der Tiefe erkunden – es ist wichtig, alte rituelle Heilmethoden wiederzuentdecken, auch um Auswege aus den Sackgassen der Konsumgesellschaft zu weisen. Interessanterweise gibt es indianische Überlieferungen, denen zufolge die erste Schwitzhütte eine Bären-höhle war.

LM  Kannst du noch etwas mehr zur Bedeutung des Bären sagen? Auf dem Titel dieser Ausgabe ist ja das Foto einer Bärin zu sehen.

KK  In der von mir herausgegebenen Anthologie »Women and Bears. The Gifts of Nature, Culture and Gender Revisited« finden sich Kunstwerke und Texte um Menschen und Bären aus vielen verschiedenen Traditionen. Bärenkulte sind weit verbreitet, in fast jedem Land gibt es eine Bärengöttin. Bären sind dem Menschen sehr ähnlich, viele Mythen berichten von Mensch-Bär-Misch-wesen. Überlieferungen der Sami, anderer finno-ugrischer Völker sowie vieler weiterer Kulturen – etwa armenische, slawische und irokesische – erzählen sogar von der Vermählung zwischen Menschenfrauen und Bären. Oft wurden sie zu patriarchalen Jagd- und Heldengeschichen umgedeutet, im Kern sind es jedoch matriarchale Erzählungen. Bären gelten seit jeher als Heiler, weil sie sich auf ihrer Futtersuche eingehend mit den verschiedenen Wildkräutern befassen. Die Arktis ist nach dem Bären (von griechisch arktos, »Bär«) benannt, genauer gesagt, nach Ursa minor, dem Sternbild des Kleinen Bären, in dem der Polarstern enthalten ist. Aus all diesen Geschichten spricht die enge Verwobenheit der Menschen mit anderen Wesen und Landschaften.

MF  Es klingt, als könnten wir von dieser tiefen Einbettung in die mehr-als-menschliche Welt heute viel lernen.

KK  Ja, ich halte diese Sichtweise für sehr relevant und zeit-gemäß! Weltweit mögen autoritäre und faschistische Tendenzen auf dem Vormarsch sein – es gibt jedoch auch Gegenbewegungen, die auf eine Wiederverbindung mit dem Land, auf Permakultur und Subsistenz setzen. Die Große Göttin der Sami konnte nicht nur menschliche, sondern auch mehr-als-mensch-liche Gestalt annehmen: die Goldene Frau wurde oft als Baum mit weiblichem Antlitz dargestellt, und Bronzegüsse permischer Kulturen, deren Blütezeit zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert lag, zeigen die Göttin umgeben von Bären, Schlangen, Igeln oder Vögeln. Die Große Göttin verkörpert das Prinzip der Erneuerung – mit diesem Bewusstsein würden wir die Welt nicht ausbeuten und -vernutzen, wie wir es gegenwärtig tun.

LM  Vielen Dank für das Gespräch! //

Kaarina Kailo (69) lehrt Amerikanistik an der finnischen Univer-sität Oulu. Oben trägt sie eine von Irma Heiskanen gestaltete und gefertigte Matronenschürze. 2018 erschien ihr Buch »Finnish Goddess Mythology and the Golden Woman«. www.kaarinakailo.info


weitere Artikel aus Ausgabe #62

Photo
von Luisa Kleine

Unauffällig einsickern

Luisa Kleine: Wie kamst du auf das Thema rechte Ökologie?  Jonas Duhme: Schon immer begeisterte mich Natur, und ich bewegte mich gleichzeitig in antirassistischen Kontexten. Ich war schwer irritiert, als ich gesehen habe, dass Ökologie gar kein explizit progressives oder

Photo
von Wilhelmina Donkoh

Die Mutterlinie ist unantastbar

Ich stamme von den Fante, einem Teil des Akan-Volks, ab. Meine Familie lebt seit über hundert Jahren in Kumasi, der zweitgrößten Stadt Ghanas und der Hauptstadt der Asante, die ebenfalls zu den Akan gehören. Dort lebe ich mit meinem Mann in einem schönen Stadthaus mit

Photo
von Matthias Fersterer

Red Round Globe Hot Burning

In der an Krisen, gesellschaftlichen Kipppunkten und Revolutionen reichen Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erkennt der US-amerikanische Historiker und Commons-forscher Peter Linebaugh geografisch wie zeitlich entscheidende Scharniere der Weltgeschichte: Zwischen den Schafotten des Empires, den

Ausgabe #62
Matriarchale Fährten

Cover OYA-Ausgabe 62
Neuigkeiten aus der Redaktion