Titelthema

Action-Spektakel oder Mahnmal?

Jochen Schilk fragt sich, wie der Kino-Megaerfolg »Avatar« zu deuten ist.von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #2/2010

Im vergangenen Vierteljahr haben weltweit um die 200 Millionen westliche Menschen einen Blickwinkel eingenommen, der, genau genommen, an den Grundfesten der derzeit noch vorherrschenden Kultur rüttelt: Dank modernster Kinotechnik ist es seit Dezember 2009 möglich, sich in die Mitglieder eines von der zerstörerischen Seite der Zivilisation bedrohten, fiktiven Waldvolks hineinzufühlen und einen kleinen Eindruck davon zu erheischen, was es heißt, innige Verbundenheit mit allem Lebendigen zu pflegen. Die meisten Zuseher erleben »Avatar« jedoch vermutlich eher als die neueste Variante der üblichen Hollywood-Heldengeschichte, als einen Ballerfilm voller dröhnender Schlachten à la »Star Wars« oder »Herr der Ringe«. Bei dem den Film flankierenden Computerspiel – ein gewalttätiger Ego-Shooter – endet dann die Mehrdeutigkeit. Regisseur James -Cameron, als Hobby-Taucher ein bekennender Liebhaber schillernder Unterwasserwelten, verkündet auch in einem Interview, er habe keinesfalls im Sinn gehabt, einen »Rettet-den-Regenwald-Film« zu drehen. Aber ist er nicht (auch) das geworden, irgendwie?

Zur Ethnologie eines fiktiven Volks 

Hat James Cameron an eine irdische 

Ethnie gedacht, als er das Drehbuch für seinen Kassenschlager schrieb? Form und Farbe der eingeborenen Aliens, heißt es, seien Camerons Mutter vor mehr als drei Jahrzehnten im Traum erschienen. Doch welche »Blaupause« benutzte er für die erkennbar matriarchale Sozialstruktur des Clans der Heldin Neytiri? Deren Vater ist zwar Häuptling des Stamms, doch die eigentliche Respektsperson dieser Gesellschaft ist Neytiris Mutter, die Matriarchin. Als Zuschauer erleben wir eine Initiationsprüfung für männliche Stammesmitglieder, und in einer nur wenige Sekunden währenden Einstellung ist kurz ein Leichnam zu erkennen, der in Embryonalstellung beigesetzt wird – in vielen matriarchalen Kulturen ein Symbol für die sichere Rückkehr des Verstorbenen durch ein weibliches Stammesmitglied. Dem Volk der Na’vi scheint generell alles Leben heilig, selbst das Leben eines Raubtiers, das sie in selbstverteidigender Absicht zu nehmen gezwungen sind, wird von ihnen gewürdigt. An einem Baum von besonderer Heiligkeit pflegt der Stamm der Heldin den Kontakt zu seinen Ahnen und zur Weisheit der vernetzten All-Einheit der Natur, die hier als »große Mutter« Verehrung erfährt. Die Szene, in der sich die Na’vi um ihren Ahnenbaum versammeln, einander an den Schultern fassen und im Rahmen eines ekstatischen »Göttindienstes« summend sich wiegen, war denn auch schnell zu viel für manchen Filmkritiker: »Eso-Kitsch!« urteilten sie pikiert. – Doch nebenbei: Ist es nicht bezeichnend für unsere Zeit, dass die – tatsächlich leicht kitschig anmutende – Darstellung von singenden und betenden Fabelwesen den Widerspruch in Kritikerhirnen auszulösen vermag, es jedoch jeder als völlig normal akzeptiert, dass auch dieser Streifen voll ist von heftigster Gewaltdarstellung? Gewalt, das ist »good entertainment«, das Zeigen einer Lebensfeier hingegen wirkt anstößig …

Seit dem vergangenen Jahr interessiert mich das Phänomen, dass Fertigkeiten und Naturphilosophie von besonders naturnah lebenden Völkern – wie z. B. den San im südlichen Afrika – in den westlichen Ländern von einer wachsenden »Wildnis«-Szene  aufgegriffen und eingeübt werden. Als der in einem Avatar-Körper bei den Na’vi eingeschleuste Erdling Jake Sully sich im Film über die ewigen Fährtenleser-Übungen beklagt, ist mir klar geworden, dass es sich bei den Na’vi um eine dieser steinzeitlichen »Tracker«-Gesellschaften handelt, denen moderne Wildnis-Freaks nacheifern. Die Außerirdischen sind mit einer Hängematte als Wohnstatt zufrieden. 

Der mit dem Tabu tanzt

Okay, ich will nichts überbewerten. Die

Na’vi gibt es nicht wirklich, und wir müssen uns deshalb auch nicht aufgefordert fühlen, irgendetwas von ihnen zu lernen. Tatsächlich befürchte ich, dass ein großer Teil der Zuschauer den Film einfach nur als unterhaltsames Action-Spektakel mit sich teilweise eigenartig gebärdenden Außerirdischen genossen hat. Ist das Parabelhafte an der Geschichte ohne Hintergrundwissen überhaupt zu erkennen? Für mich steht die Kultur der Na’vi für die menschliche Vergangenheit – und in der Utopie des Drehbuchs womöglich auch für unsere Zukunft.

Der Film endet damit, dass die indigenen Aliens mit Hilfe des kulturell bekehrten Eindringlings Jake Sully – und nicht zuletzt auch Dank des Einsatzes der von den Na’vi gerufenen natürlichen Kräfte – im Jahr 2154 die megatechnische Aggression zurückschlagen. Den menschlichen Kolonisatoren bleiben die Bodenschätze, hinter denen sie her sind, verwehrt. Sie sind stattdessen gezwungen, heimzukehren zu einer Erde, die bereits kein Grün mehr kennt und »im Sterben liegt«. Dieser Botschaft haben nun über 200 Millionen Menschen an ihren »Lagerfeuern« gelauscht …

Das Erstaunliche daran ist, dass das kulturelle »Drehbuch« all dieser Menschen einen unvereinbaren – nämlich den zivilisierten – Standpunkt vertritt, und der belegte bislang jeden Gedanken an ein Zurück zu den indigenen Wurzeln mit einem dicken Tabu. Die Zivilisation als Ganze zu hinterfragen, ist für gewöhnlich undenkbar, zumal für einen Mainstream-Film. 

Dieses scheinbare Paradoxon führt uns zu einem bekannten Phänomen: Der Kapitalismus hatte noch nie ein Problem damit, auch gegenläufige Trends zu integrieren, zu Geld zu machen und ganz nebenbei zu etwas Ungefährlichem zu verdauen. Auch haben Patriarchatskritikerinnen wie Claudia Werlhof schlüssig aufgezeigt, dass die gesamte patriarchale »Kultur« letztlich vollständig auf der Vereinnahmung und Umdeutung älterer matriarchaler Kultur-aspekte gründet. Was also hat es zu bedeuten, wenn der Hollywood-Kapitalismus im Jahr 2010 großes Geld mit der Aussage macht, das Leben als Steinzeit-Menschen sei doch eigentlich das bessere? Haben sie in Holly-wood jetzt alle den radikalen Öko-Philosophen Derrick Jensen gelesen? Oder ist das Ganze am Ende gar ein zynischer Scherz, eine höhnische Verbeugung eines siegesgewissen Naturverwertungs-Systems vor seinen Opfern?

Zweischneidiges Filmvergnügen

In einem interessanten Essay für den »Spiegel« 

(9/2010) kommt der Kulturwissenschaftler und Schriftsteller Klaus Theweleit zu dem Schluss, dass »Avatar« seine beeindruckende Bilderwelt letztlich ebenjener Hochtechnologie verdankt, die er auf der Story-Ebene vorgeblich bekämpft: »Kein einziges dieser Bilder der Schlacht gegen das Böse, gegen die Technologie, wäre möglich ohne die ausgefuchsteste Computertechnologie, die die Welt kennt. Wenn das nicht pervers ist, weiß ich keinen Sinn für das Wort.«

Der Film, so Theweleit weiter, bediene sich unter dem Deckmantel eines antikolonialistischen Aufstands von galaktischen Indianern gegen die Industrie-Büttel der US-Armee »der imperialistischsten Technologie, die überhaupt möglich« sei, und die »im Innern amerikanischer Kriegsgeräte jede Sekunde auf der Welt in Kriegen zum Einsatz kommt […] De facto steckt Cameron die gesamte moderne Kriegselektronik ins Gewand von Greenpeace.«

Epilog 1: Am Tag nach meinem Kinobesuch landete ich übrigens gleich wieder auf der Erde. Eine Mail der Organisation »Rettet den Regenwald« verriet mir, dass die gesehene Kino-Fiktion in der Wirklichkeit viel härter ist: »In Kolumbien bombardiert das Militär die Embera-Indianer im Regenwald, damit ausländische Bergbaufirmen ungestört Bodenschätze auf dem Land der Indianer abbauen können. Bitte protestieren Sie unter www.regenwald.org.« 

Epilog 2: Von James Cameron war zuletzt zu hören, dass er öffentlich gegen den Bau des Belo-Monte-Staudamms im Amazonas demonstrierte. Die Wut, die er angesichts der Naturzerstörung fühle, so Cameron, wolle er nun im Drehbuch für »Avatar Teil 2« verarbeiten …

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