Titelthema

Spielräume ausschöpfen

Menschen, die in Behörden und büro­kratischen Institutionen arbeiten, können einen gewaltigen Unterschied machen. Wir stellen zwei von ihnen vor.
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Nicht nur die Leute, die die Steuererklärung des Vereins, den Bauantrag für das Hausprojekt oder die Satzungsänderung in der Genossenschaftssatzung hüten, sitzen an Schnittstellen zwischen verschiedenen Logiken. Auch Menschen an Schreibtischen von öffentlichen Ämtern und büro-kratischen Institutionen befinden sich an einer solchen Schnittstelle – nur auf der anderen Seite des Tisches. Viele von ihnen leisten einen wichtigen Beitrag, damit Ideen aus Graswurzelprojekten in bestehende Strukturen integriert werden können. 

Auf der Suche nach Erfahrungen von Menschen, die in Institutionen oder öffentlichen Verwaltungen arbeiten, begegneten uns ganz unterschiedliche Erzählungen. Neben den Geschichten des geduldigen Gelingens, Menschlichkeit in Verwaltungsapparaten lebendig zu halten und die Spielräume des eigenen Ermessens auszunutzen, von denen wir auf den folgenden beiden Seiten erzählen, trafen wir auch auf Menschen, die nicht portraitiert werden wollten, weil sie sich die Zähne an verhärteten Strukturen in Behörden ausgebissen und frustriert ihre Schreibtischplätze verlassen hatten. Oftmals fehlten die Verbündeten, gerade wenn Menschen auf neu eingerichteten Stellen für frischen Wind in den Behörden sorgen sollten – im Klimaschutzmanagement, in der Wirtschaftsförderung 4.0 oder für Geschlechtergerechtigkeit. Wer als Vertretungsperson für ein solches Thema alleine in einem Verwaltungsapparat landet, kann als Einzelmensch leicht gegen Wände laufen, wenn der Rest der Institution nicht hinter der angestrebten Veränderung steht. Hilfreich ist es dann, während einer Stadtverordnetenversammlung den Gesang demonstrierender Leute vor dem Rathaus zu hören, sich in der Kaffeepause mit Gleichgesinnten auszutauschen oder auch eine abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe zu einem bestimmten Thema einzurichten, in der Hoffnung, dieses über zähes Einsickern an verschiedenen Stellen sichtbarer machen zu können. Die Kunst des Schnittstellenhütens beinhaltet auch, verschiedene Sprachen zu sprechen und sich nicht von dröger Amtssprache oder von der Aussage »Das können wir rechtlich einfach nicht machen« des 40 Jahre älteren Kollegen abschrecken zu lassen, sondern immer wieder nach neuen Spielräumen zu suchen.

Aber auch als Tätige in gemeinschaffenden Projekten können wir uns weiterbilden, um die ausgestreckte Hand auf der anderen Seite des Schreibtisches besser erkennen zu können: »Wir brauchen eine breite Alphabetisierung in Rechtssprache« glaubt der Jurist Johann Steudle, der sich in Netzwerken wie dem Mietshäusersyndikat oder dem Netzwerk Solidarische Landwirtschaft mit anderen juristisch Tätigen vernetzt und nach Möglichkeiten sucht, die vorhandenen Strukturen für Commons nutzbar zu machen. Auch Silvia Hable, die in Witzenhausen für die Bunte Liste im Stadtparlament sitzt, meint: »Als transformative Bewegung haben wir uns viel zu wenig in die Gesetzes-texte eingelesen und das Verständnis dafür verloren, wie sich auf Verwaltungsebene Dinge verändern lassen. Diese Sachen sind dröge, aber sie helfen, sprechfähig zu sein und ernstgenommen zu werden.« Damit noch viele Hände über den Schreibtisch hinweg geschüttelt werden können.


Wir brauchen mehr Beziehungen

Sophie Kühling bringt in der Industrie- und Handelskammer Menschen zusammen, die Wandel voranbringen wollen.


Aufgeregt bin ich, als ich Dr. Sophie Kühling zum ersten Mal anrufe. Ob ich wohl seriös genug klinge für die Frau von der Industrie- und Handelskammer (IHK)? Ich möchte sie einladen zur »Langen Woche der Nachhaltigkeit« in Halle. »Alles gute Ideen«, sagt sie, »aber eine Teilnahme für die IHK viel zu kurzfristig«. Kurze Zeit später sitzen wir während einer Konferenz nebeneinander, erkennen unsere Namen und lernen uns kennen – ich, freiberuflich und aktiv in verschiedenen Wandelinitiativen in Halle, sie, angestellt bei der IHK Halle-Dessau als Referentin für Innovation, Technologietransfer und Digitalisierung. Sophie erzählt von Wirtschaftsveranstaltungen und ich von zivilgesellschaftlichen. Es scheinen unterschiedliche Welten zu sein, die doch Ähnliches wollen, und wir sind uns einig: »Die müssen mal miteinander reden!« Drei Jahre ist das her, und seitdem ist viel passiert in Halle. Sophie hat das Netzwerk »Nachhaltigkeit in der Wirtschaft« gegründet. Für dieses Portrait frage ich sie nach ihren Erfahrungen als Schnittstelle.

»Ich mag es, Zusammenhänge zu verstehen« sagt die gelernte Biologin, die über Umwege zur IHK kam. Einige Jahre arbeitete sie dort – bis sie unzufrieden wurde und den Sinn hinterfragte. Sie begann, sich mit Nachhaltigkeit im Alltag und in der Wirtschaft zu beschäftigen. Intensiv arbeitete sie sich in diese Themen ein und stellte fest: »Wir brauchen nicht noch mehr Informationen, wir überzeugen nicht mit Argumenten, wir brauchen Beziehungen!«

In der IHK galt Nachhaltigkeit damals noch als Thema von Ökoheinis. Sophie musste es gut verpacken, um daran weiterarbeiten zu können. Sie organisierte »Innovationsworkshops« und lud dazu Vertreterinnen und Vertreter aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung ein. Das Interesse war groß. Immer mehr wollen am Netzwerk teilnehmen und die verschiedenen Sichtweisen und Aktivitäten in der Region kennenlernen. Ihr wurde deutlich, dass für eine wirklich nachhaltige Wirtschaft viele zusammenwirken müssen. So entstand das regionale Netzwerk »Nachhaltigkeit in der Wirtschaft«. Es soll Beziehungen ermöglichen und Freiräume schaffen zum Ausprobieren, eine Art Spielplatz für Ideen. Dafür ist es dem Kernteam wichtig, unabhängig zu sein von Fördermitteln. Offen soll das Netzwerk sein, niedrigschwellig und wenig Ressourcen brauchen. Alle tragen bei, was sie können.

Momentan finden vor allem Online-Netzwerktreffen statt. Themen sind regional-nachhaltige Lebensmittelversorgung, Pyrolyse von Biomasse zur Bodenverbesserung auf kommunalen Flächen, Strohballenbau, Lieferketten, Wasser, regionale Kreislaufwirtschaft oder Biodiversität. Neben Impulsvorträgen geht es um das Kennenlernen, es gibt digitale Kaffeerunden und Thementische. Hier treffen sich die Biobäckerin mit dem Fachbereichsleiter der Landesenergieagentur, eine Angestellte der Stadtverwaltung mit einer Hochschulvertreterin, die auch Klima-Aktivistin ist – und deutlich wird dabei, dass es »die Wirtschaft« oder »die Wissenschaft« gar nicht gibt. Auch Unternehmerinnen oder Verwaltungsangestellte sind »Zivil-gesellschaft«.

»Kategorien hindern am Denken«, sagt Sophie. Es gehe darum, den ganzen Menschen hinter seinen Rollen und Aufgabenbeschreibungen zu erreichen. Ich frage, was es dafür braucht, im Spannungsfeld zwischen der Bürokratie und dem, was alles möglich wäre und nötig ist. Sophie erzählt von ihrem Chef, der ihr mittlerweile viele Freiheiten lässt, solange sie ihre anderen Aufgaben schafft. Es gehe auch darum, Mut zu finden, für die eigene Meinung einzustehen, und Verantwortung zu übernehmen. Dabei helfe es, zu wissen, dass es noch andere Menschen gibt, die ähnlich denken. »Wenn ich sage, das Fraunhofer Institut und die Hochschulen sind auch dabei, macht das gleich einen anderen Eindruck.« Oft braucht es Übersetzung in die jeweils andere Lebenswelt. »Es geht darum, herauszufinden, was das Gegenüber bewegt. Was sind seine Gründe? Wie können wir einander verstehen?«

Ich erzähle ihr, wie froh ich bin, dass es Menschen wie Sophie an solchen Stellen gibt – Menschen, die ihre Spielräume nutzen und ausweiten. Da wird sie nachdenklich: »Ja, und gleichzeitig bin ich hier nicht der private Mensch, der ich eigentlich bin. Ich muss mich immer anpassen.« 

Und ich merke, dass ich durch das Private, das Kennenlernen der »Frau von der IHK« mutiger geworden bin beim Ansprechen von Menschen in Verwaltungen und anderen bürokratischen Institutionen.   Anna von Gruenwaldt


Gleichzeitig menschlich bleiben

Hilde Schubert (Name durch die Redaktion geändert) findet im Jobcenter manchmal konkrete Lösungen jenseits der Amtslogik.


»Ich möchte Sie nicht quälen, gängeln oder drangsalieren, sondern Sie in einem persönlichen Gespräch kennenlernen und mit Ihnen über Möglichkeiten Ihrer beruflichen Zukunft sprechen«, schrieb mir die Sachbearbeiterin Hilde Schubert, als ich vor drei Jahren für einige Zeit auf den Bezug von Hartz IV beim Jobcenter angewiesen war. Nach Erfahrungen mit Behörden, die meine Vorurteile über einen wenig menschlichen Umgang in Amtsstuben bestätigten, ließ mich diese Mitteilung aufmerken. Auch das erste und einzige persönliche Kennenlernen vor Ort irritierte mich fast, weil es auf eine ganz selbstverständliche Weise von einer wertschätzenden, empathischen und zugewandten Atmosphäre geprägt war, die ich dieser bürokratischen Institution nicht zugetraut hatte. »Ich betrachte den Menschen immer ganzheitlich«, hatte Hilde Schubert mir damals auf meine verdutzte Nachfrage geantwortet. Bis heute steht sie hinter dieser Haltung, und ihr Beruf macht ihr Freude, weil sie Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – in eine existenzielle Notlage geraten sind, mit ihrer Begleitung helfen kann. Dabei strahlt sie eine gelassene Zuversicht aus. 

»Natürlich ist es immer wieder eine Herausforderung, den Ansprüchen meines Arbeitgebers zu entsprechen und gleichzeitig menschlich zu bleiben«, erzählt die heute 64-jährige. Wichtiger als das Ausfüllen von Listen ist ihr die konkrete Hilfe für Menschen. Manchmal kann es auch erforderlich sein, Lösungen zu finden, die nicht der Verfahrenslogik des Amts entsprechen. So erinnert sie sich an eine Geschichte, bei der ein junger Auszubildender aus schwierigen sozialen Verhältnissen aufgefordert war, für den Unterhalt seiner Mutter und seines Stiefvaters aufzukommen, weil er mit ihnen noch in einem Haushalt wohnte: »Es gibt diese Regelungen zum Einkommen bei gemeinsamen Haushalten«, erzählt sie, »aber wie hätte es diesen jungen Menschen demotiviert, der es trotz widriger Verhältnisse geschafft hatte, einen stabilen Berufsweg einzuschlagen, und nun sein erstes selbstverdientes Geld wieder abgeben sollte? Also habe ich mit meiner Kollegin überlegt, was wir tun können, und wir haben uns entschieden, ihn bei der Suche nach einer eigenen Wohnung zu unterstützen.« Besonders schön ist es dann für Hilde Schubert, wenn sich im Dank ihres Gegenübers das Gelingen der Zusammenarbeit ausdrückt. 

Immer wieder im Lauf unseres Gesprächs versuche ich, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, wie ihr diese offene Haltung an einem von starrer Verwaltung geprägten Ort gelingt. Vielleicht – so mutmaße ich – ist es der Reichtum vieler verschiedener Lebenserfahrungen, die Hilde Schubert vor dieser Tätigkeit bereits gemacht hat. Für das Jobcenter ist sie seit 2005 tätig. Zuvor hat sie als Schriftsetzerin, Reiseverkehrskauffrau und Kellnerin gearbeitet. Die Suche nach einem Job, der besser mit ihrem Familienleben vereinbar war, führte sie in den öffentlichen Dienst. 1989 begann sie, noch in der DDR, im Rahmen einer Förderung für Frauen und Mütter ein Ökonomiestudium. »Als Mutter von drei Kindern war ich damals auf der Suche nach einem sicheren Job«, erinnert sie sich. Mit der Wende wurde der Titel ihres Studiums umbenannt in »Betriebswirtschaftslehre«. Hilde Schubert absolvierte das Abendstudium neben ihrer Arbeit im Sozialamt. Wenig später kam noch ein Studium zur Verwaltungsfachwirtin hinzu. Mit Einführung des Arbeitslosengeldes II wurde sie Anfang der 2000er Jahre für das neu entstandene Jobcenter abgeordnet. Sie erzählt: »Die ersten zehn Jahre war ich für die 15- bis 25-Jährigen zuständig. Das hat mir große Freude gemacht, aber dann wollte ich etwas anderes tun, um nicht ›betriebsblind‹ zu werden. Seitdem betreue ich Selbstständige und finde es sehr interessant, wie verschieden die Menschen sind.«

Die Auseinandersetzung mit bürokratischen Strukturen kennt sie von beiden Seiten: »Natürlich mache auch ich Erfahrungen mit Ämtern, die nicht erfreulich sind. Und obwohl ich nicht die Abläufe anderer Behörden kenne, kann ich doch einschätzen, ob jemand Handlungsspielräume hat, die sie oder er nicht nutzt. Wenn jemand ganz offensichtlich nur Dienst nach Vorschrift macht, fällt es mir manchmal schwer, freundlich und offen zu bleiben«, sagt sie. Gerade unterstützt sie ihr viertes Kind – ein aufgenommenes Pflegekind – dabei, Berufseinstiegshilfe zu beantragen. »Das betreffende Amt möchte zum wiederholten Mal Dokumente von mir haben, von denen ich weiß, dass sie einer benachbarten Abteilung bereits vorliegen. Dass es anscheinend intern nicht möglich ist, sich diese zu besorgen, sondern stattdessen Kopien angefordert werden, frustriert mich.«

In der eigenen Behörde arbeitet sie mit vielen verschiedenen Menschen zusammen, die – so wie sie – andere beraten. Nicht alle begegnen ihren Gegenübern dabei mit der gleichen Offenheit. Ein Austausch über die unterschiedlichen Haltungen bei der Begleitung von Menschen findet selten statt, könnte aber hilf- und lehrreich sein – nicht zuletzt auch dann, wenn sich Expertisegremien für die Weiterentwicklung der Arbeit im Jobcenter zusammenfinden und diejenigen, welche die tägliche Betreuungsarbeit leisten, in Neuerungen nicht einbezogen werden. »Wir wissen am besten, was gebraucht wird«, sagt Hilde Schubert. »Änderungen haben in den letzten Jahren meist noch mehr Bürokratie geschaffen und verbessern doch nicht den relevanten Kern einer sinnvoll strukturierten und zugewandten Begleitung von Menschen.« Beispielsweise findet sie es schade, dass der regelmäßige Wechsel in der Beratung so starr organisiert ist und dass gewachsene förderliche Vertrauensverhältnisse nicht berücksichtigt werden. Ein Lichtblick war eine vor zwei Jahren organisierte Supervision, bei der sich das Kollegium in einem gehaltenen Rahmen austauschen und auch mehr kennenlernen konnte. Menschen, die Kontakt zu einem Amt aufnehmen müssen, rät sie, mit der Haltung heranzugehen, dass die in der Behörde Arbeitenden nichts Übles, sondern etwas Gutes wollen. Wenn der Kontakt doch einmal unerfreulich ist, könne es helfen, sich daran zu erinnern, dass das Gegenüber nur seine Arbeit macht. Es ist gut, dann ruhig zu bleiben, und bei den Dingen, die unverständlich sind, um eine Erklärung zu bitten.  Maria König

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