Gemeinschaft

»Mit Menschen ist es nicht so einfach!«

Einsichten aus der Forschungsreise »Gemeinschaft erfahren« zur Frage: Welche innere Haltung lässt Gemeinschaft gelingen?von Gerriet Schwen, Hannah Geldbach, Robin Dirks, erschienen in Ausgabe #66/2021
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© Robin Dirks

Wir werden mit selbstgemachtem Mirabellenkompott empfangen. Hinter uns liegt eine ziemlich zähe Radetappe, und ich freue mich über die Gemütlichkeit der warmen Lehmbauküche im Wangeliner Garten, wo wir zwei Tage Zwischenstopp machen. Die letzte Nacht waren wir in der Ecohackerfarm Kuckucksmühle. Den heutigen Abend verbringen wir damit, angeregt Geschichten von bisherigen Stationen zu teilen. Am nächsten Morgen holen wir unsere selbstgebastelten Leporellos raus: acht quadratische Seiten aus Karton, die wir für unsere künstlerische Reflexion nutzen. Wir haben zwei Minuten pro Seite, und es geht darum, uns mit verschiedenen Qualitäten der letzten Station zu verbinden, und diese intuitiv aufs Papier zu bringen. Anschließend stellen wir uns die Bildchen gegenseitig vor. Das Ergebnis: Ein hochkomplexes Bild unserer Wahrnehmungen bei der Ecohackerfarm.

Wir, das ist eine Gruppe von zehn Personen, die sich im frühen Herbst für eine Radtour zu verschiedenen Gemeinschaften getroffen haben, um der Frage zu folgen, welche innere Haltung Gemeinschaft gelingen lässt. Innerhalb von zehn Tagen haben wir dabei sieben Gemeinschaftsprojekte im Wendland und in Mecklenburg-Vorpommern besucht. Unsere Eindrücke verarbeiteten wir mit kunstbasierten Methoden, Dialog und kreativem Schreiben. Hieraus kristallisierten sich sechs Prinzipien einer inneren Haltung für das Leben in Gemeinschaft.

Die Forschungsreise haben Gerriet, Robin und Hannah vorbereitet. Uns beschäftigt, wie eine lebensnahe Forschung aussehen kann, die in einem schönen Prozess zu gemeinschaftsrelevanten Einsichten beiträgt. Wir haben den Eindruck, dass in der Gemeinschaftsforschung komplexe Dynamiken und Zusammenhänge oftmals vereinfachend und verkürzt dargestellt werden. Äußere Rahmenbedingungen wie Rechtsverhältnisse und Entscheidungsformen sind selbstverständlich wichtig, aber dennoch nur eine Voraussetzung für das Gelingen von Gemeinschaftsprojekten. Daher stellten wir die innere Haltung in den Mittelpunkt und versuchten, uns möglichst wenig von Geländeführungen und Fakten ablenken zu lassen, sondern uns stattdessen darauf zu konzentrieren, beim gemeinsamen Kochen, bei lebendigen Gesprächen am Tisch oder am Lagerfeuer ein Gespür für die Orte, Menschen, Themen und Herausforderungen zu bekommen.

Wir haben eine Gruppe gebildet ...

Es widerstrebt uns, Gemeinschaft allein zum Gegenstand der Forschung zu machen. Wir wollen unsere Gemeinschaft während der Fahrt auch zur Methode machen und andere Gemeinschaften gemeinschaftlich erforschen. Goethe sprach davon, dass sich durch Übung Organe der Wahrnehmung ausbilden lassen. In diesem Sinn wollen wir als Forschungsgruppe ein gemeinsames Wahrnehmungsorgan bilden.

... uns von Fragen leiten lassen ...

Die Fruchtbarkeit von Lernprozessen hängt von guten Fragen ab. In den von der Künstlerin und Wissenschaftlerin Helga Kämpf-Jansen formulierten »15 Thesen« zu ästhetischer Forschung heißt es: »Der Kern ästhetischer Forschung ist die Vernetzung vorwissenschaftlicher, an Alltagserfahrungen orientierter Verfahren, künstlerischer Strategien und wissenschaftlicher Methoden« (6. These), »Alles kann Gegenstand der Forschung sein« (4. These) und »Ästhetische Forschung führt zu anderen Formen der Erkenntnis« (15. These). Als Ausgangspunkt bezeichnet sie, »eine Frage zu haben« (3. These).  Wie viel sich uns in einer Situation erschließt, hängt von unserer Fragekraft ab, unserer Kunstfähigkeit, gute Fragen zu stellen. Noch wichtiger als die einzelnen Fragen ist jedoch eine fragende Haltung.

... durch künstlerischen Ausdruck angenähert ...

Über künstlerische Methoden des nichtsprachlichen Gestaltens haben wir uns Antworten angenähert. Zur Kunst der Wahrnehmung haben wir uns von der Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt inspirieren lassen. In ihrem Artikel »Prädisziplinäres Gestalten im inneren Atelier« (Oya 32) schreibt sie: »Aktiv zu sehen bedeutet, das Sehen bewusst ›unscharf zu stellen‹, den Fokus herauszunehmen. Wenn ich die Werdekraft in einem Menschen oder überhaupt einem Phänomen sehen will, darf mein Blick nicht mehr scharf sein. Ich muss eher mit dem inneren Auge schauen: meine Wahrnehmung warm, weit, sanft machen, um mich so einem umfassenderen, dynamischen Ganzen anzunähern.«

Mit diesem Blick haben wir gemeinsam gekocht, uns ausgetauscht, am Feuer gesessen und versucht, ganz aktiv unscharf Stimmungen an Orten und in Lebensgeschichten zu erspüren. Durch eine Reihe von Bildern in einem Leporello haben wir Erlebtes intuitiv aufs Papier gebracht und so geschärft und sortiert. Dabei haben wir unsere Hände spürend über das Papier bewegt. Durch diese spontanen Sammlungen von Gesten konnten wir im Zurückschauen mehr erkennen.

Zum Abschluss der ersten Woche haben wir in der Abenddämmerung einen Gang mit Ton in den Händen unternommen. Gehend haben wir den Ton geformt und anschließend in der Gruppe geschaut, welche weiteren Eindrücke wir durch das Betrachten der entstandenen Formen hinsichtlich innerer Haltung in Gemeinschaft sammeln können. Unsere Formen waren überraschend, persönlich und verletzlich.

... und Prinzipien formuliert

Ziel unserer Forschungsreise war es, aus der gemeinsamen Erfahrung heraus eine Reihe von Prinzipien der inneren Haltung für das Gelingen von Gemeinschaft zu entwickeln. Nachdem wir in der ersten Woche unsere Eindrücke künstlerisch umgesetzt hatten, haben wir in der zweiten Woche unsere Erlebnisse in Gesprächsrunden und Schreibübungen reflektiert. Zum Abschluss unserer Reise haben wir 87 Qualitäten, Ausrichtungen bzw. Werte zum Gelingen von Gemeinschaft zusammengetragen. Um diese Einsichten so zu vermitteln, dass sie Freude machen, weil sie konkret anwendbar sind, haben wir uns von Michael Quinn Patton inspirieren lassen. In seinem Buch »Principle-Focused Evaluation« geht er darauf ein, wie der Erfolg von prozessorientierten Projekten reflektiert werden kann. Dafür schlägt er vor, Werte als Prinzipien umzuformulieren. In unserem Fall liegt es nahe, nicht von Handlungsempfehlungen, sondern von Haltungsempfehlungen zu sprechen. Hier ist unser erster Versuch, Prinzipien für eine innere Haltung zu formulieren:

Sei mutig, traue dich, dich zu zeigen und gesehen zu werden

»Verletzlichkeit ist der Kern, das Herz, das Zentrum sinnstiftender menschlicher Erfahrung.« (Brené Brown, Autorin)

Sich verletzlich zu zeigen, erfordert Mut. Erheblich einfacher wird das in entsprechend vertrauensvollen Räumen. Bereits ein simples Ritual wie ein Redekreis kann hilfreich sein. Auf unserer vorletzten Station, dem Bauwagenplatz Alt Ungnade, hat eine Frage gereicht, um am prasselnden Lagerfeuer so eine Runde einzuleiten: »Was beschäftigt dich gerade im Bezug auf Gemeinschaft?« Was folgte, war eine ehrliche Runde, bei der zum Teil auch die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft Neues von- und übereinander erfahren konnten.

Gemeinschaft erfordert solche Räume, in denen Menschen einander wirklich begegnen, wo Emotionen wie Frust, Ärger oder Angst sein dürfen und genauso Raum bekommen wie der Ausdruck von Lebendigkeit und Freude. Die leisen Stimmen sind dabei oftmals die wichtigsten.

Frage dich: Was hilft mir dabei, inneren Raum zu schaffen, um mich auf offenherzige, verletzliche Begegnung einzulassen?

Folge deiner Neugier, lasse dich auf Unbekanntes ein

»Neugier zeigt uns, dass wir etwas herausfinden wollen, was wir bisher noch nicht kannten. Sie ist der Startpunkt jeder Entdeckungsreise.« (Mary Alice Arthur, Geschichtenerzählerin)

Ohne Offenheit und Neugier gibt es kein Interesse an Begegnung. Bei einem langen Gespräch mit Markus, der seit zehn Jahren am Bauwagenplatz Alt Ungnade lebt, findet Anna heraus, dass Offenheit für ihn die Essenz für langfristig gelingendes Miteinander ist. »Offenheit ist das stärkste Mittel gegen Dogmatismus, Engführung, Gewalt und Faschismus, weil sie Kontakt ermöglicht, wo sonst nur Unverständnis wäre«, schreibt Florian, Teilnehmer der Tour.

Frage dich: Wie erfahre ich mehr über Personen, gegen die ich Vorurteile hege, weil ich zum Beispiel deren Blick auf die Welt nicht verstehe?

Akzeptiere, dass es ist, wie es ist. Denn nicht alles liegt in deiner Hand

»Es ist Unsinn, sagt die Vernunft. Es ist, was es ist, sagt die Liebe.« (Erich Fried, Dichter)

Anzuerkennen was ist, ist Voraussetzung für die Wahrnehmung von Realität,  dafür, sich selbst und andere zu verstehen, und dafür, handlungsfähig zu sein. Ehrlichkeit ist mitunter unangenehm, aber nötig, um Veränderungen erfolgreich zu gestalten.

Eine besondere Lektion in Demut war unser Besuch im Wangeliner Garten. Eigentlich hatten wir uns tolle Workshops und Führungen auf dem wunderschönen Gelände erhofft, auf dem wir zwei volle Tage zelteten. Leider hat es in dieser Zeit ununterbrochen geregnet; Leute sind krank geworden; die Führung ist ausgefallen. Wir haben das Beste daraus gemacht und die Tage in einer winzigen Küche verbracht – danach konnten wir die Sonnentage umso mehr schätzen. 

Frage dich: An welchen Punkten stehst du dir selbst im Weg, weil es dir schwerfällt, etwas anzunehmen, wie es ist?

Emotionale Hygiene: Nimm dir Zeit für Reflexion und Wertschätzung

»Was uns oft daran hindert, Pause zu machen, ist der Gedanke: ›Es ist nicht genug!‹«  (Luisa Kleine, Oya-Redakteurin)

Wie Luisa Kleine in der vergangenen Ausgabe (»Vom Ernten«) feststellte, tun viele Menschen sich schwer damit, innezuhalten und ihre Erfolge zu ernten. Ständiges Tun verhindert Integration und damit die Möglichkeit, zu lernen und sich zu verändern. Innerlich aufzuräumen und Ladung abzubauen, haben wir auf der Reise als »emotionales Zähneputzen« bezeichnet. Darunter fällt auch die Fähigkeit, Wertschätzung auszudrücken. Außerdem haben wir immer wieder gemerkt, wie schwer es ist, die vereinbarte morgendliche Reflexionszeit einzuhalten. Oft fiel es leichter, direkt zur nächsten Station weiterzufahren. Doch jedes Mal, wenn wir uns die Zeit zur Reflexion genommen haben, konnten wertvolle Erkenntnisse an die Oberfläche kommen und wirklich tiefer einsinken. 

Frage dich: Wie häufig hältst du am Tag inne?

Lerne, Widersprüche auszuhalten und mit Polaritäten kreativ umzugehen

»Balance ist nicht etwas, das du finden kannst – es ist etwas,
das du erschaffen musst.« (Spruch auf einem Yogi-Tee-Beutel unterwegs)

Leben in Gemeinschaft bringt immer Widersprüche mit sich. Ein Beispiel für eine Polarität, die sich oft auftut, ist die Frage nach Individualität und persönlicher Freiheit einerseits sowie echter, tiefer Bezogenheit – inwieweit man sich aufeinander einlässt – andererseits (Grad an Selbstfürsorge und Gruppenfürsorge).

Frage dich: Wann tragen Polaritäten zu Lebendigkeit von Gemeinschaft bei? Was unterscheidet fruchtbare Vielfalt von untragbarer Unterschiedlichkeit?

Bleibe dran! Höre nie auf, anzufangen!

»Aller Anfang ist schwer – jedes Durchhalten ist schwerer.«
(Ernst Reinhardt, Verleger)

Eine unserer ersten Feststellungen war: »Mit Menschen ist es nicht so einfach.« Das ist ja ganz allgemein so. Gemeinschaften stecken sich zusätzlich oft hohe Ziele: ein Miteinander, in dem sich alle wohlfühlen, biologische Selbstversorgung, politischer Aktivismus, ökologisches Bauen, ein Modellprojekt für eine gute Zukunft für alle zu sien – also nicht weniger als die ganze Utopie. Da ist es nicht verwunderlich, dass manche Ziele nicht erreicht werden. Dazu kommen die alltäglichen Enttäuschungen: Übersehen, überhört, gestritten. Trotzdem haben wir beeindruckende Beispiele kennengelernt, die zeigen, dass es sich lohnt dranzubleiben. Was dabei hilft, ist immer neu anzufangen, Wagnisse einzugehen, erste Schritte zu tun, zu scheitern, neu auszuprobieren. 

Frage dich: Was inspiriert dich, nach einer schlechten Erfahrung nicht aufzugeben, sondern es immer wieder zu probieren?

Gedanken zum Gelingen und Scheitern der feinen Forschungsreise

In unserer kleinen radelnden Gemeinschaft wurden durch das viele Unterwegssein, die unterschiedlichen Eindrücke und Reflexionsräume natürlich auch viele persönliche und gemeinschaftliche Prozesse angestoßen. Gern hätten wir diesen mehr Raum gegeben und auch die sich hierbei zeigenden Prinzipien gemeinsam geschöpft, aber es fehlte dafür schlicht die Zeit. Trotzdem haben wir das Gefühl, dass die festgehaltenen Prinzipien eine gute Grundlage für weitere Forschung und Auseinandersetzung zur inneren Haltung sind. Daraus ergeben sich viele neue Fragen. Was denkt ihr zu diesem Ansatz und zu den sechs Prinzipien? //


Mehr zur Tour, Texte und alle Forschungsfragen
ideenhochdrei.org/de/gemeinschaft-erfahren


Gerriet Schwen (25) liebt es, Gemeinschaften zu besuchen – auf Forschungsreisen, für Konfliktforschungswerkstätten und um Reallabore auf die Beine zu stellen.

Robin Dirks (29) beheimatet sich gerade im »Frau Holle Land« und lädt gern Menschen zum Teetrinken ein.

Hannah Geldbach (31) gestaltet gern Künstlerisches mit kleinen und großen Menschen in schwierigen Lebensphasen und trinkt am liebsten aus handgetöpferten Tassen.

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