Bildung

Die Kunst, sich einzulassen

Anette Kirchner und Jürgen Sackschewski haben in den letzten zwölf Jahren mit tausenden »Enkelkindern« geschnitzt.von Maria König, erschienen in Ausgabe #62/2020
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© privat

Im Berliner Stadtteil Karlshorst und an vielen anderen Orten in Berlin sind die beiden Holzschnitzer Anette Kirchner und
Jürgen Sackschewski bei vielen Familien bekannt. Seit zwölf Jahren bieten die beiden Schnitzen für Kinder an. Auch ich war vor einigen Jahren regelmäßig mit -meinen Kindern bei ihnen und habe diese Zeit in guter Erinnerung. 

Ob bei einem regelmäßigen Kurs in einer Ganztagsschule, bei Kindergeburtstagen, auf verschiedenen Märkten (wo sie auch ihre selbstgefertigten Schnitzmesser anbieten) und bei Klangholzprojekten in Kindergärten – die beiden schaffen eine behagliche Atmosphäre, die zum gemeinsamen Tätigwerden einlädt. Nach Experimenten mit Küchenmessern und gekauften Taschenmessern in den ersten Jahren haben Anette und Jürgen inzwischen einen eigenen Satz von Schnitzmessern angefertigt, deren Griffe gut in der Hand liegen. Die scharfen skandinavischen Schnitzmesserklingen hat Jürgen selbst eingesetzt. Ob Dreijährige oder Erwachsene – für alle haben die beiden auch Hocker, Handschuhe und robuste selbstgenähte Schürzen im Gepäck. So können die »Leihgroßeltern«, wie Anette sich und Jürgen schmunzelnd bezeichnet, überall leicht einen geselligen Schnitzkreis -schaffen.

Der Holzbildhauer und Kunstlehrer Jürgen und die Architektin Anette lernten sich 2003 in einer Phase der beruflichen Neuorientierung kennen. Bis zu diesem Zeitpunkt war Jürgen hauptsächlich mit größeren Kindern und Jugendlichen holzbildhauerisch tätig. »Damals bei einem Holzbildhauen-Kurs für Oberschüler der 11. Klasse an der Jugendkunstschule in Hohenschönhausen habe ich innerlich Abschied genommen von dieser Altersgruppe, in der das Intellektuelle eine größere Rolle spielt als ein Gefühl für das Material, und bin seitdem sehr glücklich, mit den Jüngeren arbeiten zu können«, erinnert sich der 67-Jährige. Auch für Anette war der Zeitpunkt, nachdem ihre eigenen vier Kinder groß waren, genau richtig, um sich anderen Kindern intensiv zuzuwenden. »Wir sind im Großelternalter und haben, ganz anders als die im Alltag eingespannten Eltern, die Ruhe, mit den Kindern zu schnitzen, freiweg zu reden und auf -alles einzugehen, was sie bewegt. Ich finde, das ist eine Aufgabe, die hervorragend zu Großeltern passt«, meint die 60-Jährige vergnügt.

Gemeinsam eintauchen

In den letzten Jahren haben die beiden in den unterschiedlichsten Konstellationen mit Kindern geschnitzt. Manchmal ergab sich eine traute Runde mit nur einem Kind, bei wieder anderen Gelegenheiten -mussten die Hocker in zwei Reihen aufgestellt werden, weil so viele Kinder in einem Raum zusammenkamen. Bei diesen immer wieder neuen Zusammenkünften kann es sich ergeben, dass ein Dreizehnjähriger einer Dreijährigen bei den ersten Schnitzversuchen zuschaut oder dass ein Fünfjähriger bewundernd zu einer Zehnjährigen aufblickt und es ihr nachmachen möchte. An manchen Tagen wird selbst-gebackenes Brot zu lustigen Geschichten gereicht, ein anderes Mal lässt Anette die Kleinen nach der manchmal auch anstrengenden Arbeit in den Überraschungsbeutel greifen und die Finger-augen eine Murmel, einen Muggelstein, einen kleinen Halbedelstein oder einen hölzernen Mini-Pilz aussuchen. 

»Wir sind in das Schnitzen mit Kindern ganz langsam hineingewachsen«, erzählt Anette. »Es war gut, sich von Anfang an über das Erlebte auszutauschen. So haben wir zum Beispiel unsere Sprache verändert. Wir haben die Kinder beobachtet, sind auf sie eingegangen und haben angefangen, in Bildern zu sprechen«. Jürgen ergänzt: »Einem Dreijährigen zuzuschauen, ist wie ein kleines Wunder. So, als würde ich Zeuge der Menschwerdung«. Ihn fasziniert, dass die Kinder beim Schnitzen ganz still und aufmerksam werden und sich vertiefen, als würden sie in eine eigene Welt eintauchen und alles andere ausblenden. »Wir haben etwas entdeckt, das wir Kindern geben können, was in unserer gegenwärtigen Kultur selten geworden ist. Statt Zeit, um sich einzulassen, bekommen sie Hüpfburgen«, meint er.

Viele Kinder finden den Weg zu Anette und Jürgen über Hörensagen von Freunden, Geschwistern oder Nachbarn. Bei aller Lockerheit und Harmonie haben die beiden klare Regeln aufgestellt, die dem Raum Konturen geben. »Bei uns gilt: Wer nicht will, der darf nicht schnitzen«, sagt Anette. Wenn nur die Eltern wollen, dass die Kinder schnitzen, lehnen sie das ab. Darüber hinaus herrschen Regeln, die der Sicherheit dienen. Geschnitzt wird nur im Sitzen mit Schürze und Handschuh. Die ganz kleinen Kindern entrinden ersteinmal die frischen Hölzer. So entstehen Blasrohre, Klanghölzer, Rückenkratzer, Zauberstäbe, Wanderstöcke und Angelruten. Darauf folgen Zwerge, Pilze, Igel, Holzmesser, Boote oder Schalen. Die »Königsdisziplin« ist, sich nach einigen Monaten einen eigenen Messergriff zu schnitzen, in den Jürgen eine Klinge einsetzt. Auch auf das Schleifen legen die beiden großen Wert, denn dabei werde ein Gegenstand in eine neue Qualität gehoben und aus einem rauen Stock entstehe ein edles Schmuckstück, wie Anette meint. Auch wachse beim Schleifen die Geduld.

Vielleicht, so überlegen wir im Lauf unseres Gesprächs, entsteht aus diesem Wechselspiel von klaren Regeln und bedingungslosem Einlassen auf die Menschen, die gerade da sind, jene generationenübergreifende Familienqualität, die einem zufälligen Besucher auffallen könnte und die wenig mit einer klassischen Dienstleistung zu tun hat. 

Alltagskunst

Gemeinsam mit den Kindern erforschen und entdecken die Schnitz-Großeltern, was in der Begegnung mit dem Holz sichtbar wird. »Wir lassen das Gewachsene mitsprechen«, sagt Jürgen. »Die Geste einer Form oder die Biegung eines Astes bieten uns Vorgeformtes, das wir im Prinzip nur herausholen aus dem, worin es versteckt ist. Es wird von uns freigelegt oder hervorgezaubert und löst manchmal Staunen aus.« Die Auseinandersetzung mit den Eigenschaften verschiedener Hölzer oder Unwägbarkeiten beim Schnitzen gleicht manchmal einer Physikstunde oder lädt zum Philosophieren ein. So entdeckte Anette, dass die Markstrahlen im Eichenholz feine Risse sind, die der Baum mit einer Art Klebstoff füllt. Einmal sagte ein Mädchen, sie brauche feineres Schleifpapier, weil »die Fusseln jetzt zu klein für das Papier sind«. 

Jürgen und Anette vermitteln den Kindern und auch mitschnitzenden Erwachsenen, das Künstlerische in Gebrauchsgegenstände zu bringen, wobei sie den Blick für schlichte Schönheit und Zweckmäßigkeit wecken. Kunst ist für die beiden nichts Abgehobenes, wie es die »Hybris rücksichtsloser Selbstverwirklichung im 20. Jahrhundert« vielleicht nahelegt, sondern »eine Qualität, die einer Werdelogik folgt und ein Gefühl für Zusammenhänge bedingt«. Daraus, so hoffe sie, entsteht bei den Kindern vielleicht auch ein Gespür für das Bewahrenswerte der mehr-als-menschlichen Welt.

Im letzten Sommer haben Anette und Jürgen zwei treue Schnitzkinder mit zu ihrem Garten genommen und sie sich sozusagen von den Eltern, die sie nur vom Bringen und Abholen kannten, »ausgeliehen«. »Leo und Emil sind leidenschaftliche Kletterer und wir haben so schöne Kletterbäume«, erzählt Anette mit Freude. Sie haben an diesem Tag auch geschnitzt und Fußball gespielt. Die beiden Jungs sind sieben Jahre alt und kommen seit eineinhalb Jahren zum Schnitzen. Die ersten Schnitzkinder, die vor dreizehn Jahren bei Anette und Jürgen waren, sind inzwischen junge Erwachsene. So passiert es jetzt hin und wieder, dass junge Menschen die beiden auf der Straße ansprechen: »Hallo Anette, hallo Jürgen, ich war mal mit meinem Bruder bei euch schnitzen!« 

Es bleibt nicht aus, dass auch wir über alte Zeiten -reden und uns über gemeinsame Bekannte austauschen. Es ist einer jener Momente, die mir zeigen, dass es im Kiez ein feines, zartes Gemeinschaftsnetz gibt, in das wir eingewoben sind. Wie wäre es, wenn es mehr Menschen gäbe, die Arbeit und Leben so verbinden, dass an dem Ort, wo sie wohnen, ein soziales Netz entsteht, in dem Kinder von vielen verschiedenen Erwachsenen lernen können, wofür sie leidenschaftlich leben? // 



Gemeinsam weiterschnitzen?

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