Titelthema

Schnittstellen hüten

Warum gut gepflegte Kontaktzonen zwischen Orten des ­Gemeinschaffens und bürokratischen Institutionen wichtig sind – und was Zaubermäntel damit zu tun haben.von Andrea Vetter, Luisa Kleine, Tabea Heiligenstädt, erschienen in Ausgabe #68/2022
Photo

Für jeden Fall gibt es ein passendes Formular und für jedes Formular einen passenden Fall. »Fall« bedeutet hier »Mensch«, und jeder Mensch ist eine Nummer im System staatlicher Ordnung, ein Rädchen im Getriebe der Megamaschine. Für jeden Fall gibt es eine passende Anstalt. Und so bewegen sich Menschen hierzulande von der Wiege bis zur Bahre in Anstalten: Krankenhaus, Kindergarten, Schule, Ausbildungsstätte, Arbeitsplatz, Seniorenheim, Friedhof. Für jede Anstalt gelten eigene Verordnungen und zusammen ergeben diese ein umfassendes Regularium, eine umfassende, die Gänze des Lebens reglementierende Anstaltslogik (siehe »Verbundenes Tätigsein«, Oya 48).

Diese Anstaltslogik ist das Produkt einer bürgerlichen, marktwirtschaftlich versorgten Gesellschaft mehr oder weniger isoliert lebender Individuen oder Kleinfamilien. Eine andere Logik – nämlich die des Commonings, des Gemeinschaffens – wirkt in selbstverwalteten Zusammenhängen, in denen Menschen lebendige Visionen des Zusammenwirkens »jenseits von Markt und Staat« (Elinor Ostrom) in die Welt bringen.

Staatliche Strukturen dulden kein Jenseits

Doch was bedeutet »jenseits von Markt und Staat« wirklich? Staatliche Strukturen dulden kein Jenseits, sondern ihre juristischen Formen erzwingen eine Teilnahme. So müssen sich auch gemeinschaffende Projekte in bestehende Rechts- und Verwaltungsstrukturen eingliedern – Projekte müssen sich das Kleid dieser oder jener Rechtsform überziehen; müssen Steuererklärungen machen; Fördermittel abrechnen, ohne die gemeinsinn-stiftende Projekte nicht zu realisieren wären; sich mit dem Bauamt über die Bewilligung und Abnahme von Gebäuden und mit dem Vereinsregister über Satzungsänderungen auseinandersetzen. An diesen Punkten überlappen sich Felder, in denen unterschiedliche Logiken am Werk sind: Gemeinschaffende treffen auf die Ausführenden staatlicher Verwaltungsvorgaben, Anstaltslogik trifft auf Selbstorganisation. Dazu kommt, dass die meisten Gesetze und Bestimmungen für 1,99-Personen-Haushalte gemacht worden sind, nicht jedoch für 20- oder 30-köpfige Gemeinschaften, für Mitgliederläden oder selbstverwaltete Kindergärten.

Damit diese so verschiedenen Felder und Logiken ineinandergreifen können, muss es Berührungspunkte und Kontaktflächen geben – »Schnittstellen«, an denen das eine dem anderen begegnen kann. Die Laptops, auf denen wir diesen Text schreiben, sind etwa ausgestattet mit Steckplätzen und Buchsen, über die wir Kopfhörer, Lautsprecher, Computermaus, externe Speichermedien oder einen Beamer anschließen können.

In Gemeinschaften müssen soziale Schnittstellen »gebaut« werden, um die Logik des Gemeinschaffens mit der Behördenlogik kompatibel zu machen. Zum einen bestehen diese Schnittstellen aus konkreten Personen, die, meist an einem Schreibtisch sitzend, Anträge formulieren, Excel-Tabellen ausfüllen, Kostenabrechnungen kalkulieren, Überweisungsvorgänge buchen, aber auch die Ortsvorsteherin anrufen, zum Empfang des regionalen Wirtschaftsförderers gehen oder bei einem Videodreh für eine Crowdfunding-Kampagne auftreten. Zum anderen bestehen diese Schnittstellen aus juristischen Konstrukten, die bedient werden wollen: jährliche Mitgliederversammlung von Genossenschaften, Vereinsregistereintrag, Steuererklärung, Buchhaltung usw. Das Medium (Papier, binärer Code) wird dabei von der staatlichen Verwaltung vorgegeben: » … ist in Schriftform einzureichen«.

Wir haben uns in dieser Ausgabe gefragt, wie Projekte einen lebendigen Umgang mit und an diesen Schnittstellen finden. In einem Mosaik aus Stimmen verschiedener Menschen, die Schnittstellen hüten, haben wir gesammelt, welche Methoden, Haltungen, Rituale und Muster dabei relevant sein können (Seite 30 und 54). All diese Verwaltungstätigkeiten sind Sorge-arbeiten am gemeinsamen Projekt.

Wenn Projekte des Gemeinschaffens »Halbinseln gegen den Strom« (Friederike Habermann) sind, dann hat jede von ihnen eine Verbindung zum Festland – eine Schnittstelle. Und dieser Übergang will gut gehütet und mit Schleusen versehen sein.

Robin Dirks hat sich für uns fotografierend auf die Suche nach Schreibtischen gemacht, an denen Menschen Schnittstellen in gemeinschaffenden Zusammenhängen hüten. Er begegnete Menschen, die alle auf ihre ganz eigene Weise mit diesem Tätigkeitsfeld umgehen, und sprach mit ihnen darüber, wie es ihnen an diesen Orten geht (siehe Seite 69).

Menschen, die an der Schnittstelle zur Bürokratie arbeiten, bedürfen des Schutzes und der Sorge, um nicht einzugehen oder verrückt zu werden. Sie brauchen Wasser, Pflege, Musik und Umarmungen. Schnittstellenhütende sind Wandlungswesen. Sobald es von ihnen verlangt wird, verwandeln sie sich in Papiertiger, die Paragrafen verstehen und akribisch genau Tabellen ausfüllen. Sie können große Visionen in ein kompaktes Tausend-Wörter-Format des Fördermittelantrags komprimieren und so übersetzen, dass mitunter selbst Verwaltungsangestellte anfangen zu träumen. In dem Moment, an dem die Schnittstellenhütenden das Büro verlassen, verwandeln sie sich bestenfalls wieder zurück in sinnlich erfahrende Menschen aus Fleisch und Blut. Diese Wandlungen sind jedoch höchst komplexe Zauber, die uns einiges an Wachsamkeit abverlangen. Am besten lernt gleich eine ganze Gemeinschaft oder Umgebung diesen Zauber und nimmt den Hütenden den papiernen Zaubermantel sachte ab, wenn sie einmal vergessen haben, ihn abzulegen.

Bürokratisches Denken in uns selbst

Widersprüche, die sich aus verschiedenen Logiken ergeben, finden sich nicht nur im Außen, sondern auch in unserer Mitte. Die Art, wie wir uns organisieren, lässt in unseren Projekten zum Teil dieselben gelernten Muster von Verwaltungsdenken, Kontrolle und Zwang aufleben, die sich auch in staatlichen Bürokratien finden. Die Bürokratie hat sich als inkorporierter Staat tief in unser Denken, in unsere Körper und somit auch in unsere Kollektive eingepflanzt. Das kommt nicht von ungefähr – schon in der Grundschule werden kleine Leute dazu erzogen, in bürokratischen Umgebungen zu funktionieren: präzises Arbeiten nach der Uhr bis zum Läuten der Glocke, saubere und ordentlich datierte Heftführung, das Ausfüllen von Unmengen formularartiger Arbeitsblätter, das Punktesammeln in einem abstrakten Bewertungssystem usw.

In dieser Ausgabe erzählen Menschen, die in der Absicht, freieres, verbundeneres Lernen zu ermöglichen, Schulen in freier Trägerschaft gegründet haben, von ihren Erfahrungen (Seite 50). Auch diese Lernorte sind Schnittstellen, die mit Ministerien, Ämtern und Behörden verzahnt sind. Durch die staatliche Legitimierung wird eine freie Schule zur Erfüllungsgehilfin des Staats, die in dessen Auftrag die Schulpflicht und den Schulanwesenheitszwang umsetzt. Dass diese Erfüllungsgehilfen die freundlichen Gesichter wohlmeinender Lernbegleiter tragen, macht die Sache nicht einfacher. Umso wichtiger ist es, dass sich alle Beteiligten dieser Zusammenhänge bewusst sind – ansonsten verlagern sich Konflikte, die systemischer Art sind, auf die persönliche Ebene.

Amtssprache und Verantwortungsabgabe

Wie ist es möglich, bürokratisches Denken wieder zu verlernen und auf die Kraft lebendiger Beziehungen zu vertrauen? In dieser Ausgabe denken wir darüber nach, auf welche Weise wir uns im Plenum versammeln, Entscheidungen treffen und Konflikte lösen können (Seite 60). Aber auch der sensible Punkt, wie Menschen in gemeinschaffenden Projekten aufgenommen oder aus diesen wieder ausgeschlossen werden, nehmen wir unter die bürokratie-kritische Lupe (Seite 36). Bei der wichtigen Frage, wer drinnen und wer draußen ist, reproduzieren Gruppen manchmal büro-kratische Muster von Zugehörigkeit und verfassen verkopfte Grundsatzpapiere, anstatt einander beim Kuchenbacken, beim Gärtnern oder beim gemeinsamen Träumen kennenzulernen.

Über die Frage, wie wir lebendige Vereinbarungen treffen können, ohne uns zu verregeln oder in der Tyrannei der Strukturlosigkeit zu landen, sprachen Luisa Kleine und André Vollrath mit der Prozessbegleiterin Miki Kashtan (Seite 44). Im Gespräch wird auch die »Amtssprache« genannt, die ein wesentliches Merkmal bürokratischer Prozesse ist. Der Begriff »Amtssprache« wurde durch die Philosophin Hannah Arendt im Zuge des Prozesses um Adolf Eichmann 1961 bekannt. Eichmann, bürokratischer Funktionär während der Nazi-Herrschaft, wurde 1961 in Israel als einer der Organisatoren des Holocausts angeklagt, für schuldig befunden und zum Tod verurteilt. Eichmann selbst betonte immer wieder, er sei unschuldig, da er nur auf Befehl gehandelt habe. Der Begründer der Methode der »gewaltfreien Kommunikation«, Marshall Rosenberg, nahm den Begriff der »Amtssprache« in seine Theorie auf und erklärte damit, wie durch Sprache Verantwortung abgegeben werde: »Das macht man so«, »Ich musste es tun«, »Befehl von oben«, »Ich hatte keine Wahl«, »Ich hatte keine Zeit, mich der Angelegenheit anzunehmen« sind bürokratische Floskeln, die die Verantwortung des einzelnen Menschen verschleiern und organisierter Verantwortungslosigkeit den Weg ebnen.

Das Versprechen der Bürokratie 

Wie aber ist Bürokratie überhaupt entstanden? Die erste Schrift, von der wir wissen, entstand vor 6000 Jahren zwischen Euphrat und Tigris und wurde genutzt, um Listen zu führen – Verwaltungslisten: über Schulden, Schweine und Getreidemaße. Die Entstehung von Schrift ist also eng mit der Entstehung von Büro-kratie verbunden – ohne Schrift keine Bürokratie. Die Umkehrung gilt jedoch nicht, denn es gibt durchaus Schriftsysteme, die zur Aufzeichnung von Geschichten und Heldenepen genutzt wurden, nicht aber zu bürokratischen Zwecken.

Der Anthropologe David Graeber (1961–2020) unterschied zwischen »bürokratischen Gesellschaften« und »heroischen Gesellschaften«, die in Eurasien jahrtausendelang als gegenseitige Abschreckungsfolie dienten: Auf der einen Seite die unzivilisierten Barbaren, die die Schrift ablehnten, anti-bürokratisch waren und sich politisch um charismatische kriegerische Anführer scharten. Sie unternahmen permanent Raubzüge und lebten nomadisch oder in dörflichen Strukturen. Auf der anderen Seite bürokratische Gesellschaften – etwa das alte Ägypten, das chinesische Reich oder die griechischen Stadtstaaten –, die berechenbare bürokratische Institutionen und Verwaltungsapparate pflegten und unregulierte Gewalt durch ein staatliches Gewaltmonopol einhegten.

Auf der Ebene von Mythen und Geschichten tauchen die beiden Gesellschaftsformen bis heute auf: Einerseits gibt es büro-kratische Mythen – so stellte Augustinus die Hierarchie der Engel als eine Art himmlische Bürokratie dar; in der modernen Esoterik wird der spirituelle Aufstieg als Stufenmodell dargestellt; und »integrale Theorien« wie »Spiral Dynamics« beschreiben die menschliche Entwicklung, auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene, in bürokratischer Manier als fortschreitende »Karriere«, analog zu den Besoldungsstufen im öffentlichen Dienst. Anderer-seits gibt es heroische Mythen – etwa das ewige Heldengerangel im griechischen Götterpantheon oder die mittelalterlichen Parzival-Epen –, die heute in modernen Fantasy-Geschichten wie »Der Herr der Ringe« und den dazugehörigen Filmen und Computer-spielen wiederkehren.

Das Heraufbeschwören der Gefahr kriegerischer Heroik wird auch in diesen Zeiten häufig als Argumentationsfolie für eine vermeintlich friedlichere, zivilisierte Welt der lückenlos verwalteten Nationalstaaten angeführt: »Seht her, was passiert, wenn das kriegerische Ego nicht bürokratisch eingehegt wird – dann gibt es Warlords, permanente Kämpfe und Krieg.« Da ist es schon besser, die subtile Gewaltandrohung zu akzeptieren, seiner Freiheit in einem steinernen, eingezäunten Haus mit vergitterten Fenstern auf Zeit beraubt zu werden, weil mensch sein Steuerformular inkorrekt ausgefüllt hat, als Gefahr zu laufen, auf offener Straße erschossen, von marodierenden Banden gekidnappt oder von Aufständischen mit selbstgebauten Bomben beworfen zu werden. Das Problem an dieser binären Erzählung ist nur, dass sie alle dritten, vierten, fünften und viele weitere Möglichkeiten gesellschaftlicher Organisation und Erzählung ausblendet, weil sie der Grunderzählung patriarchaler Herrschaft, die in beiden Formen enthalten ist, nichts entgegensetzt.

Das Land jenseits patriarchaler Geschichten

Was aber wäre, wenn wir uns klarmachen würden, dass jenseits von Bürokratie und Heldentum ein weites, fruchtbares Land liegt, das Land der commonischen Selbstorganisation (siehe Oya 55 und 56), das Land matriarchaler Verwandtschaftsverhältnisse (siehe Oya 61 und 62), das Land queerer Wahlverwandtschaften und nicht-binärer Geschlechterordnungen, das Land der Sorge füreinander und für den Flecken Erde, dem ich mich zugeeignet (Seite 7) habe?

Interessant an den weiten Ländern jenseits der patriarchalen Binaritäten ist, dass sie nicht irgendwo hinter dem Horizont existieren – sobald wir vor unsere Haustür gehen, können wir sie betreten. Dort, hinter dem immerzu entfernten Horizont, liegt das Land der Utopie: der verregelten, stets perfekt austarierten Gesellschaft, die jedem Menschen soundsoviel Quadratmeter Land und soundsoviel Scheffel Getreide zuteilt; auch das Land der Abenteuergeschichten und der Dystopie, wo bewaffnete marodierende Banden in den Ruinen zerfallener Ordnungen Jeder-gegen-Jeden spielen.

Was macht die Utopie der Regeln hinter dem Horizont so attraktiv? Bürokratie birgt das Versprechen von Gerechtigkeit – gegen Korruption, organisiertes Verbrechen, gegen Faulheit. Wie aber soziologischen Studien zeigen, ist es ein Irrtum anzunehmen, dass diese bürokratische Gerechtigkeit tatsächlich existiert: Arme Menschen oder Menschen, die rassistisch diskriminiert werden, landen überproportional oft im Gefängnis; gut bezahlte Anwälte schaffen es oft, die Vergehen reicher Menschen nichtig aussehen zu lassen; Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss landen leichter in Führungspositionen.

Interessanterweise fordern viele soziale Bewegungen ein, dass diese von der Bürokratie postulierte Gleichheit auch wirklich hergestellt werde. Seltener sind Bündnisse, die die völlige Abschaffung von anstaltslogischen Institutionen wie Gefängnissen fordern. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, aus der Anstalts-logik zu desertieren? Was wäre, wenn niemand mehr mitmachen würde, niemand mehr Formulare ausfüllte und alle Verwaltungsangestellten sagen würden: »Ich möchte lieber nicht«? (Seite 49)

Commons und Bürokratie auseinanderhalten

Hier, direkt neben meiner Haustür, liegt jedoch die Möglichkeit, mit meiner Nachbarin in eine Beziehung zu treten, mit befreundeten Menschen einen Mitgliederladen zu gründen oder in meinem Haus ein Mai-Ritual zu etablieren. Und hier, direkt neben meiner Haustür, liegt möglicherweise auch die Aufforderung, patriarchaler Übergriffigkeit mutig und entschlossen entgegenzutreten – mag sie in Form bürokratisch organisierter Ausbeutung geschehen, wie beim rechtlich abgesicherten Kohlebergbau (siehe Seite 12), oder als Krieg über uns kommen, wie es aktuell in der Ukraine geschieht.

Was bedeutet das für Gerechtigkeit in gemeinschaffenden Strukturen? Möglicherweise liegt hier das Potenzial, ein weiteres Muster des Commoning (siehe Seite 9) zu schöpfen. Neben dem Muster »Commons und Kommerz auseinanderhalten« könnte ein Muster auch heißen: »Commons und Bürokratie auseinanderhalten«. Unterformen dieses Musters könnten heißen »Bewahre und erneuere Spielfreude und Lebendigkeit« oder »Erkenne und stoppe Prozesse von Zergliederung und Auslagerung« oder auch »Verhindere Erstarrung und Überregulierung«. Das heißt freilich nicht, dass gemeinschaffende Orte ohne Regeln wären – eine Frage, die der Commons-Forscherin Silke Helfrich (1967–2021) in ihrem letzten Buch »Frei, fair und lebendig« stellte, lautet »Wie gestalten wir angemessene und wandlungsfähige Regeln?«

Trickster werden

Silke Helfrich wurde oft danach gefragt, was eigentlich Commons von der Mafia unterscheide. Das ist eine gute Frage, bei der es darum geht, den Unterschied zwischen Organisationsform und Werten, zwischen Mitteln und Zwecken deutlich zu machen. Selbstverständlich sind die Geringschätzung gegenüber dem Leben und die patriarchale Organisationsform der organisierten Kriminalität ein großes Problem! Die Mafia ist aber nicht deshalb problematisch, weil sie sich jenseits des Staats organisiert, -sondern weil sie im Kern staatsähnliche, hierarchische und bürokratische Strukturen samt Verantwortung abweisender Amtssprache reproduziert. Wer Commons mit Mafia gleichsetzt, steckt schon wieder in der patriarchalen Geschichte des Helden gegen den Sachbearbeiter und verkennt die Möglichkeit der dritten, vierten, fünften, vielen Organisationsformen.

Beziehungen über Gesetze zu stellen und Informalität an- und ernstzunehmen, kann auch eine Trickster-Logik im Dienst der Lebendigkeit sein, die arme Menschen, Bäuerinnen und Herumtreiber seit Jahrhunderten verbindet. In der Logik des Tricksters geht es darum, unter dem Radar der staatlichen Argusaugen zu bleiben und die eigene Existenz nicht völlig verwaltbar zu machen. In vielen gemeinschaffenden Projekten sichern Trickster-Logiken die Existenz: Menschen tun so, als seien sie verwaltbar und hätten eine bestimmte Meldeadresse, aber eigentlich wohnen sie im Bauwagen auf einer Industriebrache – wo ein Mensch sich aber nicht mit Wohnsitz melden darf. Menschen beantragen Fördergelder und zahlen Honorare an befreundete Menschen aus, für Workshops, die nie stattgefunden haben. Das Geld, das dabei fließt, macht es der Gemeinschaftskasse möglich, Nahrungsmittel einzukaufen … Vielleicht ist es an der Zeit, politisch nicht absolute abstrakte Gerechtigkeit in einem perfekten Regelwerk zu fordern, sondern die Trickster und ihre Tricks zu feiern.

Dabei bewegen wir uns auf dem schmalen Grat, einerseits bürokratische Strukturen nicht zu ernstzunehmen und manchmal auch ein Stück weit zu ignorieren, und uns andererseits bewusst zu sein, dass wir in bürokratische Strukturen eingebunden sind – und dass die meisten von uns im Ernstfall wohl Polizei oder Gericht anrufen würden, wenn ihnen Unheil widerfahren ist.

Damit sind wir wieder bei den Schnittstellen angekommen und bei ihren vielen Formen, mit der Bürokratie zu tanzen, bürokratische Logiken jeden Tag ein wenig auszuweiten, die Normalität ein Stück weit zu verschieben und eine commonische Welt innerhalb unserer eigenen Projekte vorauszulieben. Wir werden niemals in Gänze verwaltbar sein. Welch ein Glück! //

weitere Artikel aus Ausgabe #68

Photo
von Ulrike Meißner

Wie geht permakulturelle Siedlungsplanung?

Ehemals große Gärten alter Häuser werden bebaut, ehemalige Gärtnereiflächen in den Randbereichen von Städten und Dörfern mit Einfamilienhaussiedlungen »bestellt«. – Schaue ich mir das Baugeschehen der letzten Jahrzehnte in den Städten

Photo
von Heike Pourian

Schuld und Scham zwischen den Generationen

Tabea Heiligenstädt  Ich begann, über Generationen nachzudenken, als ich für einige Monate in einer altersgemischten Gemeinschaft lebte. Viele der Menschen, mit denen ich dort kochte, herumblödelte, tanzte und denen ich mich anvertraute, waren so alt wie meine

Photo
von Nesrin Caglak

Randzone Stadtrand

Mit seinem wunderbaren, 2018 (bislang leider nur auf Englisch) erschienenen Buch »RetroSuburbia« richtet sich Permakulturpionier David Holmgren vor allem an ein lokales Publikum in Südaustralien, wo sich die meisten der beschriebenen Beispiele sowie Holmgrens Farm Melliodora

Ausgabe #68
Schnittstellen hüten

Cover OYA-Ausgabe 68
Neuigkeiten aus der Redaktion