Es war der erste Duft, der mir in die Nase stieg, als ich 1973 erstmals die Welt der Irokesen betrat, und es ist der Duft, den ich bis heute mit dem indianischen Amerika verbinde: Sweetgrass (Hierochloe odorata). Das Süßgras wird zu einem Zopf geflochten, getrocknet und zum rituellen Räuchern angezündet. Die Zeremonie hilft uns, gemeinsam daran erinnert zu werden, dass wir alle verwandt sind mit den Wesen um uns, den geflügelten, den vierbeinigen, den wurzelnden – und dass wir von ihnen lernen können. Um die Wurzelschlagenden und deren Weisheit geht es in dem Buch »Geflochtenes Süßgras«. Robin Wall Kimmerer flicht unzählige Geschichten in ihren Graszopf – und die Lesenden haben das Glück, dabei sein zu dürfen. In den USA war das Buch mit über einer Million verkaufter Exemplare ein Überraschungsbestseller.
Die Autorin hat die weiße, akademische Welt kennengelernt, ist als Botanikerin in den Lehrberuf gegangen. Um als Naturwissenschaftlerin an der University of New York in Syracuse das Schema, das ihr im Studium so leblos erschien, nicht zu wiederholen, greift sie auf das indigene Erbe ihres Volkes, die im Quellgebiet des Mississippi beheimateten Potawatomi, zurück. So nimmt sie ihre Studentinnen und Studenten mit in den Sumpf und macht sie erst einmal mit dem Rohrkolbenschilf bekannt. Die angehenden Naturwissenschaftler sind verwirrt ob ihres unorthodoxen Unterrichts. Indem sie davon fein beobachtend erzählt, erkennen wir auch die Verwirrung unserer Zivilisation, die uns heimsucht, weil wir die Verwandtschaft zu unserer Mitwelt vernachlässigt haben.
»Wenn die ganze Welt eine Ware ist – welch eine Armut! Wenn die ganze Welt ein zirkulierendes Geschenk ist – welch ein Reichtum!« Geben und Nehmen, Danken und Ernten: Aus dieser Balance entstehen ihre Erlebnisse und Erfahrungen, die sie den Leserinnen und Lesern meisterhaft nahebringt – in einer Sprache, die erdig und empathisch, phantasievoll und literarisch ist. Die Autorin baut viele Brücken zwischen indigenen Mythen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, schon dafür gebührt ihr Anerkennung. Ihre Geschichten haben etwas Tröstliches; etwas, das wir in diesen herausfordernden Zeiten bitter nötig haben. Das Tröstliche ist vor allem ihre Gabe, mit dem Gras auf Augenhöhe zu sein, und das, ohne je sentimental zu werden. Sie blendet die zerstörte Natur und die zerstörerischen Kräfte nicht aus und sie zeigt, wie wir im Kleinen Großes tun können. Kimmerer wünscht sich sehr, sie könne auch Photosynthese betreiben »und einfach nur durch mein Dasein, nur indem ich still in der Sonne stehe oder faul auf einem Teich schwimme, die Arbeit für die Welt erledigen.«
Ich habe mein Lesen dosiert, um lange von diesem Zopf zu zehren.